Weshalb wir eine 13. Rente brauchen
Am 3. März stimmt die Schweiz über eine 13. AHV-Rente ab. Angesichts von Teuerung, hohen Mieten und steigenden Krankenkassenprämien ist ein Ja das Gebot der Stunde. Ein persönliches Plädoyer von WOZ-Journalist Andreas Fagetti.
Dieser Artikel ist zuerst bei Die Wochenzeitung erschienen. Die WOZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.
Mit zunehmendem Alter lasse ich die Herausforderungen eines langen Arbeitslebens demnächst hinter mir. Ich freue mich darauf, nicht mehr an die Unfreiheit des Verbraucht- und Verwertetwerdens gekettet zu sein. Es fühlt sich gut an. Meine drei Kinder sind flügge, die Distanz zu den oft künstlichen Aufregungen im Betrieb nimmt zu. Meine allmähliche Aussortierung nehme ich inzwischen gelassen hin. Mit dem Alten, der bald nicht mehr anwesend sein wird, plant die Redaktion nicht mehr.
Das ist gut so. Denn dieser Prozess des Loslassens öffnet mir Türen zu neuen Entscheidungsspielräumen. Ich habe kaum einen Gedanken daran verschwendet, wie sich das Verschwinden aus diesem alten Leben anfühlen wird. Zwar denke ich mir seit ein paar Jahren Pläne für das Danach aus, aber sie sind nicht wirklich wichtig. Ich möchte nicht ihr Sklave sein.
Denn wie so oft hält sich das Leben nicht an solche Pläne. Als ich vor drei Jahren einen Schicksalsschlag erlebte, war mein damaliger Plan plötzlich obsolet. Doch in Alternativen zu denken, habe ich mir früh zu eigen gemacht. Funktioniert Plan A nicht, habe ich einen Plan B, manchmal sogar einen Plan C im Kopf.
Dabei geht es gar nicht so sehr um deren Umsetzung, es ist vielmehr eine Haltung der produktiven Offenheit – ein psychologischer Trick, der mir hilft, über Brüche hinwegzukommen und ein neues Lebenskapitel aufzuschlagen. Was dabei herauskommt, ist ungewiss. Ich mag diese Ungewissheit.
Allerdings, ein berechenbarer Plan für das letzte Kapitel des Lebens existiert. Und den sollten sich alle genau anschauen – besser früh als zu spät. Der Plan hat einen Namen: Rente.
Wichtiger als aller Rütlikitsch
Ich setze mich seit acht Jahren journalistisch mit Altersvorsorge auseinander. Nicht weil ich das gesucht hätte. Vielmehr haben mir meine jüngeren Redaktionskolleg:innen dieses scheinbar staubtrockene, aber gesellschaftspolitisch entscheidende Thema zugewiesen. Soll doch der Alte, betrifft uns (noch) nicht.
Ich war nicht anders. Ich erinnere mich an einen beiläufigen Disput mit Marco Volken, dem einstigen Chefredaktor der katholischen «Ostschweiz». Er war damals, 1990, gerade sechzig geworden, ich dreissig. Volken, die Pensionierung vor Augen, fand das Thema zentral, ich erwiderte: «Was kümmert mich, was in 36 Jahren sein wird, ich bekomme dann eh keine Rente mehr.» Seinen verständnislosen Blick sehe ich noch heute vor meinem inneren Auge.
Die Initiative «Für ein besseres Leben im Alter» soll die Altersrenten der AHV erhöhen. Zu den heute 12 jährlichen Monatsrenten käme eine 13. Rente dazu. Die durchschnittliche AHV-Rente beträgt aktuell 1800 Franken, das macht pro Jahr 21 600 Franken. Mit einer zusätzlichen Monatsrente wären es 23 400 Franken pro Jahr oder monatlich 150 Franken mehr. Die Initiative verlangt ausserdem, dass die Auszahlung einer 13. Rente nicht zur Kürzung der Ergänzungsleistungen führen darf.
Bei Annahme würde die Neuerung voraussichtlich ab dem Frühling 2026 gelten. Der Bundesrat rechnet mit jährlichen Mehrkosten von etwa 4,1 Milliarden Franken; davon würden rund 800 Millionen Franken auf den Bund entfallen. Die Initiative selbst lässt die Frage der Finanzierung offen.
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Mit diesem Text startet die WOZ im Hinblick auf die Abstimmung vom 3. März eine kleine AHV-Serie.
Im Lauf meiner Auseinandersetzung mit dem Herzstück des Schweizer Sozialstaats, der Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV), begegnete mir eine beliebte Tatsachenverzerrung: die Bankrotterzählung. Wegen der raschen Alterung der Gesellschaft lasse sich das Sozialwerk kaum mehr finanzieren – weshalb der AHV in Zukunft die Pleite drohe, wenn man nicht sofort handle. Was in dieser Lesart bedeutet: Erhöhung des Rentenalters, Senkung des Rentenniveaus.
Diese Erzählung ist so alt wie die AHV selbst. Denn die Alterung der Gesellschaft vollzieht sich seit Jahrzehnten, mit dem Eintritt der Babyboomer:innen ins Rentenalter spitzt sie sich zu. Und dennoch funktioniert die AHV bis heute zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk: Bei der Auszahlung der ersten Renten im Jahr 1948 – die Minimalrente betrug damals 40 Franken, heute liegt sie bei 1175 Franken – finanzierten sechs Arbeiter:innen einen Rentner. 75 Jahre nach ihrer Einführung sind es knapp drei Erwerbstätige, die einer Rentnerin ihre Rente garantieren. Die enorm gestiegene Produktivität und viel höhere Löhne haben bislang die Alterung der Gesellschaft kompensiert.
Als mir bewusst wurde, dass die AHV als gewaltige Umverteilungsmaschine konzipiert ist und somit ein Stück weit die ungleich verteilten Produktivitätsgewinne und die Steuerbevorzugung der Wohlhabenden ausgleicht, freute sich mein sozialistisches Herz: Alle Löhne und Boni sind sozialversicherungspflichtig, die Rente aber ist gedeckelt. Auch wer enorme Summen an die AHV abliefert, bekommt aktuell höchstens 2450 Franken Rente. Doch 92 Prozent der Rentner:innen erhalten mehr, als sie einbezahlt haben.
Jedes Lohnprozent für die AHV wirkt – anders als jenes für die Pensionskasse – auf den gesamten Lohn rentenbildend. Die AHV ist ein sehr effizientes Instrument. Und vor allem ist sie ein ausserordentliches Solidaritätswerk, das alle verbindet – Reiche, Arme, Mittelstand, Frauen, Männer, Junge und Alte. Sie definiert mehr als aller Rütlikitsch die DNA dieses Landes. Sie anzugreifen, ist ein Angriff auf die Schweiz.
Die bürgerlichen Parteien sprechen es zwar nicht offen aus, aber die von ihnen im vergangenen Jahr durchgesetzten Reformen sind Angriffe auf dieses solidarische Fundament. Im vergangenen Herbst wurde an der Urne durch ein Zufallsmehr das Rentenalter der Frauen erhöht. Zudem verschlechterte die im vergangenen Frühjahr im Parlament durchgeboxte Reform der zweiten Säule insgesamt die Pensionskassenrenten, die ohnehin seit Jahren sinken. Im Gegensatz dazu wachsen die AHV-Renten dank der regelmässigen Anpassung an den Mischindex (Lohn- und Preisentwicklung) – und wurden noch nie gesenkt.
«Vier Milliarden? Das tönt nach sehr viel Geld. Doch auch das liesse sich schmerzlos finanzieren.»
Ein Ende des Abbaus jedoch ist nicht absehbar. Schon hat das Parlament den Bundesrat mit einer Vorlage beauftragt, in deren Zentrum eine generelle Rentenaltererhöhung steht. Darüber befinden die Stimmbürger:innen am 3. März. Die Initiative, die der junge FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt mit auf den Weg gebracht hat, will das Rentenalter schrittweise auf 67 anheben. Ihr werden geringe Chancen nachgesagt.
Ganz anders sieht es mit der Initiative des Gewerkschaftsbunds aus, über die am gleichen Wochenende abgestimmt wird. Sie will eine 13. AHV-Rente einführen. Die jüngsten Umfragen ergeben eine hohe Zustimmung von rund siebzig Prozent, bis weit in bürgerliche Wähler:innenschichten hinein. Die SVP-Kantonalsektion Genf hat gar die Ja-Parole herausgegeben, die SVP Unterwallis Stimmfreigabe beschlossen.
Wird die Initiative angenommen, erhalten Rentner:innen ab dem Frühling 2026 ein «Weihnachtsgeld» – eine zusätzliche Monatsrente pro Jahr. Noch vor wenigen Jahren hatte eine vergleichbare Ausbauvorlage, die AHV-plus-Initiative, die im Jahr 2016 die Renten um zehn Prozent erhöhen wollte, keine Chance.
Doch die Stimmung hat gedreht. Und das, obwohl der Bundesrat vor jährlichen Mehrkosten von mindestens vier Milliarden Franken warnt (wobei er in seinen vergangenen Prognosen zur Lage der Altersvorsorge zuverlässig komplett danebenlag). Vier Milliarden? Das tönt nach sehr viel Geld. Doch auch das liesse sich schmerzlos finanzieren: laut Gewerkschaftsbund zum Beispiel mit einer Erhöhung der Lohnprozente für die AHV um acht Promille, (vier davon von den Angestellten). Bei einem Bruttolohn von 6000 Franken wären das 24 Franken weniger Lohn im Monat.
Krank ist die zweite Säule
Inflation, Teuerung, höhere Mieten und steigende Krankenkassenprämien setzen weite Teile der Bevölkerung unter Druck. In so einer Situation werden sich manche ihre Rentenbescheide genauer angeschaut haben. Auch ich habe das getan – vor sieben Jahren liess ich mir von meiner Pensionskasse und der Sozialversicherung ein erstes Mal meine voraussichtliche Rente ausrechnen. Damals hätte ich mit etwa 3500 Franken Rente rechnen können. Damit kommt man als Einzelmaske über die Runde.
Gehe ich am 1. März 2025 in Rente, bekomme ich noch knapp 3300 Franken. Von der AHV stammen davon 2000 Franken. Die 200 Franken weniger habe ich allein der Pensionskasse zu verdanken. Die Einkünfte sinken nach der Pensionierung ohnehin ziemlich markant. Im Verhältnis dazu bezahlt man vergleichsweise hohe Steuern, weil man als Rentner:in kaum mehr Steuerabzüge geltend machen kann.
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Ein Ja zur 13. AHV würde meinen Rentenverlust nahezu ausgleichen. Nicht die AHV ist krank, krank ist die zweite Säule. Von ihr reden die Bürgerlichen nicht gerne, sie lenken davon ab, indem sie mit ihrer Katastrophenerzählung absurderweise allein auf die AHV zielen. Sie verteidigen im Parlament die garantierten Gewinne der Finanzindustrie, die mit den Pensionskassengeldern glänzende Geschäfte auf Kosten der Versicherten macht und damit den Spielraum für anständige Renten einschränkt. Es ist eine Politik gegen die Mehrheit.
Wie viel Rente ich und andere erhalten, hängt aber auch von individuellen Entscheiden, Zufällen und «Schicksalsschlägen» ab. Ich entschied mich mit 49 Jahren für ein interessanteres Journalistenleben und wechselte zur WOZ – zum Preis eines damals sehr tiefen Lohns, der inzwischen aber deutlich höher ausfällt. Die Auswirkungen auf meine Rente hatte ich damals nicht wirklich bedacht.
Ich habe, wie gesagt, drei Kinder, die alle einen höheren Abschluss machten oder anstreben. Das kostet und schränkt das Sparpotenzial ein. Und ich bin geschieden. All diese Faktoren wirken sich unmittelbar auf die Rente und die Möglichkeit privater Vorsorge aus. Vor meiner WOZ-Zeit hatte ich, bezogen auf den Medianlohn, überdurchschnittlich verdient, ich kaufte 1995 aus der Erbmasse verhältnismässig günstig mein Elternhaus, verschuldete mich dafür allerdings und investierte ausserdem in die Renovation der Liegenschaft.
«Ich frage mich manchmal, ob die in aller Regel finanziell auf Rosen gebetteten bürgerlichen Parlamentarier:innen überhaupt eine Vorstellung davon haben, was es bedeutet, mit 3500 Franken oder weniger den Lebensunterhalt bestreiten zu müssen.»
Das Haus besitze ich immer noch, sein Wert hat sich schätzungsweise verdoppelt. So zähle ich zur privilegierten Schicht der Immobilienbesitzer:innen, die von einer irren Preisentwicklung profitieren. Ausserdem konnte ich privat vorsorgen. Trotz der gesunkenen Rente muss ich mir finanziell keine Sorgen machen.
Fast auf Rosen gebettet
Und doch habe ich mich entschieden, meine Lebenshaltungskosten zu senken, weil mir ein grösserer finanzieller Spielraum wichtig ist. Ich verlasse daher die Stadt St. Gallen, in der ich die vergangenen drei Jahre gerne gelebt habe, und ziehe ins Bergtal meiner väterlichen Vorfahr:innen. Die Steuerbelastung und die Krankenkassenprämien sind dort tiefer. Und natürlich gefällt es mir dort. Auch das ist ein individueller und privilegierter Entscheid.
Wer die Nähe zu seinem sozialen Umfeld nicht aufgeben kann oder möchte, wird keine solche Rechnung anstellen. Sollte es mir in den Bergen – weit weg von den urbanen Zentren – nicht mehr wohl sein, kann ich auf diesen Entscheid zurückkommen. Diese Spielart der Ungewissheit muss man sich leisten können.
Ich frage mich manchmal, ob die in aller Regel finanziell auf Rosen gebetteten bürgerlichen Parlamentarier:innen überhaupt eine Vorstellung davon haben, was es im Alltag bedeutet, mit 3500 Franken oder weniger (und allenfalls bescheidenen Rücklagen) den Lebensunterhalt bestreiten zu müssen. Ihre versicherungsmathematischen Argumente wirken auf mich obszön. Was immer diese Parlamentarier:innen finanzpolitisch ins Feld führen mögen: Der Ausbau der AHV für alle ist finanzierbar und gesellschaftspolitisch vernünftig. Ihr Argument, die Wohlhabenderen hätten keine höhere Rente nötig, das sei Mittelverteilung mit der Giesskanne – dieses Argument dient letztlich der Spaltung der Solidargemeinschaft. Grossverdiener:innen bezahlen viel ein, sie sollen natürlich genauso in den Genuss einer 13. AHV kommen.
Die Schweiz ist ein reiches Land, aber nicht alle in der Schweiz sind reich. Deshalb sollten wir dieses grossartige Solidaritätswerk am 3. März stärken.
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