Alevtinas Flucht aus Mariupol

Täglich erreichen Eugenia Senik Nachrichten aus dem Krieg. Die ukrainische Autorin hört dann zu und dokumentiert. Das ist die Geschichte von Alevtina, die mit ihrer Familie zu Fuss aus Mariupol flüchtete. Teil 1

Alevtina
Alevtina lebte in Mariupol. Als die Stadt immer und immer wieder bombardiert wurde, entschied sie sich zur Flucht. (Bild: zvg)

Alevtina kannte ich vorher nicht und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie je im Leben persönlich treffen werde. Ich kenne nur ihre Stimme. Maryna, von der ich letzte Woche erzählt habe, sagte mir, ich müsse unbedingt mit ihrer guten Freundin aus Mariupol sprechen.

«Sie und ihre Familie sind aus Mariupol zu Fuss geflohen. Du musst ihre Geschichte weitergeben. Ich gebe dir ihre Kontakte.»

Seitdem war es die schwierigste Aufgabe für mich, Alevtina zu erreichen. Im Krieg läuft die Zeit ganz anders. Man kann nicht einfach so am nächsten Tag oder sogar am selben Abend abmachen. Sie wechselte die Orte, hatte neue Herausforderungen, musste sich an die neuen Umstände anpassen, was unser Gespräch immer wieder verschoben hatte.

Es schien mir, viel schwieriger zu sein, uns im gleichen Zeitraum zu treffen, als Alevtina in der Schwerelosigkeit fangen zu können. Wenn es aber endlich klappte, sass ich einfach schweigend da und hörte ihr zu.

Eugenia Senik
Zur Autorin

Eugenia Senik (35) ist eine ukrainische Autorin. Seit August 2021 lebt sie in der Schweiz. Aufgewachsen ist sie im Osten der Ukraine, in Luhansk. Für ihr Studium zog es sie nach Basel, wo sie Literaturwissenschaften im Master studiert.

Es gibt eine Therapiemethode, bei der eine Person, die traumatische Erfahrungen erlebt hat, an den Zeitpunkt des Traumas zurück geht und erzählt, was mit ihr passiert ist. Sie muss sich unbedingt sicher fühlen und vom Zuhörer ernst genommen werden. Ihre Gefühle und Schmerzen darf man auf keinen Fall abwerten.

Normalerweise spielt diese Rolle ein*e Psychologe*in, aber jetzt habe ich gemerkt, dass auch die Journalist*innen und Schriftsteller*innen, die darüber schreiben und diese schrecklichen Geschichten hören, teilweise diese Funktion erfüllen. Je öfter eine Person über ihr Trauma erzählt, desto schneller kann sie sich besser fühlen. Ich behalte es immer im Kopf. Und mit diesem Gedanken lass ich Alevtina ihre Geschichte erzählen, wie sie sie fühlt und mir erzählen wollte.

Meine Aufgabe war es nur ihr zuzuhören und ihren Schmerzen freien Raum zu geben. Ich schwieg und sie begann zu sprechen.

Alevtina
Ein Bild aus glücklicheren Zeiten: Alevtina und ihre Familie. (Bild: zvg)

«Ich bin Ingenieurin der metallurgischen Produktion von Beruf, aber seit sechs Jahre arbeite ich als Journalistin im Fernsehen. Es war mein grösster Traum. Ich erzähle über das Kulturleben in Mariupol und über Sehenswürdigkeiten, die wir in unserer Stadt haben. Ich meine, die wir noch vor kurzem hatten…»

«Wo sind Sie jetzt? Ist ihre Familie bei Ihnen?»

«Gott sei Dank, bin ich gerade mit meiner Familie in Kryvyi Rih. Es ist nur 435 Kilometer von Mariupol entfernt. Ich will aber nicht weiter weg fahren. Nicht in die Westukraine und gar nicht ins Ausland. Wir warten, bis die Russen Mariupol in Ruhe lassen und dann wollen wir sofort nach Hause zurück.

Ich fühle eine doppelte Kraftlosigkeit. Einerseits kann ich diese schreckliche Situation in Mariupol nicht ändern und andererseits kann ich die Menschen in Russland nicht überzeugen, dass diese Hölle tatsächlich in meiner Heimatstadt und in der Ukraine passiert. Ich schicke ihnen Bilder, die ich selber gemacht habe, erzähle das, was ich erlebte und sie antworten immer wieder, dass es nicht stimmt oder, dass die Ukraine selbst ihre Städte bombardiert. Es macht mich so wütend und so ratlos. Wie können sie uns nicht glauben?»

Alevtina
Alevtina dokumentiert die bedrückende Szenerie in ihrer Heimat. (Bild: zvg)

Sie schwieg eine Weile und dann fuhr sie wieder fort.

«Ich möchte Ihnen aber erzählen, wie wir es geschafft haben aus Mariupol zu fliehen. Und ich bitte Sie den anderen Menschen diese Information weiter zu geben. Es ist sehr wichtig für mich. Es ist wichtig für uns und für alle, die noch in Mariupol sind.

Mein Mann und ich hatten eine schöne Wohnung ganz im Zentrum und nur 150 Meter vom Theater entfernt gemietet. Ja, dieses Theater, das vor kurzem mit den Menschen, die dort eine gewisse Sicherheit gefunden hatten, bombardiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren wir aber nicht in dieser Wohnung. Mit der Invasion sind wir zu meinen Eltern in den westlichen Stadtteil gezogen, weil es dort am sichersten war. Die Eltern von meinem Mann sind dann in unsere Wohnung im Zentrum eingezogen, weil ihr Stadtteil im Osten von Mariupol die meisten Angriffe erleiden musste.

Wir machten uns aber Sorgen um meine Grossmutter, die allein im Süden der Stadt geblieben ist. Weil wir keine Verbindung hatten, wussten wir nicht, ob sie noch lebt und was ist bei ihr überhaupt passiert. Mein Mann ist dann 18 Kilometer zu Fuss gegangen, um sie zu Besuchen und ihr einige Produkte zu bringen. Zum Glück lebte sie noch und ihr ging es gewissermassen gut.»

Alevtina
Da waren sie noch zusammen: Alevtina mit ihrer Grossmutter. (Bild: zvg)

«Ich wollte noch sagen, dass ich einen kleinen Bruder habe. Am 24. Februar ist er zwölf geworden. So einen schrecklichen Geburtstag hatte er erlebt. Wir waren aber seitdem alle zusammen bei meinen Eltern.

Am 8. März haben die Russen das Dorf Nikolske eingenommen. Sie haben dabei den westlichen Stadtteil beschossen, wo wir zu der Zeit waren. In der Wohnung ist das Fenster zersprungen und auch die Heizung wurde zerstört. Wir alle haben im Flur geschlafen und seit dem 24. Februar konnten wir unsere Kleider nicht wechseln.

Da wir die Kälte nicht mehr aushalten konnten, sind wir zu Fuss in unsere Wohnung ins Zentrum gegangen. Das Zentrum wurde damals noch nicht bombardiert. Als wir angekommen sind, ging es am nächsten Tag gleich mit den ersten Flugzeugangriffen los.»

Podcast Eugenia Break
Eugenias Tagebuch als Podcast

Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat die ukrainische Autorin, Eugenia Senik, ihre Gedanken bei Bajour aufgeschrieben. Ihre Sorgen, Ängste und Hoffnungen kannst du nun auch als Podcast hören. Eugenia hat die Texte selber eingesprochen.

Hören

«Wir haben die Krater gesehen, die die Bomben hinterliessen. Sie waren riesig. Wir haben sofort verstanden, dass so eine Bombe ein Haus komplett zerstören kann. Am 16. März hatte eine solche Bombe unseren Hauseingang getroffen und dabei viele von unseren Nachbarn getötet. Mein Mann hat geholfen die Leichen im Hof neben dem Haus zu begraben. Wir sahen es als Zeichen, dass wir einen neuen Ort finden mussten, wo wir uns in Sicherheit bringen konnten. Aber alle Bunker in der unmittelbaren Nähe waren schon voll.

Man hat uns also einen Keller in einem Laden angeboten und so sind wir alle dorthin umstationiert. Dort war unsere ganze Familie. Insgesamt waren wir neun Person in einem Keller, der vielleicht nicht grösser als 12 Quadratmeter war. Die Erwachsenen mussten sitzend schlafen, weil es keinen Platz gab.

Mit der Zeit haben wir aber gemerkt, dass es auch dort nicht mehr sicher war. Die Wohnhäuser um uns wurden bombardiert. Nirgendwo in der Stadt war es sicher. Wir mussten einfach weg. Es gab keine geplante Evakuierung und niemand konnte uns sagen, ob und wann eine überhaupt stattfinden wird. Deswegen haben wir uns am 16. März entschieden aus Mariupol zu flüchten. Wir werden zu Fuss die Stadt dem Meer entlang verlassen.

Alevtina
Zerstörung überall: Die zerbombten Wohnhäuser bei Mariupol. (Bild: zvg)

Wir waren nur zu sechst. Mein Mann und ich, unser 8-jähriger Sohn, meine Schwiegereltern und auch die Grossmutter meines Mannes. Meine Mutter ist krank und es ist sehr schwierig für sie, zu gehen. Sie hätte es nicht geschafft. Mein Vater und mein zwölfjähriger Bruder wollten mit ihr in diesem Keller bleiben, damit sie nicht alleine ist. Sie haben uns aber gesagt, dass wir uns retten müssen.

Es war sehr schwierig für mich, sie alle dort zu lassen. Ich habe eine starke Verbindung mit meiner Familie und überhaupt mit dieser Stadt. Ich will nirgendwo anders leben ausser in Mariupol. Aber andererseits bin ich auch für meinen Sohn verantwortlich. Ich hatte keine Wahl, ich musste diese Entscheidung treffen, weil wir dort nicht mehr bleiben konnten.»

Alevtina
«Wir haben gelernt, bis zwölf zu zählen. Zwölf Schüsse, dann gibt es eine Pause.»

Wie Alevtinas Geschichte weitergeht, kannst du hier lesen.

Weiter zu Teil 2

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