«Der Bundesrat handelt den Energiemangel auf Kindergarten-Niveau ab»

Marcel Hänggi, Buchautor und Journalist, hat die Gletscher-Initiative mitlanciert. Am Donnerstag berät der Ständerat über den indirekten Gegenvorschlag. Im Interview kritisiert der Klimaschützer, wie Politik und auch Medien mit der Energiekrise umgehen.

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Nach dem extrem trockenen Sommer können Wasserkraftwerke weniger produzieren, auch das macht die Energiesituation prekär. (Bild: Aydin Hassan / Unsplash)

Marcel Hänggi: Am Donnerstag entscheidet der Ständerat voraussichtlich über den Gegenentwurf zur Gletscherinitiative. Da geht es um Dekarbonisierung. Haben wir momentan nicht dringlichere Probleme, beispielsweise den Energiemangel?

 Wer sagt, eine drohende Energieknappheit sei wichtiger als die Klimakrise, ist sehr schlecht informiert. Aber das Gute ist ja, dass sich die beiden Themen zusammen angehen lassen. 

Wie?

Es gibt keinen Zielkonflikt. Die Energiesituation ist prekär, weil Russland droht, Europa den Gashahn zuzudrehen. Wenn wir dekarbonisieren sind wir nicht mehr von russischen Energielieferungen abhängig. Und die Energiesituation ist auch prekär, weil nach dem extrem trockenen Sommer Wasserkraftwerke weniger produzieren und Atomkraftwerke nicht mehr gekühlt werden konnten. Die Klimaerhitzung ist also eine Ursache der möglichen Energiekrise.

In den Medien wird derzeit immer wieder gerne von einem drohenden Blackout geschrieben, von möglichen Plünderungen, Einbrüchen, Überfällen. Kurz: einem riesigen Chaos, das uns im Falle eines flächendeckenden, vielleicht mehrtägigen Ausfalls der Stromversorgung bevorstehen würde. Die Lage scheint also ernst.

Das hört sich für mich schon nach Panikmache an, und eine solche scheint mir ungeeignet, Menschen zu einem sinnvollen Handeln zu motivieren. Mir fällt aber auch auf, wie sehr hier Panik geschürt wird, während andere Gefahren  grob vernachlässigt werden – etwa die langfristigere Gefahr der Klimaerhitzung, die wirklich das Potenzial hat, alles durcheinander zu bringen.

Wie entscheidend sind dabei Begrifflichkeiten? In anderen Worten: Spielt es in Bezug auf die Panikmache eine Rolle, ob man von Blackout und Strommangellage spricht? 

Ja, natürlich. Als 2021 der Bericht der Eidgenössische Elektrizitätskommission (ElCom) erschien, war der dominante Begriff in den Medien die «Stromlücke». Unter «Lücke» stelle ich mir vor: Da ist ein Loch, da gibt es gar keinen Strom mehr. Dieser Begriff kommt im ElCom-Bericht aber gar nicht vor. Da steht lediglich: «Während 47 Stunden könnte dann der inländische Strombedarf nicht mehr gedeckt werden».  Eine Unterdeckung ist kein Loch, eher vielleicht eine Delle. Abgesehen davon, dass der Bericht dieses Szenario explizit als «Worst Case» beschreibt und die drohende Unterdeckung laut Bericht nur eintreten «könnte», im Konjunktiv.

«Die SVP dramatisiert gleichzeitig das Risiko eines Strommangels, während sie die Probleme der Öl- und Gasversorgung kleinredet.»
Marcel Hänggi, Mitinitiant der Gletscher-Initiative

Insbesondere die SVP warnt vor einem Blackout und fordert das Ende des AKW-Verbots. Nehmen Sie die Strommangellage zu wenig ernst?

Man muss das schon ernst nehmen. Aber die SVP dramatisiert gleichzeitig das Risiko eines Strommangels, während sie die Probleme der Öl- und Gasversorgung kleinredet. Dabei ist es ja, wie gesagt, die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas, die am Ursprung der heutigen Energiesituation steht.

Inwiefern werden die Probleme der Öl- und Gasversorgung kleingeredet?

Wenn man fordert, man müsse die SBB-Fahrpläne ausdünnen, um Strom zu sparen, auch wenn die Bahnpassagier*innen dann auf das energetisch extrem ineffiziente Auto umsteigen; wenn man fordert, E-Auto gegenüber Verbrennern nicht zu bevorzugen, oder wenn man gegen Wärmepumpen wettert: Dann tut man so, als hätten wir mit Öl und Gas keinerlei Probleme.

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Das will die Gletscherinitiative

Mit 10 zu 2 Stimmen hatte die Umweltkommission des Ständerates im Juni den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative angenommen. Sie will allerdings eine Milliarde weniger bereitstellen als geplant. Die Volksinitiative «Für ein gesundes Klima (Gletscher-Initiative)» verlangt, dass die Schweiz ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 auf netto-null reduziert. Der indirekte Gegenvorschlag sieht vor, dieses Netto-null-Ziel auf Gesetzesstufe zu verankern und mit einzelnen zielgerichteten Klimaschutzmassnahmen zu ergänzen.

Eine Mehrheit der Kommission ist der Überzeugung, dass der indirekte Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative ein zielführender Ansatz für die langfristige Schweizer Klimapolitik ist. Die Verankerung des Netto-null-Zieles in einem Bundesgesetz erlaubt es, dieses Kernanliegen der Initiative anhand von Zwischenzielen und sektoriellen Richtwerten zu konkretisieren und gleichzeitig ausgewählte Klimaschutzmassnahmen mit langfristiger Wirkung zeitnah in Kraft zu setzen. Während die SVP sich gegen den indirekten Gegenvorschlag ausgesprochen hat, weil unklar sei, wie Erdöl und Gas künftig zu ersetzen sind, ist die FDP dafür: Das Klimarahmengesetz bilde eine wirksame Grundlage für die deutliche Reduktion fossiler Treib- und Brennstoffe ohne deren absolutem Verbot. Der Linken gehen die Massnahmen teilweise zu wenig weit.

Das Initiativkomitee und der Trägerverein Klimaschutz Schweiz haben dem Parlament derweil ein Angebot gemacht: Wird der indirekte Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative aus dem Nationalrat nicht abgeschwächt, sind die Initiant*innen bereit für einen bedingten Rückzug.

Am Donnerstag wird die Vorlage im Ständerat behandelt.

Hat die Unterscheidung zwischen Strommangellage und Blackout denn auch eine politische Komponente? 

Welche Begriffe man benutzt, ist immer politisch, denn Begriffe geben einen gewissen Deutungsrahmen vor. Eine «Stromlücke» ist eben etwas anderes, als wenn der Bedarf eine kurze Zeit nicht vollständig gedeckt werden kann; das macht Angst. Ich bin als Zeitungsleser oft etwas entsetzt darüber, wie gering das Bewusstsein bei den Journalist*innen dafür ausgebildet zu sein scheint und wie oft politische Kampfbegriffe einfach übernommen werden.

Wieso könnte die SVP ein strategisches Interesse daran haben, auf die Gefahren eines Blackouts hinzuweisen? 

Weil sie mit diesem Narrativ die Energiewende weiter aufhalten kann.

Was würde ihr das bringen?

Erstens haben viele SVP-Politiker*innen Interessenverbindungen in der Energie- oder Autobranche wie zum Beispiel Albert Rösti, der bis vor kurzem Präsident von Swissoil war und nun die Autoimporteure präsidiert. Zweitens macht die SVP Wahlkampf damit, alles, was mit der angeblich linken Energiepolitik der Schweiz zu tun hat, zu verteufeln. Drittens hat es ideologische Gründe. Erneuerbare Energie haben in gewissen Kreisen den Ruf, etwas Herziges, Nettes, aber nicht wirklich Brauchbares zu sein. Und die Idee, dass der Staat gestaltend wirkt, ist vielen über die SVP hinaus ein Graus, wobei meist grosszügig übersehen wird, wie sehr die fossile und nukleare Energie staatlich subventioniert worden sind. 

Der Trend zur Elektrifizierung und Dekarbonisierung bei gleichzeitigem Ausstieg aus der klimafreundlichen Kernenergie führe zu Engpässen, kritisieren bürgerliche Parteien zudem. Was hätte man besser machen können? Hat man sich zu sehr auf die Importe aus dem Ausland verlassen, statt im eigenen Land erneuerbare Energie zuzubauen?

Elektrifizierung heisst ja nicht, dass fossile Energie eins zu eins durch Strom ersetzt wird. Die Energie des Heizöls wird durch Erdwärme oder Umgebungswärme ersetzt; man braucht Strom für die Wärmepumpen, aber nicht, um Wärme zu erzeugen. Ein Verbrenner verbraucht rund viermal so viel Energie wie ein E-Auto für dieselbe Fahrleistung. Elektrifizierung heisst also auch gleich schon Einsparung. 

Also führt die Elektrifizierung Ihrer Meinung nach nicht zu Engpässen?

Der Strombedarf steigt natürlich schon. Deshalb müssen wir die erneuerbare Stromproduktion ausbauen. Das bestreitet niemand. Aber wir müssen eben nicht gleich viel Energie in elektrischer Form bereitstellen, wie wir heute an fossiler Energie verbrauchen.

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Zur Person

Marcel Hänggi, Jahrgang 1969, ist Historiker, Journalist und Buchautor mit den Schwerpunkten Wissenschaft, Umwelt und Technik. Er ist zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter des Vereins Klimaschutz Schweiz und Mitinitiant der Gletscher-Initiative.


Wo sehen Sie die Versäumnisse der Politik? 

Versäumnisse der Politik sehe ich auf zwei Seiten: Wenn es von etwas weniger gibt, als nachgefragt wird, kann man das Angebot erhöhen. Oder die Nachfrage senken. In der politischen Debatte war aber bisher fast immer nur von ersterem die Rede.

Auch die Nachfrage müsste gesenkt werden?

Natürlich. Aber davon sprach lange fast niemand – bis nun mit den bundesrätlichen Sparvorschlägen das Ganze auf Kindergartenniveau verhandelt wird und die Botschaft vermittelt wird, Energieverbrauch sei einzig von individuellen Entscheiden abhängig und überdies etwas, was man nie freiwillig tun würde. Das finde ich fatal. 

Der Energieverbrauch sollte also strukturell angegangen werden? Was bedeutet das?

Unbedingt. Städte tun dies zumindest teilweise, die Bundespolitik nicht. Wieviel Energie ich als Individuum verbrauche, hat ja nicht nur mit meinen individuellen Entscheiden, sondern viel mit strukturellen Rahmenbedingungen zu tun. Beispielsweise komme ich mit viel weniger Energie aus, wenn ich Läden, Freizeitangebote, Schulen und Arbeitsplätze in Fuss- und Velodistanz habe oder wenn das Angebot des öffentlichen Verkehrs attraktiv ist, als wenn dies nicht der Fall ist. 

Und auf der Seite des Angebots?

Da müssten die Erneuerbaren ausgebaut werden. Zudem sollten die Beziehungen zur EU geregelt werden. Importe sind ja nicht per se schlecht.

Haben wir vielleicht auch zuviel Klimapolitik gemacht und die Energieversorgungssicherheit darob vernachlässigt, wie die NZZ in einem Leitartikel schrieb: «Europa hat es sich zu einem grossen Teil selbst zuzuschreiben, dass es in diese missliche Lage geraten ist. (…) Mit der Energiewende hat sich das Gewicht allzu sehr auf die Klimapolitik verlagert.»?

Dieses Narrativ, das u.a. die SVP bedient, ist Unsinn und problemlos als Unsinn erkennbar: Hätten wir klimapolitisch das Richtige gemacht und die Energiewende hingekriegt, hätten wir heute ganz viele Probleme nicht. Ich habe den Autor des zitierten Leitartikels, Gerald Hosp, auf Twitter gefragt, wie er das meine; statt sachlich antwortete er sarkastisch und mit leeren Schlagworten («wegwünschen», «Illusionen»). Ich fürchte, er hat da einfach nicht nachgedacht.

«Wenn jemand meint, es sei eine ‹Notlage›, wenn man nicht mehr heiss duschen kann, soll er mal nach Pakistan schauen.»
Marcel Hänggi, Mitinitiant der Gletscher-Initiative

Nun gut, Fakt ist, dass heute grosse Supermarktketten wie Lidl Schweiz offenbar bereits Notfallkonzepte vorbereiten für den Fall eines Blackouts. Das macht Angst und befeuert gleichzeitig die Lust, sich mit dem Nötigsten für den Fall der Fälle einzudecken - oder etwa nicht? 

Ich selber fühlte mich jedenfalls noch nicht veranlasst, Notvorräte anzulegen … 

Wenn selbst Politiker*innen von links bis rechts vorsorgen - sowohl SVP-Christian Imark als auch der Grüne Bastien Girod kaufen Taschenlampen und Kerzen - wie können Medien dann noch verhindern, dass Hamsterkäufe durch ihre Berichterstattung befeuert werden? 

Indem sie tun, was ihre Aufgabe ist: kritisch berichten und die richtigen Fragen stellen. Und einordnen: Wenn jemand meint, es sei eine «Notlage», wenn man nicht mehr heiss duschen kann, soll er mal nach Pakistan schauen. So wäre es auch die Aufgabe der Medien, darauf hinzuweisen, dass die extreme Notlage in Pakistan eine direkte Folge unseres hohen Energieverbrauchs ist. 

Einordnen im Sinne von: Klima- und Energiekrise zusammenzudenken?

Ja! Wenn es zum Beispiel dem SRF-Club-Moderator Mario Grossniklaus in 75 Minuten Debatte zur Energiekrise mitten im Hitzesommer nicht einfällt, eine einzige Frage zur Klimakrise oder zum CO2-Ausstoss zu stellen, hat er seine Arbeit nicht richtig gemacht.

Wie geht man mit Angst um, ohne Angst zu schüren? 

Ich weiss es nicht. Ich habe ja selber Angst – nicht vor Stromknappheit, aber vor der Klimaerhitzung. Und über das Klima kann man eigentlich nicht berichten, ohne Ängste auszulösen, denn es ist extrem beängstigend. Aber es gibt ja auch kein journalistisches Gebot, dass es verboten wäre, Ängste auszulösen, da, wo Angst angebracht ist.

Und was raten Sie Medienschaffenden?

Tut euren Job. Denkt über Begriffe und Narrative nach und über die politischen Interessen, die dahinterstehen. Schreibt einander nicht gedankenlos ab. Denkt zusammen, was zusammengehört.

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