Geflohene sind manchmal so seltsam
Wer flüchtet, verliert einen Teil seiner Persönlichkeit: War man zu Hause noch ein geachteter Nachbar, übte einen wichtigen Beruf aus, war unter Freunden und Bekannten beliebt, ist das mit der Flucht alles weg, schreibt Kolumnistin Anni Lanz. Sich in einem solchen Zustand rasch zu integrieren sei fast unmöglich.
Nie werde ich jene verstörende Nacht in Kairo vergessen. Meine Freundin war schon vor zwei Tagen abgereist, ihr Freund zu seiner Familie zurückgekehrt, um mit ihr den Vorabend zum Ramadan zu feiern. Ich wollte noch in das Restaurant gehen, in welchem wir jeweils so freundlich aufgenommen worden waren. Doch in harschem Ton wurde ich weggeschickt. Man war mit der Vorbereitung des Iftars zu Hause in der Familie beschäftigt. Nirgendwo fand ich ein Taxi, das mich aufnahm, niemand wollte mit mir sprechen, plötzlich war ich die europäische Touristin, eine unerwünschte Niemand.
Ich musste mich hungrig in mein ödes Hotelzimmer zurückziehen und 25 Stunden auf meinen Abflug warten. Ich fühlte mich unendlich fremd, hatte eine Krise, als ob ich meine Sprache und Identität verloren hätte. Es war unmöglich, zu irgendjemandem eine auch nur flüchtige, oberflächliche Beziehung aufzunehmen. Nicht einmal einen erkennenden Blick oder gar ein Lächeln zu erhaschen, lag drin.
Anni Lanz ist selbsternannte Menschenrechtsaktivistin im Solinetz Basel. Seit fast 40 Jahren setzt sie sich für Geflüchtete und ihre Rechte ein. In ihrer Kolumne versucht sie ihnen eine öffentliche Stimme zu geben.
Was ich in jenen Stunden durchmachte, ist für neuankommende Geflüchtete ein Dauerzustand. War man zu Hause noch ein geachteter Nachbar, übte einen wichtigen Beruf aus, war unter Freunden und Bekannten als einzigartige Person beliebt, ist das nun alles weg. Spiegelte sich in den alltäglichen Beziehungen meine Identität, meine individuellen Eigenschaften, bin ich als Persönlichkeit plötzlich inexistent. Dies führt zwangsläufig zu einer Identitätskrise, vor allem für die allein Geflüchteten oder die mitfliehenden Angehörigen.
In einem solchen verunsicherten Zustand sich rasch zu integrieren und eine fremde Sprache zu erlernen, ist fast unmöglich. Nur in persönlichen Beziehungen mit Menschen vom Herkunfts- und vom Einreiseland kann ich langsam wieder ein Selbst aufbauen, das mir und meinen Fähigkeiten entspricht. Dazu benötige ich nicht nur flüchtige, oberflächliche, verordnete Beziehungen, sondern tiefe Freundschaften. Menschen, die wissen und spüren wollen, wer ich bin, nicht nur fragen, woher ich komme und weshalb ich gekommen bin. In einem solchen durch Migration ausgelösten Orientierungsverlust verliert man leicht auch die Selbstkontrolle und verhält sich linkisch und «seltsam».
«In einem durch Migration ausgelösten Orientierungsverlust verliert man leicht auch die Selbstkontrolle.»Anni Lanz
Nicht selten gehen unter solchen Umständen familiäre Beziehungen in Brüche, insbesondere bei später erfolgten Familiennachzügen. Die Ungleichzeitigkeit der neuen Identitätsfindung führt häufig zu Entfremdung zwischen den Familienmitgliedern. Die früher erlebte Vertrautheit stellt sich nicht ein. So manche Ehepaare, Ehefrauen und Mütter sehnen sich über Jahre nach dem vertrauten Beisammensein, das sie, hier angekommen, nicht finden können. Nur schon der Schock, sich im fremden Land nicht zurechtzufinden, kann sich zu einem Trauma entwickeln, ganz abgesehen von allfälligen Gewalterfahrungen auf der Flucht.
Zuwendung fehl am Platz
Migration erfordert im Ankunftsland eine Empfangskultur, die diesen Verstörungen der Neuankömmlinge Rechnung trägt. Sie kann auch die Empfangenden verunsichern. Interkulturelle Freundschaft braucht Zuwendung, Achtsamkeit und Offenheit von beiden Seiten, denn weder die Einheimischen noch die Aufnahmesuchenden können auf viel Selbstverständlichkeiten, wie wir sie im alltäglichen Umgang gewohnt sind, zurückgreifen. Wenn wir die Verunsicherung ertragen oder sie sogar als Erkenntnisgewinn schätzen, können wir neue Selbstverständlichkeiten und beidseitig ein neues Selbstverständnis aufbauen und daran wachsen.
«Migration erfordert im Ankunftsland eine Empfangskultur, die diesen Verstörungen der Neuankömmlinge Rechnung trägt.»Anni Lanz
Während das politische und gesellschaftliche Klima die achtsame Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen innerhalb von privaten Beziehungen ermöglicht hat, ist dies bei den anderen Flüchtlingen nicht der Fall. Diese werden in grossen Sammelunterkünften weggesperrt. Ich erlebe dies zurzeit konkret bei drei mir bekannten minderjährigen Cousins, die zusammen ohne Familie aus Afghanistan hierher geflohen sind. Es war eine Flucht voller Gewalterfahrungen, die ich täglich aus der Ferne mitverfolgte. Als die Jugendlichen schliesslich völlig erschöpft hier ankamen, brachte ich sie ins Bundesasylzentrum, wo sie unterdessen getrennt und an verschiedene Zentren in der halben Schweiz zugeteilt wurden. Seither ist meine Zuwendung zu ihnen im behördlichen Verfahren fehl am Platz. Es gelten andere Regeln.
Ich erfahre sie auch bei unseren Deutschkursen, an denen seit einiger Zeit neu eingereiste Minderjährige nicht mehr teilnehmen dürfen. Diese rigorose Beschlagnahmung von Menschen, ihre Isolierung von anderen Menschen, verdanke ich wohl den Politiker*innen, die Antimigration zu ihrem Wahlschlager machen. Sie fördern Bedingungen, die Geflüchtete krank und verhaltensauffällig machen. Und jeder Geflüchtete, der im öffentlichen Raum auffällt, ist ihnen dann wieder Anlass, ihre politische Brandstiftung zu intensivieren.
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