Wie ich zur Anarchistin wurde
Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz ist betagt und immer noch Anarchistin, wie sie schreibt. Sie unterscheide sich von schwarz gekleideten Jugendlichen, die sich etwa gerade in St. Imier zur Antiautoritären Internationalen getroffen haben. Und dennoch hat der Staatsschutz sie dem «Schwarzen Block» zugeordnet.
Als ich meiner Schwester sagte, ich sei eigentlich eine Anarchistin, warnte sie mich: Wenn ich mich dazu öffentlich bekenne, meinte sie, sei ich gesellschaftlich ruiniert. Wieso, frage ich mich immer wieder. Was ist daran so gefährlich? Ist es denn riskant, nach Machtstrukturen hinter gesellschaftlichen Problemen zu fragen, sich gegen Bevormundung und Machtmissbrauch zu wehren, gegen den Strom zu schwimmen, wenn er meines Erachtens in eine falsche Richtung fliesst?
Ich kleide mich weder schwarz, noch befolge ich einen anderen Trend, an welchem man Anarchist*innen zu erkennen meint. Ich bin nicht gegen einen Staat und wünschte mir einen gut funktionierenden Rechtsstaat. Meine Steuern würde ich gerne bezahlen, wenn ich mir nur sicher sein könnte, dass mein Geld nicht in die teure Flüchtlingsabwehr fliesst. Ich bin betagt und immer noch Anarchistin, entgegen dem Bild von Jugendlichen mit ihren antiautoritären Flausen. Und dennoch hat mich der Staatsschutz als 60-Jährige in seinen Fichen dem «Schwarzen Block» zugeordnet, und damit als staatsfeindlich gebrandmarkt.
«Meine Steuern würde ich gerne bezahlen, wenn ich mir nur sicher sein könnte, dass mein Geld nicht in die teure Flüchtlingsabwehr fliesst.»Anni Lanz
In St. Imier wurde gerade die Antiautoritäre Internationale gefeiert und Medienberichten zufolge sind Tausende von Jugendlichen dorthin gegangen, meistens in Schwarz gekleidet und mit den Insignien, an denen man Anarchist*innen zu erkennen glaubt. Ich habe nicht teilgenommen.
Es gibt den wahren Anarchisten und die echte Anarchistin nicht. Genauso wie es unter den Feministinnen, Friedens- und Klimabewegten die unterschiedlichsten Gesinnungen gibt, mit denen wir uns wohl auseinandersetzen können, aber deren Unterschiede es zu akzeptieren gilt. Nicht, dass ich gegen Zusammenschlüsse wäre – als Bewegte der Frauen-, Asyl- und Sans-Papiers-Bewegung weiss ich, dass sich ohne Zusammenschluss nichts bewegen lässt.
Es braucht ein gemeinsames Ziel, aber auch das Verständnis, dass jede und jeder in der Bewegung etwas Spezifisches und Wichtiges beitragen kann, auch wenn sich mit der Zeit die Vielfalt der Gesinnungen bemerkbar macht. Jede soziale Bewegung ist im Grunde anarchistisch, darin unterscheidet sie sich von Massenprotesten, in denen die aufgebrachten Menschen ein paar Führungsfiguren folgen.
Anni Lanz ist selbsternannte Menschenrechtsaktivistin im Solinetz Basel. Seit fast 40 Jahren setzt sie sich für Geflüchtete und ihre Rechte ein. In ihrer Kolumne versucht sie ihnen eine öffentliche Stimme zu geben.
Mein wichtigstes Schlüsselerlebnis war das Forum der 4. UNO-Weltfrauenkonferenz 1995. Zehntausende Frauen aus allen Ländern der Welt trafen sich in China, um die Beschlüsse der dort versammelten Regierungsdelegationen zu beeinflussen. Parallel dazu vermittelten sie sich gegenseitig ihr Wissen in Workshops, die in einem Programmheft so dick wie ein Telefonbuch ausgeschrieben waren. Damit bezweckten wir Frauen eine Bewegung von unten nach oben zur Bestärkung der Menschenrechte von Frauen. Die Sans-Papiers, die Hausangestellten, die Care- und Sex-Arbeiterinnen traten als wichtige Akteurinnen auf und brachten bis anhin unbeachtete Themen aufs Tapet.
Meine Lebensgeschichte ist eine anarchistische, obwohl das nie ein bewusster Entscheid gewesen war. Es begann mit Spielen, in denen sich meine Plüschbären zu einer gerechten Gesellschaft zusammenschlossen, dann folgten meine Aufmüpfigkeit als Teenager, die Weigerung, eine Berufskarriere anzustreben, das Engagement in der Frauenbewegung der 70er- und 80er-Jahre und später die Gründungen der Genossenschaft Hirscheneck, der Rösslibeiz in der Kulturwerkstatt Kaserne und des Projekts «Alte Stadtgärtnerei».
Das war jedes Mal ein spannender, beflügelnder, aber arbeitsintensiver Aufbruch ins Ungewisse auf basisdemokratischen Strukturen. Selbstverwaltung war stets die Arbeitsform, die mich beglückte, trotz der unzähligen langen Sitzungen. Selbstverwaltung gehört auch zur Freiwilligenarbeit. Freiwilligenarbeit hierarchisch organisieren zu wollen, reduziert die Freiwilligen auf blosse Befehlsempfangende und beschneidet sie in ihren Fähigkeiten.
«Emanzipation heisst, sich von Machtstrukturen zu befreien.»Anni Lanz
Mir ist wichtig, dass alle meine Mitarbeiter*innen und Mitstreiter*innen ihre Kompetenzen voll entwickeln und fruchtbar werden lassen können, um dem gesteckten gemeinsamen Ziel näher zu kommen. Dem Rassismus, Kolonialismus, Faschismus, Fanatismus und Sexismus liegen hierarchische Vorstellungen und Strukturen zugrunde. Diese aufzubrechen erfordert stets, so meine Erkenntnis, eine antiautoritäre Einstellung und die Bereitschaft, Privilegien und Konsumismus zu hinterfragen.
Emanzipation heisst, sich von Machtstrukturen zu befreien. Selbst die Menschenrechte sind in ihrem Kern anarchistisch: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren» (Art. 1 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte).
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