«Ziviler Ungehorsam muss absolut gewaltfrei sein»
«Ist ziviler Ungehorsam legitim?», fragte die junge Klimaaktivistin Pauline Lutz Anita Fetz im Generationen-Ping-Pong. Die erfahrene Protestlerin antwortet mit Erinnerungen an die Besetzung des AKW Kaiseraugst.
Liebe Pauline
Du fragst mich, was ich vom zivilen Ungehorsam halte und ob ich diese Protestform selbst angewendet habe. Ja, ein paar Mal. Das erste Mal vor Jahrzehnten, konkret 1975, als ich als Schülerin mitgeholfen habe, das für das AKW Kaiseraugst vorgesehene Gelände wochenlang zu besetzen. Am Tag ging ich zur Schule und abends und am Wochenende habe ich zusammen mit ein paar anderen Schülerinnen aus dem Gym Münchenstein mitbesetzt. Die Bedingung meiner Eltern lautete ultimativ: die Schule darf darunter nicht leiden.
Wir haben Zelte aufgestellt, Hütten gebaut, Transparente gemalt, gekocht und viel diskutiert. Das war sehr viel weniger romantisch, als es tönt. Es war ein nasskalter April und unsere Schlafsäcke ständig feucht. Eindrücklich war es dennoch: Die Solidarität der Bevölkerung war gross, der Kampf gegen das AKW wurde bis weit in die Mitte der regionalen Gesellschaft getragen. Tausende kamen an den Wochenenden zur Unterstützung auf das Gelände.
Vorausgegangen waren viele politische und rechtliche Schritte, die aber alle im Sand verlaufen waren. Die Bewilligungspflicht lag allein in der Hand des Bundesrates und der war damals, was die Kernenergie betraf, noch in technologischer Euphorie. 13 Jahre später wurden die Pläne vom Bundesparlament begraben. Ich war damals junge Nationalrätin der POCH (Progressive Organisationen der Schweiz, eine Partei links der SP) und für mich fühlte es sich toll an, als Parlamentsmitglied das Projekt beerdigen zu können, gegen das wir jahrelang gekämpft haben.
«Frei nach Bertolt Brecht: Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.»
Wir haben uns damals intensiv mit dem den Formen und Methoden des zivilen Ungehorsams auseinandergesetzt. Das Motto war, frei nach Bertolt Brecht: Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Wir haben dazu die Schriften von Ghandi und Martin Luther King gelesen sowie die Texte von Jürgen Habermas. Daraus haben wir unser Konzept für zivilen Ungehorsam abgeleitet.
Wenn alle politischen und rechtlichen Massnahmen ausgeschöpft wurden, ist er legitim.
Das Ziel muss sich auf die Durchsetzung von Bürger- oder Menschenrechten beziehen und darf nicht von partikularen Interessen geleitet sein. Ziviler Ungehorsam ist wichtig, um die Menschen aufzurütteln.
Man muss in Kauf nehmen, dass man aufgrund der bestehenden Gesetze für sein Handeln bestraft wird. Denn die rechtsstaatlichen Regeln gelten weiter. Ein Eintrag im Strafregister ist zwar nicht so schlimm, wenn man jung ist, kann aber später zum beruflichen Stolperstein werden.
Er muss – in demokratischen rechtsstaatlichen Verhältnissen – absolut gewaltfrei sein.
Die Klimabewegte Pauline Lutz denkt über Solidarität und Eigenverantwortung nach und fragte Anita Fetz: «Wie weit soll man für die eigenen Überzeugungen gehen? Hier liest du ihren Brief.
In diesem Sinne war für mich die Besetzung des Bundesplatzes durch die Klimabewegung im letzten Herbst auch legitim. Auch wenn es verboten ist, während den Sessionen zu demonstrieren. Doch auch die Reaktion der Stadt Bern war nachvollziehbar. Der Stapi suchte das Gespräch, liess etwas Zeit und vollzog dann das Gesetz, wozu er in einem Rechtsstaat verpflichtet ist. Er liess den Platz räumen und zwar gewaltlos und die Besetzer*innen verhielten sich vorbildlich. Sie trugen Masken, hielten den Abstand ein, machten Platz für die Marktfahrer*innen, räumten auf und liessen sich gewaltlos wegtragen.
Das zeugt von politischer Intelligenz auf beiden Seiten. Unklug wäre gewesen, wenn es Besetzer*innen gegeben hätte, die den Ratsmitgliedern den Zutritt zum Parlament nicht gewährt hätten oder wenn die Berner Polizei mit Tränengas eingeschritten wäre. Beides war nicht der Fall und das ist es, was ich mit politischer Intelligenz meine.
«Die Freiheit des Einzelnen hat dort Grenzen, wo sie die Gesundheit oder die Freiheit der anderen betrifft.»
Deine Einschätzung zu den Corona-Querdenker*innen-Demos teile ich. Es kann legitim sein, auch in Corona-Zeiten gegen Einschränkungen der persönlichen Freiheiten zu demonstrieren, jedoch nicht ohne Maske und Abstand, weil das eine gesundheitliche Massnahme zum Schutz anderer ist. Die Freiheit des Einzelnen hat dort Grenzen, wo sie die Gesundheit oder die Freiheit der anderen betrifft. Das ist ein ethisches Prinzip.
Wann ziviler Ungehorsam legitim ist, dafür gibt es keine präzisen Regeln. Das muss von Fall zu Fall gut überlegt werden. Und es ist wichtig, dass man sich der potentiell möglichen persönlichen Konsequenzen bewusst ist. Es ist nämlich alles andere als sicher, dass eine Richterin die ethischen Ziele als legitim bewertet.
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Die Kleinunternehmerin und ehemalige Ständerätin Anita Fetz (1957) politisierte bei der SP. Pauline Lutz (2002) engagiert sich bei der Basler Klimajugend und hat bis im Dezember internationale Beziehungen in Genf studiert.