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Solidarität

«Die SVP will seit Kriegsausbruch die Stimmung kippen»

Sozialwissenschaftler Marko Ković erklärt im Gespräch, wieso Medien mehr über Positives berichten sollten und was die Corona-Pandemie mit dem Ukraine-Konflikt gemeinsam hat.

03/31/22, 03:00 AM

Aktualisiert 03/31/22, 03:00 AM

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Marko Ković, war die Solidarität je so gross wie jetzt gegenüber den Ukrainer*innen?

Wir müssen vielleicht ein bisschen weiter zurückgehen in der Geschichte, um zu vergleichen. Auch 1956 war die Solidarität mit den ungarischen Geflüchteten gross, und während der Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren haben wir ebenfalls eine grosse Solidarität erlebt. Heute haben wir ein anderes kommunikatives Umfeld, wir sind unmittelbarer involviert – auch durch Social Media, von Beginn weg hat uns der Krieg mit Wucht getroffen. Von dem her kann man wohl sagen, dass diese Solidarität einmalig ist.  

Und bei den syrischen Geflüchteten? Wie breit würden Sie die Solidarität da beurteilen, fand diese vor allem im linken Spektrum der Gesellschaft statt?

Es gab vor allem in Deutschland eine Willkommenskultur, Angela Merkel war da führend mit ihrer Aussage «Wir schaffen das!». Und Merkel ist ja nicht links. Es war eine breite gesellschaftliche Ambition, solidarisch zu sein. 

Aber?

Gleichzeitig konnten wir während des Syrien-Krieges auch viel Apathie beobachten, die Menschen waren vielen einfach egal. Zudem sind durch die sogenannte Flüchtlingskrise Bewegungen wie die AfD oder die identitäre Bewegung erstarkt. Bewegungen, die sich explizit gegen Solidarität gestellt haben. Gerade dadurch haben sie viel politisches Kapital aufgebaut. Es war eine Mischung aus Solidarität und Hass, wobei der Hass grösser war. Die Solidarität hingegen ist schnell verflogen.

Zur Person

Zur Person

Marko Ković ist Sozialwissenschaftler und beschäftigt sich im weitesten Sinne mit gesellschaftlichen Wandel. Sein Interesse gilt der Gesellschaftskritik. Er macht sich Gedanken, wie die Gesellschaft funktioniert und wie sie funktionieren sollte. Kovic schreibt selbst Beiträge für Medien und doziert an der Hochschule für Berufstätige Kalaidos.

Heute findet der Westen ziemlich geschlossen: «Wir schaffen das!» Es scheint keinen Hass zu geben, nur Solidarität. Warum?

Es dürfte mehrere Gründe geben. Aus der psychologischen Forschung weiss man, dass es in unserem Kopf eine Verzerrung gibt, wonach wir ernster nehmen, was uns geografisch näher ist. Wenn ein Kind im Teich vor unserem Haus ertrinkt, helfen wir selbstverständlich, während uns das Kind in Zimbabwe egal ist. Das ist natürlich völlig irrational, aber wir können Distanz nun mal nicht gut verarbeiten. 

Hat es auch damit zu tun, dass keine Männer kommen, nur Frauen und Kinder?

Der spielt auf jeden Fall eine Rolle. Das Bild der Hilfsbedürftigkeit ist ein anderes. Demnach brauchen junge, fitte Männer keine Hilfe, während Frauen und Kindern ganz stereotyp zuerst geholfen werden muss. Relevanter ist aber Xenophobie und Rassismus. 

Xenophobie und Rassismus gegenüber Geflüchteten?

Ja, ich kann es nicht anders sagen. Das haben wir gegenüber den Asylsuchenden aus Afghanistan erlebt, nachdem die afghanische Regierung implodiert ist und die Taliban heuer an die Macht gekommen sind. Ich interpretiere die ersten Reaktionen der EU und der Schweiz so, dass sie ja nicht die «Fehler» aus der Flüchtlingskrise 2015 wiederholen wollen.

Die Fehler, sich mit Menschen zu solidarisieren und sie hier aufzunehmen?

Ja, es ist absurd. Und nicht erklärbar durch Faktoren wie Geschlecht, denn die Afghanistan-Krise hat Frauen und Männer gleichermassen getroffen. Man wollte diese Menschen ganz einfach nicht, weil sie nicht in das Schema passen von Menschen, die Hilfe verdienen. Das finde ich sehr problematisch.

Wie sieht das Schema eines Menschen, der Hilfe verdient, denn aus?

Weiss und christlich.

«Wir können Emotionen nur begrenzt aushalten. Wir können nicht die ganze Zeit schockiert sein.»

Marko Ković, Sozialwissenschaftler

Auch in der Corona-Pandemie gab es anfangs eine grosse Solidarität gegenüber den älteren Menschen: Wann und warum kippte die Solidarität? 

Das ist ein guter Vergleich. Wir haben in der Corona-Pandemie etwas Ähnliches erlebt wie jetzt, ähnliche psychologische Mechanismen. Da ist einerseits die Habituation, der Gewöhnungseffekt. Anfangs war man geschockt, doch mit der Zeit findet man alles nicht mehr so schlimm. Das ist ein Schutzmechanismus, wir können Emotionen nur begrenzt aushalten. Wir können nicht die ganze Zeit schockiert sein.

Paradoxerweise hat die Solidarität mit den steigenden Opferzahlen abgenommen.

Ja, das ist das Phänomen der psychologischen Abstumpfung. Ein alter Spruch beschreibt es gut: Ein Todesfall ist eine Tragödie, tausend Todesfälle sind eine Statistik. Wir sind darauf geeicht, dass wir mit hunderten von Menschen auf der Intensivstation weniger anfangen können als mit einem einzigen. Am Anfang der Pandemie standen mehr Einzelschicksale, diese packen uns mehr. Kommt hinzu, dass die Medien über die Krise nicht immer nur schlau berichtet haben.

Wie meinen Sie das?

Die Menschen waren mit der Berichterstattung überfordert. Es kam zur sogenannten Compassion Fatigue, eine Art Mitgefühls-Müdigkeit, einem Burnout ähnlich.

Betreiben Sie jetzt Medien-Bashing? Die Nachfrage nach Journalismus war da – die Zugriffs- und Abozahlen stiegen.

(lacht) Nein, das wäre unfair, auch für Medienschaffenden war die Pandemie eine einmalige Erfahrung. Aber ich bin dennoch der Meinung, dass der Live-Ticker, der nie abgebrochen hat, in Kombination mit den Spekulationen, die nicht immer auf wissenschaftlichen Fakten beruhten, dass da zu wenig fokussiert wurde seitens der Medien. Die Leser*innen wurden mit Informationen regelrecht eingedeckt.

Aber auch politische Akteur*innen haben die Krise bewirtschaftet.

Die SVP als politische Kraft, aber auch die ganzen massnahmenkritischen Bewegungen haben sich aktiv gegen die Solidarität mit den Risikogruppen gestellt, das war perfide. Das Leid der Menschen wurde nicht nur in Kauf genommen, sondern für legitim erklärt. Ein unschönes Menschenbild.

«Es geht nicht um Verzerrung, sondern darum, Einzelfälle rauszupicken, die das Bild tatsächlich darstellen.»

Marko Ković, Sozialwissenschaftler

Warum kippt Solidarität ganz allgemein?

Die Halbwertszeit spontaner Empathie ist kurz. Laut der Forschung kippt Solidarität nach weniger als einem Monat.

Aufgrund von Einzelfällen wie punktuelle Konflikte in Gastfamilien? 

Absolut! Wir Menschen sind nun mal nicht gut darin, in statistischen Daten zu denken, aber wir können uns im Einzelfall empören. Nach dieser Logik funktionieren auch die Medien; der Skandal wird bewusst gesucht, gibt er doch am meisten Klicks. Dabei könnte man auch über Positives berichten, ja man sollte sogar. Denn diese Art von Berichterstattung baut Empathie und damit Solidarität zusätzlich ab. Solche Berichte in der BaZ oder in der Weltwoche dienen der Stimmungsmache.

Die SVP wartet also nur darauf, dass die Stimmung kippt?

Die SVP wartet nicht nur darauf, sie ist seit Kriegsausbruch sogar aktiv daran, die Stimmung zu kippen. 

Aber die SVP hat doch ebenfalls kommuniziert, man müsse den Kriegsgeflüchteten helfen.

Von Beginn weg haben Exponent*innen der Partei die Aufnahme von Geflüchteten zwar gutgeheissen, das Leid wurde aber gleich relativiert und die angebotene Hilfe verklausuliert. Es sollte schnell klar werden: Wir wollen die Menschen so schnell wie möglich wieder loswerden. Als rechtspopulistische Partei ist das Teil ihrer Strategie, die sie seit der Syrien-Krise sehr erfolgreich fährt.

Sie haben den Wunsch nach positiverem Journalismus geäussert. Läuft man da nicht Gefahr zu verzerren? Schliesslich berichten die Medien auch fleissig über alles Positive rund um die Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten.

Es geht nicht um Verzerrung, sondern darum, Einzelfälle und persönliche Schicksale rauszupicken, die statistisch aussagekräftig sind und das Bild tatsächlich darstellen. Dies ist sowohl journalistisch als auch ethisch wichtig. 

Um die Solidarität aufrecht zu erhalten?

Dafür müssten die Medien auch aufhören, über Spekulationen wie Eskalationen und einen möglichen Atomkrieg zu berichten. Ansonsten brennen die Leser*innen aus und wenden sich vom Thema ab.

«Wir müssen uns in die Pflicht nehmen, nicht mehr nur das Bauchgefühl walten lassen, sondern auch unseren Kopf.»

Marko Ković, Sozialwissenschaftler

Was sagen Sie zum Framing? 

Das Framing, wie ein Artikel aufgezogen wird, ist wichtig. Fragt man zum Beispiel «Gibt es Konflikte bei Geflüchteten, die aufgenommen werden?», so bleibt einem das Negative hängen, selbst wenn die Geschichte eine positive sein sollte. Selbst wenn man über Negatives berichtet, lohnt es sich zum Schluss auch den positiven Aspekt rauszustreichen.

Ihnen wird von Rechten vorgeworfen, Ihre linksideologische Weltsicht der Realität unterzuordnen, nachdem Sie SVP-Fraktionspräsident Thomas Aeschi für seine rassistische Aussage über mögliche Vergewaltigungen durch Nigerianer oder Iraker mit ukrainischen Pässen kritisiert haben –- lassen Sie solche Angriffe kalt?

Ich teile aus und kann auch einstecken, das ist kein Problem. Aber mich stören die Angriffe ad hominem, das Schiessen gegen meine Person, statt gegen die von mir geäusserten Inhalte. Auch das ist rhetorische Trickserei, um Stimmung zu machen.

Was sind für Sie die gesellschaftlichen Learnings aus früheren Krisen, um eine Solidarität mit Geflüchteten möglichst lange aufrecht zu erhalten?

Ich möchte hier zwei Vorschläge formulieren: Den ersten Punkt haben wir bereits besprochen, da geht es um eine positivere Berichterstattung. Der zweite Punkt betrifft uns alle: In der Psychologie unterscheidet man zwischen zwei Formen von Empathie, der affektiven und der kognitiven. Bisher hatten wir mit den ukrainischen Kriegsopfern nach dem ersten Schock und dem unmittelbaren Mitleiden affektive Empathie. 

Also ein Bauchgefühl. Was bedeutet kognitive Empathie?

Das würde bedeuten, sich rational bewusst zu machen, warum die Situation für die Menschen katastrophal ist, warum die humanitäre Krise grösser wird und warum wir jetzt eben gerade noch viel empathischer und solidarischer sein müssen als am Anfang. Wir müssen uns in die Pflicht nehmen, nicht mehr nur das Bauchgefühl walten lassen, sondern auch unseren Kopf. Wir müssen uns zwingen, darüber nachzudenken.

Wir haken nach.

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