Wo bleibt die Empathie?
Am Samstag haben in Basel Tausende Menschen für eine Befreiung der Palästinenser*innen demonstriert. Und gegen Israel. Immerhin blieb es friedlich.
«Schweigen ist Komplizenschaft» steht auf einem Banner des Demonstrationszugs, der für die Befreiung von Palästina («Free Palestine») am Samstagnachmittag durch Basel gezogen ist. Geschwiegen haben die gemäss Organisatator*innen 7000 Menschen (die Polizei spricht von 1500-2000), die vom De-Wette-Park beim Bahnhof friedlich und fahnenschwenkend über die Wettsteinbrücke bis zur Kaserne liefen, nicht. Im Gegenteil: Sie waren laut und fordernd. Laut in ihrem Gesang, fordernd in ihren Parolen. Unter anderem wurde mehrfach «From the River to the Sea» gerufen, ein Slogan der antisemitisch ausgelegt werden kann und in manchen Teilen Deutschlands bereits verboten ist.
Der Demozug war sehr durchmischt; es waren junge und ältere Menschen unterwegs, Familien und Studierende, die die Uni-Besetzungen verteidigten, People of Colour genauso wie Muslim*innen. Geschwenkt wurden Palästina-Fahnen, aber auch Flaggen mit roten Dreieck, einem Hamas-Symbol, und gefordert wurde die Freilassung von Georges Abdallah, einem libanesischen Kommunisten, der am längsten in Europa inhaftierte Gefangene, verurteilt wegen Mordes. Auch wurde zu Beginn eine Israel-Flagge gehisst, auf welcher der Davidsstern durch ein Hakenkreuz ersetzt und durchgestrichen wurde. Die BaZ schreibt dazu: «Mit dieser Bildsprache werden sechs Millionen Holocaust-Opfer verhöhnt.» Noch bevor der Demozug loszog, war die Fahne allerdings wieder verschwunden.
Den Verstorbenen des Terrorattentats durch die radikal-islamistische Hamas vom 7. Oktober, das sich am Montag jährt, wurde weder in den Anfangs- noch in den Schlussreden gedacht. Die zeitliche Nähe der Demo zum Jahrestag führte vorab zu Stirnrunzeln. In der bz kritisierte etwa Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), das gewählte Datum als «unsensibel und höchst fragwürdig». Statt eines Gedenkens wurden an diesem Samstag Kleber mit Bildern von Geiseln, die in Basel an das Schicksal der nach wie vor rund 100* Verschleppten erinnern sollten, unterwegs von den Strassenschildern gekratzt.
Bei der Elisabethenkirche standen am Rande des Demonstrationszugs einige Personen, die sich wohl pro-israelisch positionierten. Eine Frau hatte «Bring Them Home Now» auf ihrem Pulli stehen. Die Polizei hatte Kenntnis von diesen Personen, das Dialogteam hatte sie laut Mediensprecher Adrian Plachesi darauf hingewiesen, dass von einer Konfrontation mit Demoteilnehmer*innen abzusehen sei. Soweit bekannt, kam es zu keinen Zusammenstössen.
In den Reden im De-Wette-Park wurde betont, dass der «Völkermord» an den Menschen in Gaza nun 364 Tage (eigentlich müsste es wohl 363 Tage heissen) anhält, und dass dieser gestoppt werden müsse. 40’000 Menschenleben hat der Gegenangriff von Israel im Gazastreifen bisher gekostet, darunter auch viele Kinder, Frauen und Betagte. Daran erinnern Frauen im Demozug, die leere Kinderwagen durch die Mengen schieben; statt Kinder liegen Bilder der Verstorbenen drin. Eine eindrückliche Szene, die so manch ein*e Passant*in zu Tränen gerührt und vielleicht zumindest ein bisschen Empathie provoziert haben dürfte. Und davon scheint es derzeit an allen Ecken und Enden zu mangeln.
So sagte auch der schweizerisch-israelische Wissenschaftshistoriker und Politologe José Brunner im Echo der Zeit von vergangenem Mittwoch, einen Tag nach dem Vergeltungsschlags des Irans auf Israel: «Empathie mit Palästinenser*innen gibt es nicht, auch auf palästinensischer Seite gibt es keine Empathie für Israelis, im Gegenteil, es gibt eine Art Empathieverbot.» Und: «In einem Krieg sind die Linien zwischen Freund und Feind klar gezogen, man hat Empathie für das eigene Leiden, nicht für das Leiden der Anderen.»
Diese Haltung widerspiegelt sich auch in Gesprächen, die Bajour mit Demoteilnehmenden geführt hat, die die Parole «From the River to the Sea» auf ihren Transparenten kundtaten. Wir wollten wissen, warum man auf den umstrittenen Slogan nicht verzichten kann, wenn doch klar ist, dass er Jüd*innen verletzen könnte? Die Antwort: Es gehe dabei nicht um Antisemitismus, sondern um die Befreiung der Palästinenser*innen, Palästina gehöre den Palästinenser*innen, aber: «Ja: Israel muss weg!», sagte ein Vertreter von ODSI; die Organisation fordert ein demokratisches Palästina. Der Herr mit amerikanischem Akzent erklärt denn auch: «Israel, der Staat, muss weg, nicht die Menschen, die dort leben.» Der Konflikt sei kein ethnischer, auch kein religiöser. «Es geht um Kolonialismus!» Und man habe keine Lust, heute schon wieder über Israelis oder Jüd*innen zu sprechen. Heute stünden die Palästinenser*innen im Mittelpunkt.
Die Wut auf die Zionist*innen wurde an diesem Herbsttag deutlich: «Tout le monde deteste les sionistes» (die ganze Welt hasst die Zionist*innen), wurde gesungen. Und «Israel is a racist state» (Israel ist ein rassistisches Land) skandiert. Überhaupt war der Grundtenor kämpferisch: «Vive la lutte du peuple palestine!» (Es lebe der Kampf des palästinensischen Volkes), oder: «From Gaza to Beirut, all the martyrs we salute!» (Von Gaza bis Beirut grüssen wir alle Martyer*innen, sprich: die Opfer des Krieges).
Was von diesem Tag bleibt, ist die Erkenntnis, dass es in diesem Konflikt keine Gewinner*innen gibt, nur Verlierer*innen. Und dass Pauschalisierungen die Menschen noch nie weitergebracht haben. Auch heute nicht.
Mitarbeit: David Rutschmann
*Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version berichteten wir von 108 Geiseln, die noch in den Händen der Hamas sind, haben die Zahl dann aber nach unten korrigiert.