Deutschrussin im Baselbiet: Wir sind nicht dieser Krieg!
Julia Nickels Eltern sind in Russland, sie selbst ist hier. Und erklärt, wieso wir jetzt nicht von «den Russen» reden sollten.
Julia Nickel ist Deutschrussin und lebt im Baselbiet. Für die Organisation TerraNea war sie als Übersetzerin an der polnisch-ukrainischen Grenze. Sie erzählt, was der Krieg mit ihr macht.
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Ich erinnere mich an eine Szene in meiner Jugend: Mit zwei Freundinnen stehe ich auf einem Schulhof in Deutschland. Wir sind Russlanddeutsche, mit deutschen Grosseltern, die während des zweiten Weltkrieges in ein sibirisches Arbeitslager mussten. Im Zuge der Repatriotisierung hat man uns aus Russland zurückgeholt und hierher geschickt, in ein Internat, damit wir schnell Deutsch lernen.
Ein Junge kommt auf uns zu und beschimpft uns als «Scheissrussen». Wir sind uns Anfeindungen gewohnt und stellen uns mit Nachnamen vor. Meine Freundinnen heissen Klaus und Wink, ich Schnakenberg. Wir fragen den Jungen, wie er heisst. Kaminski, sagt er. Hast du einmal drüber nachgedacht, rufen wir, dass wir vielleicht mehr Deutsche sind als du? Da sagt er nichts mehr.
«Vorurteile werden gefällt, noch bevor die Menschen überhaupt wissen, welche Geschichte sich hinter dem russischen Akzent versteckt.»Julia Nickel
Ich erinnere mich daran, weil im Moment dasselbe passiert: Vorurteile werden gefällt, noch bevor die Menschen überhaupt wissen, welche Geschichte sich hinter dem russischen Akzent versteckt. Es gibt Deutschrussen, ukrainische Russen, russische Ukrainer. Es gibt unzählige Russen, die diesen Krieg scharf verurteilen. Wie ich.
Als Putin der Ukraine den Krieg erklärte, wusste ich, ich will helfen. Im Bus sah ich das Inserat der Organisation TerraNea, die Übersetzer suchte, um an die polnisch-ukrainische Grenze zu fahren und Geflüchtete in die Schweiz zu bringen. Ich meldete mich und wurde für den nächsten Tag eingeteilt. Zuhause weckte ich meinen Mann. Ich fahre an die polnisch-ukrainische Grenze, sagte ich, hast du was dagegen? Er sagte Nein, aber konnte das nicht bis morgen warten?
An der Grenze
Konnte es nicht. Am nächsten Morgen früh fuhr er mich nach Pratteln, wo ich in einen Car stieg. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, zeitweise auch etwas Angst. Ich machte mir Sorgen, wie die Menschen auf mich reagieren würden, wenn sie hörten, dass ich Russisch spreche. Bitte stell mich vor, bevor ich anfange zu reden, sagte ich der anderen Übersetzerin im Bus.
Als wir ankamen, war alles ganz anders als erwartet. Wir hatten gedacht, dass die Menschen uns überrennen würden. Aber niemand wollte schnell weg, im Gegenteil: Wir mussten vielen gut zureden, damit sie mitkamen. Dazu muss man wissen: Viele haben Verwandte, Männer und Söhne, die im Krieg kämpfen. Die wollen nicht zu weit weg von Zuhause. Sie denken: Wenn der Krieg in ein paar Tagen zu Ende ist, will ich so schnell wie möglich wieder heim.
Wir redeten ihnen gut zu und erklärten die Situation. Viele wussten nicht, wo die Schweiz lag und konnten sich nicht vorstellen, wie es in den privaten Haushalten aussah, in denen sie untergebracht werden sollten.
Einer Frau mit sieben Kindern sagte ich, dass sie in eine Wohnung mit Garten kommen werde. Mit Garten? wiederholte sie und ich sagte ja, für die Kinder, zum Spielen. Sie antwortete: Ein Garten ist zum Arbeiten da, nicht zum Spielen!
Ich erklärte ihr, dass man in den Schweizer Gärten keine Zwiebeln oder Kartoffeln hat, sondern einen Grill, Spielzeuge und Sonnenliegen, auf denen man im Sommer einen Aperitif trinken. Das sind die Welten, die da aufeinander geprallt sind.
Nach sechs Stunden sassen wir wieder im Car, zusammen mit rund 32 Geflüchteten. Sieben Babys waren an Bord. Wir fuhren die Nacht durch. Während der Fahrt liefen wir immer wieder im Car herum, erkundigten uns, wie es allen ging und halfen aus.
Die negativen Reaktionen auf mein Russisch, vor denen ich mich gefürchtet hatte, blieben aus. Viele sagten sogar, Julia, nach dem Krieg sehen wir uns in der Heimat wieder. Ich musste ihnen erklären, dass ich keine Ukrainerin, sondern aus Sibirien bin. Mittlerweile spreche ich Russisch mit Akzent, das lag wohl daran.
Als ich wieder neben meinem Mann im Bett lag, sagte ich ihm: Stell dir vor, diese Menschen können jetzt zum ersten Mal seit Tagen wieder duschen, sie liegen zum ersten Mal seit Tagen wieder in einem Bett.
Dieser Einsatz hat meine Wut verstärkt. Wir sehen täglich Bilder aus diesem Krieg, sie zeigen das Kriegsgeschehen, die zerbombten Häuser. Aber auch das elende Warten an der Grenze gehört dazu. Ich habe dort Menschen gesehen, die alles verloren haben. Egal wie viel sie hatten. Da standen auch richtig elegante Menschen, Leute im Pelz. Der Krieg macht sie alle gleich.
Meine Eltern in Russland
Meine Eltern wohnen seit sieben Jahren wieder in Russland, seit vier Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen. Erst kam Corona und dann erkrankte mein Vater an Krebs. Er wollte eigentlich diesen März nach Deutschland, um sich dort bestrahlen zu lassen. Das fiel von heute auf morgen ins Wasser, die Lufträume sind zu.
Auch was jetzt mit seiner Pension geschieht, weiss ich nicht. Er bekommt sie aus Deutschland und muss dafür Anträge im Ausland stellen. Aber das geht im Moment nicht, also fülle ich die Anträge aus. Ich habe jedoch keine Ahnung, wie ich ihm das Geld schicken soll. Zum Glück haben sie einen Garten. Als ich das letzte Mal mit meiner Mutter telefonierte, sagte ich ihr, du musst jetzt ganz viel anbauen, pflanzt und setzt alles ein, was möglich ist. Nicht ganz einfach mit einem kranken Mann zuhause.
Auch sie sind wütend auf Putin, auch sie haben ihn nicht gewählt. Schalten sie den Fernseher an, ist die Rede von einer Sonderoperation, keinem Krieg. Meine Mutter will so wenig wie möglich mit uns telefonieren, sie hat Angst, dass man sie für eine Spionin halten könnte. Auch aus dem Haus gehen sie nur sehr selten: Im Dorf gelten sie als die deutschen Faschisten.
«So etwas wie ‹die Russen› gibt es nicht. Wir sind nicht eins und wir sind nicht dieser Krieg.»Julia Nickel
Ich selbst erlebe in meinem Heimatdorf im Baselbiet (ich bin seit 13 Jahren in der Schweiz) glücklicherweise keine Anfeindungen. Aber ich höre immer wieder von Freundinnen, wie jetzt ihre Kinder in der Schule bedroht werden. Bis vor zwei Wochen fand ich es manchmal schade, dass meine Kinder kein Russisch können – ich und mein Ehemann, ein Deutscher, sprechen Deutsch mit ihnen. Seit zwei Wochen bin ich froh drum.
Ich erzähle all das, weil es wichtig ist, zu begreifen, dass es so etwas wie «die Russen» nicht gibt. Wir sind nicht eins und wir sind nicht dieser Krieg. Aber auch auf uns hat er Auswirkungen. Wenn der Nachrichtensprecher davon redet, wie «die Russen» geschossen haben, läuft es mir kalt den Rücken runter. Wir haben Putin nicht gewählt, viele von uns nicht.
Die Ukraine braucht uns alle zusammen. Geeint, nicht gespalten. Wir müssen zusammenhalten, ganz besonders jetzt.
* Aufgezeichnet von Naomi Gregoris.
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Die Organisation TerraNea sucht nach wie vor Spenden, Freiwillige und Gastfamilien. Interessierte können sich hier informieren.