Zum Zwecke der Macht
Im Wahlkampf werde das Thema Migration missbraucht, um Stimmung zu machen, findet Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz. Das ärgert sie. Aber sie ist sich auch bewusst, je radikaler ihre Forderungen sind, desto schwieriger wird es, etwas in der Asylpolitik zu erreichen.
«Keine Kompromisse auf Kosten der Flüchtlinge», heisst es oft in Positionspapieren, die das Asylrecht verteidigen wollen. Hinter dieser Formel aber verbergen sich interne, dauerhafte Auseinandersetzungen. Ich erfahre sie seit bald vierzig Jahren. Wie weit wir den Behörden entgegenkommen dürfen und gleichzeitig den Betroffenen und unserer Auffassung treu bleiben können, das hängt u. a. von unserer Stellung im politischen Gefüge ab. Es geht um Einfluss und Macht. Dabei droht eine unheilvolle, absurde Polarisierung.
Sind die Asylbewegten und -suchenden untereinander schlecht vernetzt, mangelt es ihnen an Kommunikationsmöglichkeiten – untereinander und zu den Entscheidungsträger*innen. So besteht die Gefahr, sich durch konsequente Kompromisslosigkeit ins bedeutungslose Abseits zu manövrieren. Das hilft den Betroffenen nicht weiter. Gleichzeitig verstärken die herrschenden Parteien und mächtigen Gruppen ihre asylfeindliche Kompromisslosigkeit und gewinnen dadurch an politischem Gewicht.
Anni Lanz ist selbsternannte Menschenrechtsaktivistin im Solinetz Basel. Seit fast 40 Jahren setzt sie sich für Geflüchtete und ihre Rechte ein. In ihrer Kolumne versucht sie ihnen eine öffentliche Stimme zu geben.
Dass Zehntausende Menschen auf der Flucht und an Europas Aussengrenzen verelenden und sterben, wird zur Normalität. Es ist paradox: Je üblicher fundamentale Menschenrechtsverletzungen werden, desto schwächer wird unsere Position, desto bescheidener werden zuweilen unsere Verbesserungsvorschläge. Verschleiern wir dadurch die Ungeheuerlichkeit der dominierenden Migrationspolitik und spielen den Xenophoben in die Hände? Verraten wir uns selbst? Mit diesen heiklen Fragen müssen wir Menschenrechtsaktivist*innen uns stets aufs Neue auseinandersetzen.
Auf der politischen Bühne geht es, wenn von Migration die Rede ist, meist gar nicht um die Sache selbst. Migrationspolitik ist oft nur Mittel zum Zweck der Machtgewinnung oder Machterhaltung. Mit der Migrationsthematik haben sich überall auf der Welt, auch und gerade in Europa, xenophobe Parteien an die Macht gebracht. Sie spielen auf der eingängigen Tonart «wir zuerst» – und zuletzt kommen die Rechtlosen.
«Auf der politischen Bühne geht es, wenn von Migration die Rede ist, meist gar nicht um die Sache selbst.»Anni Lanz
Auch bei uns haben Populisten Migration zum Wahlkampfthema erkoren. So bekämpften sie in diesem Frühjahr die Pläne des SEM, mit 3000 Plätzen in neu errichteten Containern Platz für neuzuziehende Asylsuchende zu schaffen, um danach lautstark zu verkünden, das SEM habe die Unterbringung nicht im Griff. So bereiten sie selbst das Asylchaos vor, das sie dann dem SEM anlasten wollen, nicht zuletzt, um die neue SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider blosszustellen.
Einige bürgerliche Politiker*innen sind auch skrupellos genug, das kürzlich vom SEM in aller Stille eingefädelte Asyl für geflüchtete Frauen öffentlich anzuprangern. Dabei weiss doch jede und jeder über die völlige Entrechtung der Frauen in Afghanistan Bescheid. Und die Website von rudabe.com berichtet von der Ermordung zahlloser nicht-pastunischer Männer und ihrem traurigen Schicksal in den Taliban-Kerkern, die sie, wenn überhaupt, als Invaliden verlassen.
«Die destruktive Asylpolitik macht uns Menschenrechtsaktivist*innen wütend, aber das ist wohl auch eine der Absichten dahinter.»Anni Lanz
Diese destruktive Asylpolitik macht uns Menschenrechtsaktivist*innen wütend, aber das ist wohl auch eine der Absichten dahinter. Ansonsten interessiert die Meinung von Menschenrechtsaktivist*innen kaum ein Medium.
Nur Bajour gewährte mir auf mein Begehren hin Gastrecht für zwölf Kolumnen. Für dieses Schreib-Asyl bin ich dankbar und verabschiede mich hiermit, nicht ohne die dringende Bitte an die Leserschaft, diejenigen mutigen Kandidat*innen zu wählen, die sich für die Rechte von Zugewanderten stark machen, auch wenn sie damit ihre Beliebtheit aufs Spiel setzen.
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