«Gott ist sie jung, hab ich mir gedacht»
Eva Bachmann hat auf einem Video von 1954 ihre Mutter entdeckt. Ihr Müetti war Teil der Frauen, die entschieden haben: Baslerinnen wollen das Stimmrecht!
Ein Mittwochnachmittag im Februar in Basel. Gerade hat es noch geregnet, jetzt scheint fast ein wenig die Sonne. Eva Bachmann steht vor dem McOptic an der Mittleren Brücke und lächelt mir zu. Eine Woche zuvor hat Bajour ein Video veröffentlicht, auf dem sie ihre Mutter erkannt hat.
Der Beitrag der Schweizer Filmwochenschau von 1954 wurde im Nachhinein von Bajour coloriert. Die Frauen aus Basel wurden bei einer Pseudo-Abstimmung gefragt: Wollt ihr ein Stimmrecht? Pseudo-Abstimmung deswegen, weil am Ende nur die «Herren der Schöpfung», wie sie im Beitrag genannt werden, entscheiden durften, ob den Baslerinnen ihr Wunsch auch gewährt wird.
Eva Bachmann ist zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt. An den Tag der Abstimmung kann sie sich zwar nicht mehr erinnern, wohl aber daran, was ihre Mutter gestimmt hat. Wir spazieren los, rheinaufwärts.
Das Frauenstimmrecht wird erst 50 Jahre alt. In Basel 55 Jahre alt, immerhin. Bereits 1954 fragte man die Baslerinnen: Wollt ihr abstimmen? Sie sagten mit grosser Mehrheit Ja. Bajour hat die Archivperle aus der Filmwochenschau coloriert.
Eva Bachmann, wie war es, als Sie Ihre Mutter auf dem Video erkannten?
Ich habe sie beim ersten Mal schauen erst erkannt, als sie im Profil zu sehen war, also in dem Moment, als sie nach links lief. Und dann hab ich nochmal zurückgespult. Man sieht sie ja schon, wie sie zum Lokal herauskommt. Ich war gerührt. Gott, ist sie jung, habe ich mir gedacht. Knapp 50 Jahre alt muss sie dort gewesen sein. Sie war immer eine kleine Frau, wir haben ihr immer Müetti oder Müetterli gesagt. Aber immer selbstbewusst. Ich habe das Video meiner Schwester, ihren Kindern und meinen Nichten weitergesendet und die hatten auch eine Freude.
Und Ihr Vater?
Er hat unsere Mutter dort begleitet. Mein Mann hat mir beim Anschauen des Videos gesagt: «Ich glaube, Männer durften dort gar nicht rein, die mussten draussen warten.» Für einmal umgekehrt also. Sonst waren es die Frauen, die die Männer begleitet und draussen auf sie gewartet haben.
Basel 1954, die Frauen entscheiden gerade, ob sie ein Stimmrecht wollen, oder nicht. Können Sie sich noch an den Tag erinnern?
Puh, da war ich 17 Jahre alt. Nein, an diesen Tag kann ich mich nicht erinnern.
Wissen Sie noch wie Ihre Mutter damals gestimmt hat?
Ja, das weiss ich. Sie hat Ja gestimmt. Das war für sie selbstverständlich, und für meinen Vater auch. Er hat dann 1966 auch Ja gestimmt, als es dann tatsächlich um das Frauenstimmrecht ging.
Und wurde bei Ihnen Zuhause auch darüber diskutiert?
Nicht wirklich. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Das kann aber auch daran liegen, dass ich damals überhaupt nicht politisch war. Ich habe mich nicht besonders für das Thema interessiert und habe erst recht keine Fragen gestellt. Geschweige denn war ich damals Feministin.
Heute schon?
Ja.
Warum damals nicht?
Da habe ich keine Ahnung. Ich war eine angepasste Jugendliche.
Auch bei Frauenrechten?
Als ich selber Farbe hätte bekennen sollen, habe ich mich nicht solidarisiert. Da wurde ich auf der Strasse von einer Frau angesprochen, die mich fragte, ob sie mir ein Abzeichen geben dürfte, das sie im Zusammenhang mit der Abstimmung zum Basler Frauenwahlrecht 1966 verteilten. Zuerst habe ich es angepinnt, war etwas überfordert, habe es aber dann gleich wieder abgenommen. Ich habe mich dafür geschämt.
Weshalb haben Sie sich geschämt?
Für mich war das damals etwas Extremes. Das musste es irgendwie sein.
Und da wollten Sie nicht dazugehören?
Nein.
«Diese Lehrerinnen waren für uns ‹Mannsweiber›, weil die meisten von ihnen nicht verheiratet waren.»Eva Bachmann
Warum hatten Sie diesen Eindruck?
Vielleicht lag es am Lehrerinnenstreik.
Lehrerinnenstreik?
Ja, da war ich zwar schon nicht mehr am Gymnasium, aber als das Frauenstimmrecht in einem ersten Anlauf abgelehnt wurde, haben die Lehrerinnen des Basler Mädchengymnasiums gestreikt.
Und das fanden Sie nicht gut?
Nein. Das waren für uns damals ... «Mannsweiber».
Mannsweiber?
Ja, das tönt jetzt gemein, war aber damals für uns so. Das waren tüchtige Frauen, die haben studiert, die hatten einen Beruf, was längst nicht alle Frauen hatten früher. Jedenfalls waren diese Lehrerinnen für uns Mannsweiber, weil die meisten von ihnen nicht verheiratet waren, oder eine Beziehung hatten, von der wir wussten. Dann hatten wir dieses Bild einer frustrierten Frau im Kopf, die keinen Mann gefunden hat und darum ihr Leben lang arbeiten muss.
Und weil diese Frauen für Sie einen extremen Lebensstil führten, nahmen Sie die Frauenbewegung als extrem war.
Vielleicht ja.
Und was dachte Ihre Mutter über die Frauenbewegung?
Für sie waren Frauenrechte eine Selbstverständlichkeit. Sie war ihrer Zeit voraus.
Inwiefern?
Sie war viel emanzipierter als ich. Auf Fotos sieht man sie sehr selbstbewusst. Sie hat zuerst einen Büroberuf gelernt, wollte aber immer schon Kindergärtnerin werden. Und dann hat sie aber keine Zulassung bekommen, es gab genug Kindergärtnerinnen. Mit 30 hat sie dann doch noch die Ausbildung gemacht, hat einige Jahre unterrichtet. Da hatte sie noch keine Kinder. Sie hat meinen Vater aber schon gekannt, und sogar mit ihm zusammengelebt, unverheiratet. Früher äusserst ungewöhnlich.
War sie jemand, die sich für Frauenrechte eingesetzt hat?
Nein, sie hat nicht gekämpft. Sie hat ihr Leben einfach so gelebt, wie sie es wollte – und das war für eine Frau damals fortschrittlich.
Obwohl es unbeabsichtigt war, hat sie trotzdem durch ihren Lebensstil ein Statement gesetzt.
Das stimmt, ja. Sie war dann aber in der Kindererziehung erstaunlicherweise eher wieder konservativ. Sie hat sich daran gehalten, was «man» so macht. Zum Beispiel waren meine Eltern nicht religiös, sind nie in die Kirche gegangen, waren aber Mitglieder der reformierten Kirche. «Man» gehört halt irgendwo dazu. Sie wollten auch unbedingt, dass wir Kinder in die Kirche gingen. Das war ihnen wichtig. Da hab ich dann auch mal gefragt: «Ihr geht doch auch nicht in die Kirche, warum müssen wir?» Das ist halt einfach so, war die Antwort.
Wer waren Ihre Vorbilder als junge Frau? Die Lehrerinnen waren es ja nicht.
Nein, die waren es nicht. Ich war ziemlich orientierungslos, hatte keine wirklichen Vorbilder. Ich wusste auch nicht, was ich werden wollte. Schlussendlich habe ich dann, weil ich einfach schon lang Musikunterricht hatte und mir Musik sehr wichtig war, ein Musikstudium gemacht. Das war gut, es war halt das, was man mir empfohlen hat; Mach doch Musik, du hast doch so eine gute Voraussetzung, darauf kannst du aufbauen. Nach dem Studium habe ich gleich geheiratet und hatte Kinder. Erst als die Kinder grösser waren, konnte ich etwas aus meinem Studium machen.
Und was war das?
Ich habe eine Weiterbildung zur musikalischen Früherziehung gemacht und habe an einer Schule in Baselland gearbeitet.
Wie hätten Sie 1954 abgestimmt?
Das weiss ich nicht, das hat mich damals wirklich nicht interessiert. Erinnern kann ich mich noch daran, dass mein Mann einmal – ich bin mir nicht mehr sicher ob es 1959 oder 1966 war – das Frauenstimmrecht abgelehnt hat. Und das hat mich auf die Palme gebracht.
Da wurden Sie hässig?
Ja, das fand ich nicht gut. 1971 war er dann wieder dafür, und jetzt selbstverständlich auch. Er hat sich auch kurz danach und seither dafür geschämt.
Wurden Sie, als ihr Mann Nein gestimmt hat, zur Feministin?
Nein, das war eher ein schleichender Prozess. Ich hatte eine Freundin, die progressiver war als ich. Sie hat mich sicher auch beeinflusst. Und natürlich hat mich die 68er-Bewegung geprägt.
Wie genau?
Ich war damals 28 und bereits Mutter von drei Kindern. Da gab es sehr viel Literatur. Alice Schwarzer habe ich dann natürlich gelesen, oder die Holländerin Anja Meulenbelt, die kennt man heute vielleicht nicht mehr. Bücher, die einem die Augen geöffnet haben.
Eva Bachmann ist 82 Jahre alt und lebt in Basel. Sie hat Musik studiert und in Baselland eine Weiterbildung zu musikalischer Früherziehung gemacht. Jede Woche bietet sie einen Mittagstisch für berufstätige Frauen an, der rege genutzt wird.
Sie sind also langsam zur Feministin geworden – und damit auch liberaler?
Ja. Komisch eigentlich. Meistens sagt man ja, Menschen sind in jungen Jahren eher links und je älter sie werden, desto konservativer werden sie. Bei mir war und ist das umgekehrt.
Für mich, die das gar nicht kennt, ist das schon eine lustige Vorstellung. Das man 1954 die Frauen gefragt hat: Wollt ihr denn überhaupt? Ich meine, als ob sie Nein gesagt hätten.
Naja, die Instanz, die das gefragt hat, hat sich halt gedacht, wenn sie es eh nicht wollen, müssen wir uns den Aufwand einer richtigen Abstimmung nicht machen. Ich kann mir auch vorstellen, dass damals die Frauen, die das Stimmrecht nicht wollten, gar nicht erst abstimmen gegangen sind. Da waren nur die, die ein Stimmrecht wollten.
Wie Ihre Mutter.
Wie meine Mutter.
«Über die Appenzeller Männer und ihre Landsgemeinden hat man gelacht, das war Folklore.»Eva Bachmann
Und als Sie Ihre Kinder erzogen haben, war Politik da ein Thema?
Nein. Auch Diskussionen gab's nie richtige. Sie sind eher auf der gleichen Linie wie mein Mann und ich.
War es denn bei Ihren Kindern jemals Thema, haben die Sie jemals gefragt, wie es war, als Sie als junge Frau noch nicht abstimmen konnten?
Nein, nicht wirklich. Sie wussten es einfach. Kopfschütteln kam manchmal als Reaktion.
Also Unverständnis.
Ja, so; Hä?
Die Reaktion versteh ich. In Basel sind es doch schon 55 Jahre; aber im Appenzell dürfen Frauen erst seit 30 Jahren politisch mitbestimmen.
Übers Appenzell hat man immer gelacht. Es war Folklore, dass die Appenzeller Männer sich aufspielen müssen mit ihren Landsgemeinden. Ich fand es gut und wichtig, dass der Bund irgendwann eingegriffen hat und gesagt hat: So, jetzt reicht's.
Jetzt reicht's. Reicht's denn jetzt?
Das ist etwas, das mir auch immer durch den Kopf geht. Frauen haben jetzt zwar das Stimmrecht, aber ganz viel ist zwischen den Geschlechtern immer noch nicht in Ordnung. Das ist nicht das Ende des Liedes und dann ist alles in Ordnung. Es kommt jetzt viel mehr raus, über das man früher nicht redete.
Was meinen Sie damit, was ist für Sie das grösste Problem in der Gleichstellung?
Ich würde sagen die Machtverhältnisse. Man wertet Männer aufgrund ihrer «männlichen Eigenschaften» höher. Wenn eine Frau aber männliche Eigenschaften aufweist, dann ist das nicht okay. Gleiches bei einem Mann, der stereotypisch weibliche Eigenschaften aufweist. Man redet von Gleichstellung, das bedeutet die gleichen Rechte.
Wenn Sie jetzt nochmal zurückgehen könnten in ihre Jugend, wären Sie politischer gewesen?
Keine Ahnung. So wie das Leben gelaufen ist, ist es gelaufen. Ich kann nicht mal sagen, ich bedaure es, dass ich nicht politisch war, oder mich nicht schon früher frauenbewusster, feministischer verhalten habe. Es war einfach so. Ich schaue auf eine gute Zeit zurück – mit allem das nicht gut war.