«Alles ein schlechter Traum»
Julia Matjash hatte ein gutes Leben mit ihrer Familie in der Ukraine. Bis der Krieg ausbrach. Protokoll einer unglaublichen Flucht.
Sie heisst Julia Matjash, ist 39 Jahre alt, Unternehmerin, Mitinhaberin und Leiterin einer digitalen Agentur, Marketingspezialistin. Mit ihrem Sohn (14) und einigen Bekannten gelang ihr die Flucht aus der Ukraine – teilweise unter russischem Beschuss. Jetzt wohnt sie in Basel. Wir publizieren hier eine leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie am Gymnasium Leonhard hielt. Ein Zeitdokument.
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Bis zum 24. Februar habe ich ein aktives, interessantes und erfülltes Leben geführt. Nach meinem Abschluss an der Kiewer Polytechnischen Universität habe ich geheiratet, einen Sohn zur Welt gebracht und zusammen mit meinem Mann unser eigenes Webstudio gegründet und aufgebaut.
Wir sind viel um die Welt gereist und haben mehr als 25 Länder besucht. Barcelona, Bali, New York, Tel Aviv, Sri Lanka ... All diese Orte sind wunderbar, aber ich wollte immer nach Kiew zurückkehren, wo mein Zuhause, meine Familie, meine Freunde und mein Geschäft sind. Alle meine Interessen lagen in der Ukraine. Wir haben digitale Lösungen für den öffentlichen Sektor entwickelt, um die Kultur und die touristischen Attraktionen der Ukraine bekannt zu machen.
Ich hatte nie vor, irgendwohin zu ziehen.
Im Januar, als über den Krieg gesprochen wurde, kam mir das alles wie völliger Unsinn vor.
Wir dachten: «Welcher Krieg? Wovon redet ihr?»
«Wir hofften, dass alles schnell vorbei sein würde. Denn alles erschien uns wie eine Art Provokation.»Julia Matjash
Doch Mitte Februar hatte ich ein ungutes Gefühl. Um die Sorgen zu verringern, haben mein Mann und ich begonnen, das zu tun, was wir beeinflussen konnten: Gehälter an unsere Angestellten zahlen, Auftragnehmer bezahlen, Bargeld vom Konto abheben, ein Auto überprüfen und Benzin tanken. Notkoffer bereitstellen, Dokumente, Geld, warme Kleidung, Energieriegel, Taschenlampe und Powerbank einpacken.
Das war der 24. Februar
Am Abend des 23. Februar trafen mein Mann und ich uns mit Freunden in einer Bar, assen zu Abend und scherzten darüber, «wie man im Krieg überlebt». Wir amüsierten uns gut und kehrten nach Mitternacht nach Hause zurück und gingen ins Bett. Wir schliefen ein paar Stunden lang.
Um 5 Uhr morgens am 24. Februar klingelte das Handy. Es war meine Mutter, sie sagte, dass es in der ganzen Ukraine Raketenangriffe gab, ein Krieg hatte begonnen. Zuerst dachte ich: «Ich schlafe und es ist ein schlechter Traum.» Dann ging ich zum Fenster und schaute auf die Strasse. In unserem Hof packten die Nachbarn schnell ihre Sachen in ihre Autos und fuhren weg. Die Strassen waren voll mit Autos, überall gab es Staus.
Nach dem ersten Schock beruhigten wir uns und entscheiden, zu Hause zu bleiben, in unserer Wohnung in Kiew. Sobald der Supermarkt öffnete, kauften wir weitere Lebensmittel und Wasser, überprüften die Tiefgarage, in die wir im Falle von Luftangriffen hinuntergehen konnten.
Wir arbeiteten den ganzen Tag lang, stellten einige Websites fertig, ich bereitete sogar einen neuen Vertrag vor, und gleichzeitig informierten wir uns über die Nachrichten, riefen Familie und Freunde an. Wir hofften, dass alles schnell vorbei sein würde. Denn alles erschien uns wie eine Art Provokation.
So verging der erste Tag
In der nächsten Nacht begannen die Russen, Wohnhäuser mit Raketen zu beschiessen. Als ich die brennenden Wohnungen sah, wurde mir klar, dass wir die Stadt so schnell wie möglich verlassen mussten. Deshalb zogen wir am zweiten Tag in unser Landhaus, 40 Kilometer westlich von Kiew. Dort waren meine Eltern und die Frau meines Bruders mit meinem Neffen.
Am dritten Tag des Krieges (am 26. Februar) kamen russische Militärkonvois in unser Dorf. Sie kamen aus dem Norden von Weissrussland, um Kiew zu umzingeln. Sie errichteten Kontrollpunkte in unserem Dorf. In 700 Metern Entfernung von unserem Haus errichteten sie einen Reparaturstützpunkt und ein Munitionsdepot.
So sind wir in die Besetzung hineingeraten.
Der Strom in der Gegend wurde durch den Beschuss beschädigt, und die Mobilfunknetze waren gestört. Wir waren also ohne Internet, Strom und somit auch ohne Wasser.
Alle paar Stunden stellte der Feind seine Raketenkomplexe in den Höfen zwischen den Gebäuden auf und schoss Raketen in Richtung Kiew ab. Unser Haus bebte von diesen Geräuschen und wir gingen immer wieder in den Keller.
Manchmal flogen unsere Kampfflugzeuge ein und bombardierten feindliche Fahrzeuge auf den Feldern. Unser Haus zitterte.
Zwischen dem Beschuss kochten wir Essen (zum Glück waren die Gasleitungen nicht beschädigt, so dass das Haus warm war und der Küchenherd funktionierte), putzten, wuschen und spielten mit den Kindern, um sie zu beruhigen. Wir zählten die Anzahl der feindlichen Fahrzeuge auf dem Feld vor unserem Haus, und wenn für kurze Zeit Kommunikation aufkam, schickten wir die Daten und Koordinaten über einen speziellen Chatbot an die ukrainischen Streitkräfte.
Aber es wurde von Tag zu Tag schwieriger. Die Produkte gingen zur Neige, und man konnte sie nirgendwo kaufen. Es war gefährlich, nach draussen zu gehen, weil die russischen Soldaten ohne Vorwarnung schossen. Sie hatten bereits viele Menschen getötet und alle Autos, die versuchten, das Dorf zu verlassen, schossen sie ab. Jeden Tag gab es im Viber-Chat des Dorfes Nachrichten, dass sie Häuser ausrauben und Menschen zum Verhör mitnehmen. Die ukrainischen Streitkräfte waren im Begriff, die Gebiete zu befreien, und uns war klar, dass die Überlebenschancen erheblich sinken würden, wenn die Kämpfe in unserem Dorf begannen.
Also beschlossen wir zu fliehen.
Die Flucht
Der 7. März war ruhig. Die russischen Angreifer bereiteten sich darauf vor, zurückzuschlagen. Wir haben gehört, dass Konvois von zehn oder mehr Autos eher durchgelassen werden. Deshalb sprachen wir mit den Nachbarn und sagten, dass wir bereit seien, zu gehen. Wir hatten drei Autos in unserer Familie und acht Nachbarautos schlossen sich uns an.
Wir klebten Buchstaben mit dem Wort «Kinder» an die Windschutzscheibe, bastelten weisse Fahnen, packten Sachen, Lebensmittel und Wasser ein und fuhren los. Autos ohne Kinder fuhren am Anfang und am Ende des Konvois. Alle Autos mit Kindern waren in der Mitte.
Es gibt drei Ausgänge aus unserem Dorf. Zwei davon waren durch verbranntes militärisches Gerät, zerschossene Autos und Strassensperren mit Panzern und Soldaten versperrt. Eine Strasse, etwa fünf Kilometer lang, führte mitten durch das Feld und war frei, da sie sowohl von den russischen Besatzern als auch von den Streitkräften der Ukraine komplett zerschossen war. Wir beschlossen, via diese zu fliehen.
Da half nur noch rasen
Wir fuhren sehr schnell. Das wirbelte Staub, denn die Strasse war mit dem Dreck der militärischen Ausrüstung bedeckt. Fast am Ende der Strasse fingen die Russen an, aus Maschinengewehren auf uns zu schiessen. Es war sehr beängstigend, und das Einzige, was uns blieb, war, schnell zu fahren und zu beten.
Wir hatten Glück, alle Autos verliessen die Besatzungszone unbeschädigt. Als wir unsere Soldaten sahen, waren wir so glücklich, dass wir sie alle umarmen wollten.
Danach brauchten wir zwei Tage bis zum Dorf Kobolchyn nahe der Grenze zu Rumänien. An den Tankstellen gab es kein Benzin, aber wir hatten einen Kanister mit 20 Litern Benzin, und so kamen alle drei Autos erfolgreich an.
Unsere Grossmutter wartete im Dorf auf uns, und wir verbrachten dort den nächsten Monat, vom 9. März bis zum 4. April. Wir begannen uns daran zu gewöhnen, ohne Explosionen zu schlafen. Mein Mann und ich versuchten, Arbeit zu finden, sprachen mit dem Team und handelten neue Projekte aus. Aber wir merkten bald, dass der Krieg nicht so schnell zu Ende sein würde. Unser 13-jähriger Sohn muss studieren, und wir müssen neue Kunden aus dem Ausland finden, um die Gehälter des Teams zu bezahlen.
Zu dieser Zeit begannen zwei meiner Freunde, die seit Langem in der Schweiz leben – der eine in Laufen, der andere in Allschwil – mich zu überreden, hierher zu kommen. Die Schweiz hatte gerade ihre Grenzen für Ukrainer geöffnet und ein Förderprogramm aufgelegt. Ich überlegte eine Woche lang und entschied mich, mit meinem Sohn nach Basel zu gehen. Mein Mann beschloss, nach Kiew zurückzukehren.
Ankunft in der Schweiz
Am 4. April packte ich also meine Sachen ins Auto und fuhr mit meinem Sohn in die Schweiz. Wir legten 2000 Kilometer zurück, übernachteten in Krakau und Prag und kamen am 6. April in Basel an.
Wir lebten drei Monate lang in einer Familie mit einer grandiosen Frau, Josephine, und ihren beiden Söhnen. Mein Sohn besuchte die Sekundarschule De Wette und trainierte in der Basketballschule Allschwil. Er fand Freunde in der ukrainischen Gemeinschaft und unter den Klassenkameraden. Im April und Mai reisten wir durch die Schweiz, besuchten Zürich, Luzern, Bern, Thun, Genf, Lausanne und Zermatt. Wir machten mehrere Wanderungen und verliebten uns in die Schweiz.
Jetzt sind wir in unsere eigene Wohnung gezogen, ich arbeite weiter in meiner Firma, treffe meine Freundinnen, baue mein Netzwerk in der Schweiz auf, besuche Deutschkurse und treibe Sport. Vor ein paar Monaten haben mein Mann und ich uns nach 20 gemeinsamen Jahren scheiden lassen. Da wurde mir klar, dass ich in der Schweiz bleiben und mir hier ein neues Leben aufbauen möchte. Jetzt bin ich eine alleinerziehende Mutter.
Ich möchte in der Schweiz ein eigenes Unternehmen gründen. Ich möchte auch, dass mein Sohn Deutsch lernt und hier in der Schweiz eine höhere Ausbildung macht.
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