Kopiert!

Gleichstellung für alle

«Männer profitieren vom Überwinden des Patriarchats genauso wie Frauen»

Laut Grossrat Johannes Sieber (GLP) ist die kantonale Gleichstellungsarbeit zu sehr auf heterosexuelle Cis-Frauen ausgerichtet. Diskriminierung lasse sich nicht so einfach zwischen «Frau» und «Mann» aushandeln, selbst wenn sämtliche Statistiken das zu belegen versuchten.

04/19/21, 02:35 AM

Aktualisiert 05/31/21, 09:31 AM

Kopiert!
Johannes Sieber wünscht sich einen Feminismus, der schwule Männer miteinbezieht.

Johannes Sieber wünscht sich einen Feminismus, der schwule Männer miteinbezieht. (Foto: Lucia Hunziker)

Bajour gibt es erst seit ein bisschen mehr als einem Jahr. Doch seit Tag eins haben wir ihn regelmässig in unserer Inbox: Johannes Sieber. Seine Nachrichten gehen häufig in dieselbe Richtung; Sieber kritisiert, die feministische Politik drehe sich nur um die Rechte von Frauen. Und daran seien auch die Medien schuld. «Warum berichtet Bajour nicht darüber, dass schwule Männer diskriminiert werden?»

Also gut, dachten wir uns. Reden wir darüber.

Zur Person

Zur Person

Der Kulturunternehmer Johannes Sieber engagiert sich seit 15 Jahren mit GayBasel für die Sichtbarkeit der queeren Kultur in der Region Basel. Seit Februar sitzt er in der Grünliberalen Fraktion des Grosses Rats.

Johannes Sieber, Sie haben Probleme mit dem aktuellen feministischen Diskurs. Was stört Sie daran?

Er ist vor allem auf heterosexuelle Cis-Frauen*** ausgerichtet. Persönlich stört mich, dass die Perspektive des schwulen Mannes keinen Platz findet.

Wie meinen Sie das?

Das patriarchale Gefüge unterdrückt schwule Männer genauso wie Frauen. Gleichstellung und Diskriminierung lassen sich nicht so einfach zwischen «Frau» und «Mann» aushandeln, selbst wenn sämtliche Statistiken uns das zu belegen versuchen.

Verstehe ich Sie richtig: Sie werden nicht unterdrückt, weil Sie schwul sind. Sie gelten einfach nicht als vollwertiger Mann?

Ich werde auf der Strasse nicht angepöbelt, weil ich mit meinem Partner Händchen halte, sondern weil wir damit nicht dem gängigen Bild von heterosexueller, muskulöser Alpha-Männlichkeit entsprechen. Das macht uns zum Freiwild für verbale oder physische Gewalt. Wer nicht diesem Männlichkeitsbild entspricht, kommt drunter oder stösst schnell an die gläserne Decke.

Im Job?

Und auch in der Politik: Offen schwul lebende Männer sind selten in Führungspositionen, sie sind keine Regierungsräte oder Bundesräte. Die gläserne Decke existiert auch für sie. Der Quotendiskurs der aktuellen Gleichstellungspolitik greift viel zu kurz. Auf wessen Kosten sollen denn Frauen in Führungsgremien gehievt werden? Wohl nicht auf Kosten der rücksichtslosen Alphamänner. Wir brauchen hier einen diverseren Ansatz.

Der ehemalige FDP-Nationalrat Daniel Stolz ist schwul, der ehemalige Baselbieter Nationalrat Claude Janiak ebenso. Es gibt mehrere schwule Journalisten in Führungspositionen.

Erfreuliche Ausnahmen. Es finden sich auch schon länger vereinzelt Frauen in Führungsgremien und trotzdem sind wir uns alle einig, dass diesbezüglich Handlungsbedarf besteht. Es gibt eine gläserne Decke für schwule Männer. Nur leider keine Studien dazu.

Ist das Feministinnen nicht bewusst?

Ich bin jetzt 46. Das Patriarchat hat mir mein Leben lang signalisiert, dass schwule Männer keine richtigen Männer seien. Und nun werden schwule Männer im Gleichstellungsdiskurs mit Hetero-Cis-Männer*** in eine Schublade gesteckt. Da stimmt doch etwas nicht.

Cis-Personen

Als Cis-Mann/Cis-Frau werden diejenigen Menschen bezeichnet, deren Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.

Werden Sie konkret: Wer steckt Sie in eine Schublade?

Es gibt Gleichstellungspolitikerinnen in Basel, die – zurecht – hochsensibel und auch medienwirksam auf verbale Diskriminierung reagieren, gleichzeitig aber gegenüber schwulen Grossratskandidaten verlauten lassen, es gäbe genügend Männer im Parlament. Wenn es also darum geht, sich mit queerer Politik zu profilieren, gibt Frau sich schwulenfreundlich. Geht es aber um den persönlichen Vorteil, sind schwule Männer dann halt doch einfach nur Männer und damit übervertreten.

Michela Seggiani (SP) und Tonja Zürcher (BastA!) fordern, dass Männer weniger reden im Grossen Rat – und Frauen mehr. Unterstützen Sie das Begehren?

Das ist ein gutes Beispiel für Gleichstellungspolitik, die nicht über das gängige Frau/Mann-Schema hinaus gedacht ist. Es ist spannend, die Redezeit von Frauen und Männern im Grossen Rat zu analysieren. Aber halt nicht genau genug. Warum nicht einfach die Redezeit aller Ratsmitglieder unabhängig vom Geschlecht untersuchen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind unter jenen, die wenig reden, auch zahlreiche Männer. Wenn der Vorstoss Gerechtigkeit will, sollten auch sie gefördert werden. Es wurde nicht allen Männern eine grosse Klappe anerzogen.

«Wir wollen niemandem etwas wegnehmen»

«Wir wollen niemandem etwas wegnehmen»

Die beiden Grossrätinnen Michela Seggiani (SP) und Tonja Zürcher (BastA!) fordern gendergerechte Redeanteile im Grossen Rat. Bedeutet das, künftig haben Männer im Basler Parlament weniger zu sagen? Wir haben das die beiden beiden Politikerinnen gefragt.

Zum Artikel

Männer haben noch immer die politische und ökonomische Macht. Das ist schon zahlreich untersucht und statistisch untermauert worden.

Das stimmt. Doch wo sind die Studien, die Lohnunterschiede, Karrierechancen und Altersarmut in Bezug auf schwule Männer untersuchten? Es gibt sie nicht. Zudem ist es kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander: Der Hinweis auf Handlungsbedarf für schwule Männer ist eben genau kein Argument gegen den Handlungsbedarf für Frauen. Beides ist angezeigt. Ein Beispiel ist die häusliche Gewalt.

72 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sind Frauen.

Letzten Frühling erlebte ein Freund von mir häusliche Gewalt durch seinen Partner. Auf dem Polizeiposten musste er sich anhören: «Sie werden doch Mann genug sein, um sich zu wehren.» Er wurde nicht verstanden.

Hat die Polizei ihm nicht geglaubt?

Die Sensibilisierung für das Thema fehlt. Die Polizei ist nicht darauf vorbereitet, dass auch Männer Opfer von häuslicher Gewalt sein können. Häusliche Gewalt wird noch immer vor allem mit Frauen als Opfer konnotiert. Das ist ein Problem.

Das liegt aber auch daran, dass Frauen deutlich häufiger betroffen sind.

Das sagt vielleicht die Statistik. Und selbst wenn dem so ist, es spielt doch überhaupt keine Rolle. Alle Opfer häuslicher Gewalt erleben dasselbe Schicksal, das es zu verhindern gilt. Es ist schlimm, egal ob das Opfer ein Mann oder eine Frau ist. Ob hetero oder homo. Ich verstehe nicht, warum nicht mehr darüber gesprochen wird, dass Männer Opfer von häuslicher Gewalt werden. Übrigens zeigen die neusten Zahlen des SECO, dass nicht nur 56% der Frauen, sondern auch 49% der Männer schonmal sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erleben mussten. Haben Sie bei Bajour schonmal über sexuell belästigte Männer am Arbeitsplatz geschrieben?

«Gleichgeschlechtliche Paare, die sich in der Öffentlichkeit zu erkennen geben, müssen mit Diskriminierung rechnen oder mit physischer Gewalt. Unabhängig von ihrem Geschlecht. Auch in Basel.»

Wir wollten mal mit Männern und Frauen über Sexismus sprechen: Es meldeten sich zahlreiche Frauen, kaum Männer. Aber was ist mit homosexuellen Frauen? Lesbische Frauen kritisieren immer wieder, sie seien im Vergleich zu schwulen Männern in der Öffentlichkeit unsichtbar.

Schwule und Lesben sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Aber ja, warum führt Bajour dieses Interview nicht mit einer lesbischen Frau?

Weil Sie es waren, der uns regelmässig schrieb, wir würden zu wenig über schwule Männer berichten. Von einer Frau bekamen wir bislang keine solche Nachricht.

Lesben sind aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert und aufgrund ihres Frauseins, Schwule aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer Art, Mann zu sein. Ein Mann, der nicht dem patriarchalen Mannsbild entspricht, der fällt halt auf und kann sich nicht verstecken.

Das klingt ein bisschen abstrakt. Werden Sie konkret, bitte.

Die quirlige Tunte, der filigrane Mann, der «feminine» Mann. Er fällt auf. Das ist der, der lieber bei den Mädchen steht in der Pause, der den Ball nicht fangen kann und nicht im Fussballverein ist. Das muss noch nicht mal mit seiner sexuellen Orientierung zu tun haben, der wird auf dem Pausenplatz als «schwule Sau»’ beschimpft, bevor Sexualität überhaupt ein Thema ist. Diese Männer stehen eher in der Kritik des Patriarchats, als lesbische Frauen.

Warum?

Weil sie gesehen werden. Die lesbische Frau wird weniger gesehen. Das ist kein Vorteil, aber das ist ein Unterschied.

Lesbische Paare erleben doch genauso Diskriminierung in der Öffentlichkeit – und zwar weil sie gesehen werden.

Das stimmt. Gleichgeschlechtliche Paare, die sich in der Öffentlichkeit zu erkennen geben, müssen mit Diskriminierung rechnen oder mit physischer Gewalt. Unabhängig von ihrem Geschlecht. Auch in Basel.

«Ich finde es schlimm, dass ein schwuler Mann die fünfmal höhere Wahrscheinlichkeit hat, Selbstmord zu begehen, und dass der Kanton Basel-Stadt diesbezüglich noch keinen Finger gekrümmt hat.»

Ist wirklich alles so schlimm mit dem Feminismus? Früher hatte er nur weisse Akademikerinnen im Blick. Mittlerweile geht es auch um Migrant*innen, Transpersonen … das ganze Spektrum, nicht?

Ja, ich finde es schlimm, dass ein schwuler Mann die fünfmal höhere Wahrscheinlichkeit hat, Selbstmord zu begehen, und dass der Kanton Basel-Stadt diesbezüglich noch keinen Finger gekrümmt hat. Und ja, es ist schlimm, wenn schwule Jugendliche von ihrem religiösen Umfeld zu Konversionstherapien genötigt werden. Letzteres wollen Grossrätin Michela Seggiani und ich jetzt auch mit einer Motion verbieten.

In Ihrem Blogbeitrag schrieben Sie, dass die Abteilung für Gleichstellung überfordert sei mit Männeranliegen und Anliegen aus der LGBTIQ-Community.

Die Abteilung für Gleichstellung ist für die Gleichstellung von Frauen und Männer zuständig. Nun steht aber nirgends im Gleichstellungsgesetz, dass diese Frauen und Männer heterosexuell sein müssen. Also entweder werden auf der Abteilung Lesben und Schwule nicht als Frauen und Männer verstanden, oder sie stehen da sonst irgendwie auf der Leitung. Ich habe dazu eine Interpellation eingereicht und eine unbefriedigende Antwort erhalten. Im April werde ich noch mit Regierungsratspräsident Beat Jans (SP) ein bisschen Schimpfis machen müssen deswegen.

Was müsste die Abteilung für Gleichstellung denn anders machen?

Warum setzt sie sich nicht mit Männerbildern auseinander, die nicht dem patriarchalen Gedöns entsprechen? Sie sollten vermitteln, dass es ok ist, als Junge keine grossen Muskeln zu haben, dass es wichtig ist, dass man Frauen nicht blöd anmacht und unterdrückt – Bubenarbeit halt. Dass es als Mann ok ist, keine Karriere zu machen, zu Hause zu bleiben. Das wird nicht thematisiert.

Genug vom Gedöns?

Vor ein paar Jahren gab es eine Ausstellung zum Thema Vatersein, die Abteilung Gleichstellung organisierte ein Podium dazu.

Da passiert zu wenig. Männer profitieren vom Überwinden des Patriarchats genauso wie Frauen.

Nicht alle Männer sehen das so.

Stimmt und das ist ja auch eine gute Frage: Warum nicht? Warum arbeitet man nicht daran, dass das alle Männer sehen? Vielleicht müsste man die Strategie ändern?

Wie denn?

Ein Beispiel: Ein schwuler Mann, 65. Als er jung war, war Homosexualität ein No-Go. Ein Leben lang musste er seine Sexualität verstecken, leidet vielleicht deswegen unter psychischen Problemen. Und heute gilt er als alter weisser Mann, als Feindbild der ganzen Bewegung. Der versteht das doch überhaupt nicht. Ich habe deswegen schon liebe Freunde durch Selbstmord verloren, weil sie ihr Schicksal nicht handeln konnten. Warum setzt man sich nicht mit Menschen wie ihm auseinander und sagt: Hier haben wir ein Problem, darüber sollten wir reden.

«Es ist kein Geheimnis, dass ich politisch im linksliberalen Spektrum der GLP zu verorten bin und in einigen Fragen mit der SP ganz gut kann.»

Sie waren einst Mitglied der SP. Seit Februar aber sind Sie GLP-Grossrat. Warum der Parteiwechsel?

Mitglied war ich nicht, aber tatsächlich war ich als Sympathisant etwa zwei Jahre in der Sachgruppe Gleichstellung der SP aktiv, wurde dort aber nicht glücklich. Die SP ist bezüglich Gleichstellung zerrissen.

Zerrissen?

Da sind die Alt-Feministinnen, die – verdienstvoll – das Frauenstimmrecht erkämpft hatten und ihren Männern erfolgreich das schweigende Abnicken beibrachten, weshalb diese sich nur noch hinter vorgehaltener Hand kritisch äussern. Beide sind herausgefordert von der queeren Jugend, die nicht nur den Kapitalismus und das Patriarchat, sondern auch die Geschlechterpolarität überwinden will. Letzteres ist mir zwar irgendwie sympathisch, aber zu abstrakt. Ich möchte Konkretes bewegen.

Bei der GLP bietet sich dafür mehr Spielraum?

Die Grünliberale Partei macht konkrete Sachpolitik, ohne sich an ideologischen Konstrukten aufzuhalten. Das entspricht mir. Zudem ist 100% Gleichstellung ein Schwerpunkt der GLP. Die «Ehe für Alle» geht auf einen Vorstoss von der Grünliberalen Kathrin Bertschy zurück. Diesen Monat verlangte die Basler GLP-Nationalrätin Katja Christ die Legalisierung der Eizellenspende in der Schweiz. Und die GLP-Grossrät*innen stehen auch geschlossen hinter einer Anlaufstelle für LGBTIQ-Personen in Basel. Aber ja, es ist kein Geheimnis, dass ich politisch im linksliberalen Spektrum der GLP zu verorten bin und in einigen Fragen mit der SP ganz gut kann.

Ich will euch auch meine Meinung geigen.

Die Frauenquote für Uniprofessuren hat die GLP abgelehnt, Gratis-Kitas ebenfalls. Was machen Sie konkret für die Gleichstellung, ausser Journalist*innen den Feminismus zu erklären?

Die Geschlechter-Quote ist nicht nur in der GLP eine umstrittene Gleichstellungsmassnahme und bezüglich Gratis-Kitas ist in Basel-Stadt das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ich habe noch keine 950 Vorstösse geschrieben, wie andere Ratskollegen. Die erwähnte Interpellation bezüglich dem Fokus der kantonalen Gleichstellungsarbeit und die Motion zum Verbot der Konversionstherapien sind mal ein Anfang. Neben Gleichstellung ist für mich – berufsbedingt – die Kulturpolitik ein Schwerpunkt und weil ich aus einem Lehrerhaushalt komme und mit der Universität Basel verbunden bin, auch die Bildungspolitik. Zudem ist Anni Lanz meine Tante. Ich bin also familiär einer guten Flüchtlingspolitik verpflichtet.

Ist die GLP bereit für diese Art von Politik?

Sie haben recht, ich werde bei der GLP gewisse Diskussionen führen müssen, die ich in der SP nicht führen müsste. Aber: Darauf habe ich Lust. Ich will nicht in einer Partei sein, in der man sich schon im Vornherein einig ist. Ich mag die Herausforderung, mich mit Menschen auseinanderzusetzen, die vielleicht eine andere Meinung vertreten, aber gute Argumente dafür haben. So kommt man nämlich weiter.

Wird geladen