Alle schauen zu, niemand sieht hin
Im klassischen Ballett läuft einiges gehörig falsch. Das Publikum ist Teil des Problems. Ein Kommentar.
Viele der ehemaligen Schüler*innen, mit denen wir für die Recherche zur Ballettschule Theater Basel (BTB) gesprochen haben, sagen, sie hätten nach ihren Erfahrungen an der BTB nie wieder Fuss in eine Ballettaufführung gesetzt. Alles, was auf der Bühne präsentiert werde, die ganze Schönheit, Magie und Perfektion, komme mit einem Preis. «Es kann noch so eine tolle Vorstellung sein», sagte mir eine Protagonistin, «ich weiss, was dahintersteckt. Dieses System kann ich nicht mehr unterstützen.»
Sie verglich Ballerinas mit einem Tanzbären, der mit der Kette am Fuss in die Arena gestellt wird. Die Direktorin der Ballettschule wies die Missbrauchsvorwürfe der 33 ehemaligen Schüler*innen von sich. Mittlerweile wurde sie freigestellt, wie das SRF Regionaljournal Basel berichtet. Der Vorstand hat eine unabhängige Untersuchung angekündigt.
Schülerinnen der Ballettschule Theater Basel berichten von jahrelangem Missbrauch. Die Behörden unternahmen wenig. Wie kann das sein? Lies hier die gemeinsame Recherche mit der «NZZ am Sonntag».
Tanz ist etwas Wunderbares. Menschen dabei zuzusehen, wie sie nur mit ihren Körpern Kunst erschaffen: Atemberaubend. Doch wo endet Kunst und wo beginnt Missbrauch? Was und wen sind wir bereit, für unseren Kunstgenuss zu opfern?
Die erhobenen Vorwürfe sind kein Basler Problem. Auch in Zürich und Bern wurden dieses Jahr ähnliche Fälle aufgedeckt. Entsprechend gross ist die Entrüstung. Zum Beispiel in Mails, die uns Leser*innen geschickt haben. Darin empören sie sich, wie man das Publikum «an der Nase herumgeführt» habe. Diese Zauberwelt aus Tüll und Tütüs – alles nur grausames, mit Steuergeldern mitfinanziertes Theater. Der Unmut ist nachvollziehbar, aber geht nicht weit genug. Denn er folgt derselben Logik wie die Erklärungsversuche jener Verantwortlichen, mit denen wir geredet haben.
Lieber dem Kind seinen Traum nicht zerstören, sagen die Eltern. Besser drinbleiben und eine Schulter zum Weinen bieten, als draussen sein und gar nichts unternehmen können, sagen ehemalige Lehrpersonen. Strukturen schaffen, sagt der Branchenverband. Abmahnen, sagen die Behörden. Niemand sagt: Ja, wir haben weggeschaut. Vielleicht auch Sie, liebe Leser*innen.
Denn wer (wie es ein Publikum zu tun pflegt) wirklich hinschaut, der sieht es. Magere Körper, erzwungene Lächeln. Jede*r kennt die Bilder von blutigen Zehen und blau angelaufenen Füssen. Spitzentanz, so die gängige Meinung, sei hart, aber gehöre zum klassischen Ballett nunmal dazu. Keine Perfektion ohne Leidensdruck. Eine Gleichung, die nicht nur der innere Kreis Tag für Tag fraglos in Kauf nimmt, sondern auch das Publikum mit seinen Theaterbesuchen unterstützt. Sie alle tragen dieses kranke Gerüst mit.
Was ist deine Meinung? Ist es Zeit, dass man Spitzensport wie Ballett verbietet? Sollten wir als Publikum solche Aufführungen nicht mehr besuchen? Diskutiere unten in den Kommentaren mit oder schreibe uns eine Mail an [email protected].
Ein System lässt sich nur ändern, wenn alle ihre Rolle darin anerkennen. Es reicht nicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, denn gäbe es klar umrissene Schuldtragende, wäre es kein System. Alle, die in irgendeiner Form klassisches Ballett konsumieren, tragen ihren Teil dazu bei, dass es in der Form bestehen bleibt. Und alle Konsument*innen können sich dafür einsetzen, dass sich etwas ändert.
In diesem Fall bedeutet das: Hören Sie auf, sich den Tanzbären anzuschauen. Erkennen Sie an, dass jene scheinbare Perfektion, die auch Sie als Zuschauer*innen verlangen, mit teils tragischen Schicksalen verbunden ist. Heben Sie klassisches Ballett vom Sockel der Hochkultur. Besuchen Sie keine Vorstellungen mehr, zumindest nicht, bis in der Schweiz klare Strukturen zum Schutz von jungen Balletttänzer*innen geschaffen wurden. Und sei sie noch so wunderbar: Die Kunst darf nicht vor dem Menschen kommen.
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