«Wir wollen niemandem etwas wegnehmen»
Die beiden Grossrätinnen Tonja Zürcher (BastA!) und Michela Seggiani (SP) fordern gendergerechte Redeanteile im Grossen Rat. Bedeutet das, künftig haben Männer im Basler Parlament weniger zu sagen? Wir haben mit den beiden Politikerinnen geredet.
Am 19. November 2020 haben SP-Grossrätin Michela Seggiani und Tonja Zürcher, Grossrätin der BastA!, gemeinsam einen Anzug eingereicht. Darin halten sie fest, dass sie während drei Grossratssitzungen festgestellt haben, dass Grossrätinnen anteilsmässig viel weniger reden als ihre männlichen Ratskollegen. Deshalb fordern sie das Grossratsbüro zum Handeln auf.
Warum reden Frauen weniger lang im Grossen Rat? Haben sie weniger zu sagen als Männer?
Michela Seggiani: Nein. Aber es gibt in Sitzungen des Grossen Rates sehr oft die Aussagen: «Es wurde zwar schon gesagt aber...». Oder: «Ich möchte mich kurz fassen», was in der Regel dann eben nicht passiert. Und diese Sätze kommen meistens von Männern.
Warum machen Männer das?
Seggiani: Frauen haben in der Regel weniger das Bedürfnis, etwas zu wiederholen, das sowieso schon dreimal gesagt wurde. Aufgrund ihrer Sozialisierung fassen sie sich eher kurz. Im Sinne von: Wenn man mir zuhört, dann muss es das wert sein. Dann muss ich klar formulieren, um was es geht. Wiederholungen haben da keinen Platz.
Sozialisierung heisst: Weil Mädchen und Frauen eher dazu erzogen werden, sich so zu verhalten. Aber wäre es dann nicht besser, Frauen zu ermutigen, zu sprechen, anstatt Männern einen «Maulkorb» zu verpassen?
Seggiani: Doch, auf jeden Fall. Aber das sollte sich nicht ausschliessen. Dieser Anzug ist ein Aufruf, Frauen zuzuhören und den Männern nicht selbstverständlich so viel Platz zu geben. Dieser Aufruf geht an alle Geschlechter. Frauen können selbst aktiv werden und sich mehr melden. Aber ich glaube nicht, dass es zielführend ist, wenn Frauen es den Männern gleich machen und auch unendlich lange reden und Dinge wiederholen.
Wie bringt man die Männer dazu, weniger zu reden?
Seggiani: Eine Idee, um die knappe Redezeit von Frauen zu erhöhen ist, dass die Fraktionen die Themen vor der Sitzung unter sich geschlechtergerecht aufteilen. Natürlich wäre das keine Pflicht, aber eine Anregung.
Machen die linken Parteien das?
Seggiani: Das Fraktionspräsidium ist sensibilisiert darauf.
Tonja Zürcher: Im Grün-Alternativen Bündnis sind wir gerade daran zu schauen, wie wir bei der Verteilung der Fraktionsvoten noch bewusster auf die Diversität achten können.
Meinen Sie, die SVP würde da mitmachen?
Seggiani: Das weiss ich nicht. Aber auch die SVP hat eloquente Frauen wie zum Beispiel Gianna Hablützel oder Daniela Stumpf. Wahrscheinlich wäre es auch in der SVP ein Vorteil, wenn Frauen mehr sagen würden.
Apropos Gianna Hablützel: Die SVP-Grossrätin hat sich vor kurzem in einem Tweet über Ratskollegin Jo Vergeat ausgelassen, nachdem diese offen auf Social Media über ihre Menstruation geredet hat.
Seggiani: Ein gutes Beispiel dafür, zu zeigen, dass es nicht nur eine Art von Frauen gibt. Gianna Hablützel möchte sicher nicht, dass ich für sie rede und umgekehrt möchte ich auch nicht, dass sie für mich spricht. Aber wie beim Vorstoss von Tonja Zürcher und mir ist auch dort eine Diskussion entstanden. Und das ist gut. Die vielen extremen Reaktionen auf Social Media gegenüber Jo Vergeat finde ich zu hart. Sie veröffentlicht etwas Intimes und wird dafür fertiggemacht. Ich wünschte mir einen respektvolleren Umgang in den Sozialen Medien, auch – oder gerade – wenn man sich uneinig ist. Hoffentlich nützt der Post wenigstens etwas, so dass wir in Zukunft über die Periode sprechen können, ohne dass eine andere Frau sagt, das sei peinlich.
Wird der höhere Frauenanteil im neuen Parlament das Problem nicht automatisch lösen?
Zürcher: Ich glaube nicht. Es ist zwar toll, das die Anzahl Frauen im Grossen Rat zugenommen hat – auch wenn wir im Vergleich zur Stadt Bern immer noch hinterherhinken. Aber das Problem, dass Grossrätinnen anteilsmässig weniger Redezeit haben als Grossräte, verschwindet nicht automatisch, wenn die Anzahl Parlamentarierinnen zunimmt. Ich habe vor kurzem eine Studie gefunden. Dort hatte man festgestellt, dass in einem Gremium, in dem 30% Frauen vertreten sind, beziehungsweise sie 30% der Redezeit einnehmen, die Öffentlichkeit das als 50% wahrnimmt.
Was? Und da sagt man immer, die Frauen würden zu viel reden.
Zürcher: Ja. Und wenn tatsächlich 50% Frauen in einem Gremium vertreten sind, geht die Öffentlichkeit davon aus, das es im Gremium mehr Frauen als Männer hat. Dann kommt die Rückkopplung, dass man den Frauen mehr oder weniger subtil zu verstehen gibt, dass sie weniger reden sollen. Auch im Grossen Rat wird Frauen vorgeworfen, zu viel zu reden und das, obwohl die männlichen Kollegen davor ellenlang geredet haben.
Das ist wirklich passiert?
Beide: Ja
Wer war das denn?
Zürcher: Das spielt keine Rolle.
Seggiani: Auch wenn das jetzt etwas ketzerisch tönt; aber eine geschlechtergerecht aufgeteilte Redezeit kann hypothetisch auch den Männern zugutekommen. Wir sagen ja nicht, dass Frauen mehr reden sollen als Männer, sondern dass die Geschlechter gleich viel Redezeit haben.
Sie fordern, dass das Ratsbüro misst, wie lang Frauen und Männer reden. Welche Ergebnisse erwarten Sie von der Überprüfung des Ratbüros?
Seggiani: Zunächst erwarte ich, dass das Ratsbüro berichtet, wie viel Aufwand die Überprüfung der Redezeit macht. Schliesslich haben Tonja Zürcher und ich die Redezeit nur an drei Ratssitzungen gemessen. Um herauszufinden, ob Frauen an Grossratssitzungen tatsächlich weniger reden als Männer, müssen mehr Sitzungen ausgewertet werden.
Ist das nicht extrem aufwändig?
Seggiani: Genau das möchten wir wissen. Muss das Ratsbüro dafür nur eine Maschine aufstellen oder ist das mit einem grösseren Aufwand verbunden? Wenn das Ratsbüro zum Schluss kommt, dass es für die Überprüfung eine neue Stelle bräuchte, müsste man das nicht einrichten.
Zürcher: Ich habe gelesen, dass ein kantonales Parlament ein System hat, das einzelne Voten der jeweiligen Person zuordnet. Im Nachhinein kann man die Voten mittels Stichworten durchsuchen. Ich kann mir vorstellen, dass die Einrichtung dieses Systems recht aufwändig war. Es würde aber die im Anzug geforderte Transparenz schaffen. Als Nebeneffekt wäre eine Geschlechterzuordnung möglich und das System könnte Redezeiten analysieren.
Und was würde das kosten?
Zürcher: Das muss das Ratsbüro bei einer Überweisung des Anzugs prüfen.
Und was soll das Ratsbüro machen, wenn tatsächlich ein Ungleichgewicht bei den Redezeiten der Geschlechter vorliegt?
Seggiani: Darauf aufmerksam machen. Man kann zum Beispiel Voten nach dem Reissverschlussprinzip erteilen (also bei vielen Meldungen jeweils Frau/Mann abwechselnd). Es kann aber auch an die Fraktionen delegiert werden, dass sie darauf achten, dass die Voten geschlechtergerecht aufgeteilt werden. Dies aber als Empfehlung.
«Politik wird vielschichtiger, wenn fairer geredet wird.»Michela Seggiani, Grossrätin SP Basel-Stadt
Was verändert sich an der Politik des Grossen Rates, wenn Frauen mehr und fairer Redezeit bekommen?
Zürcher: Eine Möglichkeit; das Themen zur Sprache kommen, die sonst nicht zur Sprache kommen würden. Aber mir geht es bei dem Anzug eher um die Wirkung nach aussen. Wenn Frauen weniger reden, wird das auch von der Öffentlichkeit so wahrgenommen. Dann sind sie die Minderheit, das Spezielle. Und Männer sind die Norm.
Männer sind normal, Frauen sind speziell?
Zürcher: So wird es wahrgenommen. Politik ist heute noch stark männlich dominiert. Gesprächszeit geschlechtergerecht aufzuteilen, kann einen Wahrnehmungswandel der Öffentlichkeit herbeiführen. Vielleicht finden so mehr Frauen den Weg in die Politik.
Also dient der Anzug auch zur Stärkung des Vorbildes der Politikerin?
Seggiani: Ja. Und die Politik wird auch vielschichtiger, wenn fairer geredet wird. Es ändert sich etwas in der Repräsentation. Natürlich sollen aber nicht nur Frauen öfter zu Wort kommen. Das Geschlecht soll nur ein Kriterium sein. Andere Kriterien müssten Berufsbranche, Bildungsniveau oder Wohnort sein. Der Grosse Rat sollte die Bevölkerung möglichst genau abbilden, auch in der Redezeit.
Sie schreiben im Anzug, dass es sowieso schon lange geht, bis Traktanden abgearbeitet werden können. Heisst das umgekehrt: Männer verlangsamen den Betrieb, Frauen sind effizienter?
Seggiani: Das demokratische System ist per se langsam. Und das ist auch wichtig. Gewisse Themen brauchen Zeit. Dass wir in der Schweiz eine direkte Demokratie haben, ist ein grosses Glück. Dem zu Lasten fällt leider oft die Geschwindigkeit. Die langen Voten von Politiker*innen, sind ein Teil dieser Langsamkeit.
Zürcher: Der Grund, weshalb wir das geschrieben haben, ist, dass wir immer wieder zu hören bekommen haben: «Wenn Frauen wollen, dass Frauen mehr reden, dann sollen sie selber länger und mehr reden». Was die Abarbeitung eines Traktandums noch zusätzlich verlängern würde. Statt Frauen zu empfehlen, mehr zu reden, kann man Männern empfehlen, weniger zu reden. Auf gewisse Voten kann man verzichten. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil sie nur wiederholen, was bereits gesagt wurde.
Seggiani: Genau. Ausserdem gibt es, glaube ich, in fast jeder Fraktion die Situation, dass man vorher abgemacht hat, dass eine Frau das Votum im Namen der Fraktion für ein gewisses Traktandum hält. Anschliessend meldet sich dann aber für ein Einzelvotum nochmal ein Mann aus der Fraktion und wiederholt das, was die Frau schon gesagt hat. Das ist nervig und unnötig. Es untergräbt immer wieder die Kompetenzen der Frauen.
Machen das auch Männer aus der BastA! und der SP?
Zürcher: Zum Glück nur selten.
«Ein gewisser Teil in der Gesellschaft, klein aber laut, ist nicht bereit, die Gleichstellung weiterzubringen.»Tonja Zürcher, Grossrätin BastA!
Ist das, was Sie machen, nicht Symbolpolitik? Wäre es nicht sinnvoller, Sie würden sich für höhere Löhne etc. einsetzen?
Zürcher: Als ich vorhin gesagt habe, das die Wirkung nach aussen wichtig sei, meinte ich damit nicht Symbolpolitik. Ich wollte damit sagen, dass dieser Anzug auch eine Wirkung nach aussen hat, die nicht zu unterschätzen ist. Gleichstellungsfragen werden schnell als Symbolpolitik abgetan. Sie hätten nichts mit der Realität zu tun. Und das stimmt einfach nicht. Gleichstellung ist ein wichtiges Thema, das auch im Grossen Rat behandelt werden sollte.
Aber man könnte ja sagen, statt über Redezeiten sollte man lieber über Frauenlöhne reden, da geht es auch um Gleichstellung, aber eben ums Eingemachte.
Zürcher: Oft kommt das Argument, dass wir Politiker*innen uns jetzt lieber um die Probleme in Zusammenhang mit dem Coronavirus kümmern sollten. Es stimmt, dass wir diese Probleme behandeln müssen und das tun wir auch. Aber seit Corona haben wir uns nicht ausschliesslich nur um das gekümmert, nicht im ersten Lockdown und auch nicht jetzt. Und das ist auch gut so, denn die Gesellschaft, die Politik muss weiter gehen und damit auch die Gleichstellung.
Seggiani: Dazu möchte ich zwei Stichworte nennen: Schrottauto und Überflutung von E-Scootern. Das sind zwei Traktanden, die wir im Januar besprechen. Bei diesen Themen würde niemandem in den Sinn kommen zu sagen: «Haben wir nichts Wichtigeres zu behandeln?» Über solche Themen können wir stundenlang reden. Aber sobald das Thema Gleichstellung aufkommt, stellen sich einige quer. Ja, zum Teil sind es «first world problems» die wir behandeln, aber Gleichstellung gehört nicht dazu. Gleichstellung ist für mich eines der wichtigsten und existenziellsten Themen, weil es einen grossen Teil unserer Realität widerspiegelt. Wenn junge Frauen sehen, dass im Grossen Rat auch viele Politikerinnen etwas zu sagen haben und nicht gleich heruntergeputzt werden, wenn sie das Maul aufmachen, dann trauen sie sich vielleicht, später selber in die Politik zu gehen.
Was sind aktuell die wichtigsten Probleme punkto Gleichstellung in Basel?
Zürcher: Es ist schwierig, das allgemein gültig zu sagen. Eine Frau, die unter häuslicher Gewalt leidet, sieht den fehlenden Platz in Frauenhäusern als grösstes Problem. Eine Frau, die weniger verdient als ihre Kollegen, sieht die Lohndiskriminierung als grösstes Problem. Übergeordnet kann man sagen: Frauen sind in vielen Bereichen Männern nicht gleichgestellt – das betrifft zum Beispiel die Altersarmut, von der Frauen stärker betroffen sind als Männer. Aber auch die Repräsentanz in der Wirtschaft oder in der Politik, dort sind nach wie vor viel mehr Männer als Frauen vertreten. Und es betrifft natürlich auch den Sexismus, da weiss ich gar nicht, wo ich anfangen soll.
Der Anzug hat hohe Wellen geschlagen. Haben Sie mit so vielen Reaktionen gerechnet?
Seggiani: Dass wir so angegriffen wurden, hat mich überrascht. Wir wollen niemandem etwas wegnehmen, sondern möchten die Gleichstellung voranbringen. Aber die Reaktionen zeigen, dass wir in ein Wespennest gestochen haben. Es gibt tatsächlich ein Problem. Also bringen wir es auf den Tisch und diskutieren darüber. Die persönlichen Angriffe finde ich unnötig. Ich wünsche mir eine andere, konstruktivere Form des Austausches.
Zürcher: Wenn schon eine Periode einen Shitstorm verursacht, zeigt das, dass ein gewisser Teil in der Gesellschaft, klein aber laut, nicht bereit ist, die Gleichstellung weiterzubringen, das finde ich besorgniserregend.