Eine Stadt, drei Welten
Wie ist der Vibe in Basel, wenn am selben Tag schickes Art-Basel-Publikum, feministische Demonstrierende und Fussballfans die Stadt einnehmen? Eine Reportage.
Im Foyer der Art Basel stehen sie Schlange. Wofür, wissen sie selber nicht so genau, aber wenn die Leute anstehen, wird es dafür wohl einen Grund geben. Die Gespräche werden auf Englisch und laut genug geführt, dass man sichergehen kann, dass auch die anderen in der Schlange hören, wie wichtig die eigene Unterhaltung ist. Eigentlich sind es keine Gespräche, sondern Aneinanderreihungen international klingender Orte und Worte («oh yeah, I worked there for a year»). Selbstverständlich wird Basel hier «basil» wie das englische Wort für Basilikum ausgesprochen.
Hier flanieren Persönlichkeiten mit auffälligen runden Brillengestellen (meist schwarz oder rot, um noch mehr Eye-Catcher zu sein), Thrift-Shop-Jäger mit neongrün gefärbtem Schnauz und Hipster-Girls mit Analogkameras, aber auch ältere Pärchen in Jack-Wolfskin-Jacken durch die Hallen. Nicht alle nehmen die Kunstmesse ernst. Eine junge Freundesgruppe (Modestil: Sylt) sagt vor jedem Ausstellungsstück, was die Kunst in ihnen auslöst. «Zahnarztpraxis», sagt einer in einem Raum, in dem Leuchtringe von Dan Flavin an den Wänden hängen. Seine Freundin sagt: «Hier würde ich mich gerne schminken.»
Die wartende Menge färbt die Treppe pink und violett. Immer mehr Leute drängen auf den Theaterplatz, wo in einer halben Stunde die grosse Demo zum Feministischen Streiktag startet. Zuoberst sitzen drei 17-Jährige in pinken Shirts. Es ist ihre erste Demo, doch mit Ballon am Handgelenk und Flyern in der Hand wirken sie wie alte Häsinnen. Warum sind sie hier? «Es ist gut, etwas für uns zu machen», sagt eine der drei. «Und für alle anderen auch», ergänzt ihre Kollegin. Eine zückt ihr Handy – diesen Moment wollen sie festhalten.
Erste Demoteilnehmer*innen treten aus der Menge und postieren sich am Steinenberg. Die Sonne wird von der Pailletten-Glitzerjacke eines Kindes reflektiert, das auf den Schultern seiner Mutter durch die lose verteilten Streikenden schaukelt. Ist es schon Zeit, das Transpi auszurollen? Ein Mann eilt kopfschüttelnd vorbei, weisser Brötlibarkarton in der Hand. Er murmelt: «Feministischer Streik» oder «sone Scheiss». Der genaue Wortlaut geht in der Musik unter, die laut aus den Boxen am Rande der Strasse dringt. Beachtung wird dem Mann für sein Gemurmel nicht geschenkt.
Genauso wie der Mann stören auch die Aktivist*innen von Liberate Switzerland nicht wirklich, als sie zu siebt eine Menschenkette vor einer Kunstinstallation bilden. Das Publikum zückt das Handy, vielleicht bekommt man eine Tomatensuppen-Attacke zu sehen. Ein Herr im Karo-Jackett fordert die Gruppe, die einen Teil ihrer klimapolitischen Rede auf Französisch und Deutsch hält, immer wieder lautstark auf, doch gefälligst Englisch zu reden. Der Wachmann schreitet nicht ein. Als ein Kunstwerk weiter ein älterer Herr mit Glatze und Ohrringen auf der Kunst Platz nimmt und mit einem Schild posiert, um auf seine Suche nach einer Partnerin aufmerksam zu machen, wird er hingegen weggeschickt. «You can’t do self promotion here.»
An den Maler-Metallstangen von Claudia und Carmen hängen keine Farbrollen, sondern Kartonschilder mit Slogans. Sie sind aus dem Wallis. «Dort gibt es so etwas nicht», sagt eine der beiden und zeigt auf die Demo um sich herum. «Patriar chami mal», steht auf Carmens Schild, der Spruch ist so gut, dass andere beim Vorbeigehen davon ein Foto machen. Kryptischer ist die Message, die Claudia in die Höhe hält: «Multitasking? Probier’s mal ohne.» – «Das hat eine KI geschrieben», erklärt sie. «Aber das vorne ist von meiner wunderbaren Frau.» Sie dreht das Schild stolz um. «Multitasqueen».
«Eine Demokratie kann es sich nicht leisten, auf Kosten der Gleichstellung zu sparen», schallt es aus den Lautsprechern. Der Demozug hat auf der Wettsteinbrücke angehalten, zwischendurch bekräftigen laute Pfiffe den Inhalt der Rede. Andere nutzen die kleine Pause für einen Drink vom kleinen Barwagen auf dem Trottoir. Es gibt Wildberry Lillet und Apérol. Ein Prosecco-Korken knallt. Für das Kind in der Schlange ist aber auch gesorgt: «Wettsch en Sirup?». Eine vorbeigehende Frau unterbricht ihre Kollegin mitten im Satz, als sie den Wagen sieht: «Ou! Ou!», sagt sie freudig mit den Armen winkend und stellt sich schnell in die kleine Schlange.
Erste grosse Tropfen hinterlassen dunkle Flecken auf dem Claraplatz. In der Beiz «Zem alte Schluuch» sitzen Männer unter dem Vordach und schauen den Demonstrierenden zu, die im Takt eines kurdischen Liedes vorbeitanzen. Einer wippt mit dem Fuss.
Tropfen fallen auch in den noch halbleeren Fussballgarten vor der Bar du Nord. Während sich der Regen senkt, steigt die Spannung. Traut man dem Wetter und bleibt sitzen? Oder flieht man in den trockenen Innenraum des Public Viewings? Ein Vierertisch, alle in weissen Deutschlandtrikots, schnappt sich ihre EM-Spezial-Pils und entscheidet sich für Letzteres: Flucht. Drinnen teilt eine Gruppe am Holztischlein mit samtroten Stuhlkissen eine Karaffe Weisswein. Sind die hier richtig? Über den Köpfen der fein gekleideten Grauhaarigen prangt eine etwa 20 Quadratmeter grosse Leinwand. In der hinteren Ecke des Saals sind vier junge Männer am töggele. Deutschland gegen Schottland? Auch sie tragen weisse Shirts.
«Ein Gorilla!», ruft ein kleines Mädchen, als sie unter den Schreibtisch in der Ecke des Ausstellungsraums schaut und die fellige Animatronik eines kauernden Affen des Künstlers Ryan Gander entdeckt. Sie rennt zu ihrem Vater, der belustigt im Eingang des Raums steht. Als er selbst zur Menschentraube gehen will, die in der Ecke des Raums gebückt unter den Schreibtisch fotografiert, hält ihn die Tochter verängstigt zurück. «Des isch doch en arme Tropf», sagt eine Frau mit blumiger Hose und badischem Dialekt. Sie meint nicht das Mädchen, sondern den Gorilla.
40 Minuten vor Anpfiff füllt sich der Saal. Draussen quetschen sich einzelne Gruppen unter die Sonnenschirme, die als Regenschutz dienen. Die nassen Schuhsohlen der eintretenden Fans quietschen auf dem Fischgrätparkett, bevor sie zum Stehen kommen. Blick in die Runde, Frage an den nächstgelegenen Tisch: «Ist dieser Stuhl noch frei?» Immer mehr Leute müssen die Spielvorschau auf der grossen Leinwand stehend verfolgen. Dort ploppt am unteren Bildrand eine Senderliste auf. Die nicht-sichtbare Person mit der Fernbedienung wechselt von SRF zu ZDF. Der drei mal drei Meter grosse Kopf von Deutschland-Starspieler Toni Kroos erscheint. Applaus von der Fangruppe mit den schwarz-rot-goldenen Hasenohren.
Merchandise. Basquiat würde es hassen, dass seine Zeichnungen auf Strandtücher und Bierdeckel gedruckt wurden und hier neben Shirts, Käppis und Wickelfischen im Art Unlimited Shop zu kaufen sind. Auf diesen 15 Quadratmetern ist eigentlich der Peak dessen erreicht, was manche an der Vermischung von Kommerz und Kunst an der Art kritisieren. Eine Packung Basler Läckerli im Steelcase (unlimited treats, honey and almond, classics from Basel) kostet hier 50 Franken. Im Kiosk direkt hinter dem Ausgang auf dem Messeplatz bekommt man eine genauso grosse Packung Läckerli für 22 Franken. Und den Kaffee, im Gegensatz zu der Bar in der Messehalle, nicht nur mit Hafer-, sondern auch mit Kuhmilch.
Die Fans greifen weiterhin zum kühlen Bier. Eine weisse Zehn vor grünem Hintergrund füllt das projizierte Bild, dann eine Neun. Viel Aufmerksamkeit wird dem riesigen Countdown nicht geschenkt. Der Geräuschpegel im Innern der Bar du Nord bleibt unverändert. Es dauert schliesslich noch 15 Minuten bis der Ball rollt. Von der Null wechselt das Bild zu bunt gekleideten Tänzer*innen, die auf einer weissen Plache rumhüpfen. Die semi-professionell wirkende Choreo erinnert an eine Mischung aus Olympia-Eröffnungsfeier und ESC-Finale. Imaginäre Nationalflaggen werden geschwenkt. Das Publikum im Gare du Nord lässt es kalt.
Die deutsche Nationalhymne schrillt aus den Lautsprecherboxen in den Ecken vom Münchner Stadion in die Basler Bar. Einige eingefleischte Fans im Saal singen – die Hand auf der Brust – mit ihren Stars auf dem Bildschirm mit. Ist das noch Basel oder schon ennet der Grenze? Im Gegensatz zur schottischen Hymne zuvor, füllt nach der deutschen Applaus den Raum. «Fantastische Atmosphäre» hört man den ZDF-Moderator. Langsam senkt sich der Geräuschpegel im Raum. Die Augenpaare wandern nicht mehr umher, sondern sind jetzt auf die Leinwand gerichtet. Der Bierbecher wird abgestellt. Anpfiff.
Die lila-pinken Streikenden sind mittlerweile auf dem Nachhauseweg – oder irgendwo am weitertanzen. Und wie sie findet das illustre Art-Publikum sicher einen Ort, um den Abend ausklingen zu lassen.