So viel Einfluss hat der Klimastreik noch
Vier Jahre nach der «Klima-Wahl» sehen viele die Klimabewegung in der Krise. Die Aktivist*innen selbst sprechen davon, dass sie das Denken der Gesellschaft geändert haben. Eine Analyse.
Eigentlich ist es programmiert: Wenn bei der Nationalen Klimademo am 30. September wieder Tausende in Bern mehr Klimaschutz fordern, werden die 1,5 Grad nicht die relevanteste Zahl für die mediale Berichterstattung sein. Vielmehr wird abgewartet, bis bekanntgegeben wird, wie viele Leute denn nun im Endeffekt auf die Strasse gegangen sind. Die Erwartungen sind hoch, denn die SBB hat sechs Extrazüge bestellt.
Die Stärke der Bewegung wird medial gerne daran gemessen, wie viele Leute mobilisiert werden. Nachdem überall in der Schweiz freitags für das Klima demonstriert wurde, gingen am 28. September 2019 100’000 Menschen in Bern auf die Strasse – und bei den nationalen Wahlen einen Monat später legten die Grünen sechs Prozentpunkte zu. Da war dann von der «Klima-Wahl» die Rede. Unbestritten ist, welchen Einfluss die Klimabewegung darauf hatte.
2023 sind die Vorzeichen bei der nationalen Klimademo andersrum. Die neueste SRG-Umfrage sagt vor allem den Grünen viele Sitzverluste voraus. Deshalb wird auch die Mobilisierung zur Klimademo als Gradmesser dienen. Beim Globalen Klimastreik vor wenigen Wochen war das zumindest der Fall.
Innerhalb der Klimabewegung selbst beschönigt niemand, dass 2019 noch mehr Leute aktiv waren – auch, weil die Corona-Pandemie die Bewegung massiv ausgebremst hat. Richtig zu der «alten Grösse» zurückgefunden hat der Klimastreik seither nicht.
Aber: Ist die «alte Grösse» – die Anzahl Leute auf der Strasse – überhaupt relevant?
«Es ist absurd, dass Parteien ihre klimapolitischen Anstrengungen davon abhängig machen, wie viele Jugendliche ihre Freizeit für Klimaaktivismus opfern», sagt Benjamin Rytz, der in Basel jahrelang den Klimastreik mitorganisiert hat, mittlerweile aber nicht mehr zum Kernteam gehört.
Er und viele andere, die den Basler Klimastreik in den vergangenen Jahren begleitet und geformt haben, berichten davon, dass der Druck auf der Strasse noch immer zentral sei für die Klimabewegung und den Einfluss, den sie auf die institutionelle Politik nimmt. Aber allein die Masse der Menschen sei nicht mehr entscheidend.
Denn die Rolle des Klimastreiks hat sich gewandelt. Die Ausgangslage ist heute eine andere. «Als wir angefangen haben, mussten wir erstmal ein Problembewusstsein schaffen», sagt Fina Girard, die aus dem Klimastreik heraus den Sprung ins Basler Parlament geschafft hat. «Wenn Leute heute an Klimaschutz denken, ist ihnen klar, dass es mit PET-Recycling und Bäume pflanzen nicht getan ist», so die Politikerin des Jungen Grünen Bündnisses (JGB).
Die Diskusverschiebung ist ein Erfolg der Bewegung, bestätigen Parlamentarier*innen, die seit Jahren Klimapolitik machen. «Heute ist es einfacher, Gehör und Mehrheiten für unsere Vorstösse zu finden als vor 2019», sagt der Grünen-Politiker Raphael Fuhrer, Präsident der Umwelt- und Verkehrskommission im Basler Grossen Rat.
Gerade in Basel hat sich sowieso viel getan, seit zum ersten Mal Schüler*innen für Klimapolitik den Unterricht schwänzten. Der Kanton will bis in 14 Jahren klimaneutral werden, Beat Jans hat Klimapolitik ins Präsidialdepartement geholt. «Die Credits dafür gehen an den Klimastreik», sagt Anouk Feurer, ebenfalls für das JGB im Grossen Rat. Auch die Annahme des Klimaschutzgesetzes im Juni kann nicht unerwähnt bleiben
«Wir dachten am Anfang, wir können uns nach zwei Jahren selbst abschaffen. Heute wissen wir: Uns darf man nicht abschaffen.»
– Helma Pöppel, Klimastreik Basel
Die Forderungen des Klimastreiks werden also gehört – aber das hat die Arbeit des Klimastreiks nicht einfacher gemacht. Auf den Erfolgen könne man sich nicht ausruhen, findet Helma Pöppel, bis vor kurzem Mediensprecherin des Basler Klimastreiks. «Wir dachten am Anfang, wir können uns nach zwei Jahren selbst abschaffen: Wenn wir die institutionelle Politik genug pushen, dann sind wir über den Berg und haben das Klima gerettet. Heute wissen wir: Uns darf man nicht abschaffen.»
Denn das Ziel, die Erde zu retten, sei zwar ein bisschen näher, aber noch immer zu weit weg. Medial überlagern Klimakleber*innen-Debatten heute den inhaltlichen Diskurs. Und aus der fossilen Lobby kämen Versuche, das Voranschreiten der erneuerbaren Politik auszubremsen. Jene, die für die Bewegung im Parlament sitzen, monieren auch: Klima-Vorstösse hängen jahrelang in der Verwaltung und werden zum Teil von der Regierung verwässert.
Genau in diesem Feld hat sich die Kommunikation des Klimastreiks entscheidend gewandelt. Der Claim ist nicht mehr: «Hört uns zu.» Sondern: «Wir beobachten euch.» Man versteht sich nun vielmehr als Watchdog, der kontrolliert, ob die angestossene Veränderung sich wirklich hin zum Ziel, der Klimaneutralität, entwickelt.
Mit diesem neuen Selbstverständnis hat sich der Klimastreik mittlerweile in eine verantwortungsvolle Position manövriert – in Anbetracht dessen, dass die Bewegung in den Klassenzimmern begonnen hat. Erfahrungen, wie man Demos organisiert und Medienmitteilungen schreibt, hatten 2019 die wenigsten – ganz zu schweigen von den Strukturen und Ressourcen wie sie NGOs, Lobbyorganisationen, aktivistische Streikkollektive haben. Es geht oft vergessen: Der Klimastreik, das waren Schulkinder.
«Jetzt ist es möglich, am Familientisch über das Ende des Wachstums zu diskutieren, ohne das gleich Kommunismus geschrien wird.»
– Fina Girard, Junges Grünes Bündnis Basel
Ihre «jugendliche Naivität und Kreativität» sei entscheidend gewesen, um die Politik derart glaubwürdig zu hinterfragen, wie es der Klimastreik getan hat, ist Fina Girard überzeugt: «Plötzlich wurde die Systemfrage aus der Schmuddelecke geholt. Jetzt ist es möglich, am Familientisch über das Ende des Wachstums zu diskutieren, ohne das gleich Kommunismus geschrien wird.»
Diesen Geist findet man beim Klimastreik noch immer. Jüngeres Beispiel: Den Protest gegen ein geplantes (oder eben auch nicht geplantes?) Flüssiggas-Terminal bei Schweizerhalle als «Lützerath von Basel» zu bezeichnen. Die Mobilisierung hat bestens funktioniert, die Debatte wurde medial breit aufgegriffen – und dem Gasverbund Mittelland die Diskurshoheit über erneuerbare Energie entzogen.
Der Druck des Klimastreiks hat noch immer Einfluss auf die Politik in den Parlamenten – weshalb der Weg in die institutionelle Politik, wie ihn einige aus der Bewegung gemacht haben, auch nicht der König*innenweg für den Klimastreik bedeutet. «In den Parlamenten muss man Kompromisse machen – aber das ist nicht unsere Aufgabe. Auf der Strasse verschieben wir das Fenster für Kompromisse zugunsten des Klimas», sagt Helma Pöppel.
So sieht der Klimastreik auch seine Rolle im jetzigen Wahlkampf: Stimmen sammeln, das müssen die Parteien selbst. Konsequente Klimapolitik muss von der Politik eingefordert werden, egal wer die Wahl gewinnt. «Wenn wir die Mehrheiten im Parlament noch nicht haben, müssen wir sie uns in der Gesellschaft beschaffen», so Helma Pöppel.
Gelingt der Bewegung das? Von Aktivist*innen des Klimastreiks heisst es, der Rückhalt in der Bevölkerung sei – zumindest in Basel – gross. Verwiesen wird zum Beispiel auf die Abstimmung zur Klimaneutralität bis 2030 in Basel vergangenen November. Angenommen wurde zwar der Gegenvorschlag (Netto null erst 2037), aber die Zustimmung war denkbar hoch.
Was die nationale Klimademo nun für eine politische Grosswetterlage bringt, vermag im Klimastreik niemand richtig einzuschätzen. Ob nochmal Schwung vor den Wahlen entsteht, ist fraglich, aber das ist egal: Das Thema Klimakrise ist mittlerweile unabhängig vom Wahlergebnis der Grünen in den Köpfen, wie Umfragen zu den drängendsten Sorgen der Bevölkerung zeigen. Antonia Ossig, neue Sprecherin beim Klimastreik, jedenfalls findet: «Wenn wir die Leute überzeugen wollen, gewinnt das bessere Argument gegen das schönste gemalte Transparent.»
Doch genau deswegen befindet sich die Gruppe in einer tricky Lage: Der Klimastreik muss derzeit erstmal abwarten, was denn die institutionelle Politik liefert, bevor er sie kritisieren kann. Mit der Veröffentlichung der Klimastrategie des Kantons wird es wohl demnächst wieder mehr Wirbel geben – und wieder mehr Mobilisierungspotential. Im Winter wollen einige Aktivist*innen wieder in den Schulen und auf den Pausenhöfen über die Klimakrise sprechen.
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