Andrea Sulzer: «Von Dance Battles kann die Politik noch einiges lernen»
Am 12. Februar sind Landratswahlen. Bajour pickt aus jeder Partei eine*n spannende*n Kandidat*in raus. Heute mit Andrea Sulzer von den Grünen. Als Gemeinderätin muss sie die Finanzen von Waldenburg sanieren – als Landrätin will sie sich für ein Stimmrecht für Unter-18-Jährige stark machen.
Name: Andrea Sulzer
Alter: 51
Beruf: Abteilungsleiterin Bildung/Freizeit/Kultur (tz) bei der Gemeinde Pratteln
Wohnort: Waldenburg
Wahlkreis: Waldenburg
Liste: Grüne (Liste 7)
Andrea Sulzer, Sie haben lange für die Caritas gearbeitet. Wären Sie mit Ihrer soziokulturellen Expertise nicht bei der SP besser aufgehoben als bei den Grünen?
Es stimmt, dass ich mit meiner Expertise bei der SP gut aufgehoben wäre. Meine ersten politischen Prägungen waren soziale und Gleichstellungsfragen – dass Christiane Brunner nicht in den Bundesrat gewählt wurde, dass das System sie quasi nicht zuliess, hat mich damals aufgerüttelt. Aber: Ich war 15 bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und es hat sich damals wie der schwärzeste Tag meines Lebens angefühlt. Seitdem ist die Welt nicht nachhaltiger oder sicherer geworden. Nachhaltigkeit – egal ob im sozialen Bereich durch Bildung oder in der Natur – ist daher meine politische Leitlinie. Die Grünen gehen meiner Meinung nach dieses Thema am umfassendsten an.
Seit wenigen Monaten sind sie Finanzvorsteherin der finanziell maroden Gemeinde Waldenburg, sie wurde auch schon «Steuerhölle des Baselbiets» genannt. Das Budget zu sanieren, wird nicht einfach – haben Sie überhaupt die Zeit, sich den Landrats-Hut auch noch aufzusetzen?
Mein Sohn ist jetzt flügge, das gibt mir Raum für Neues. Aber wenn ich gewählt werde, werde ich meinen Anstellungsgrad bei der Gemeinde Pratteln reduzieren müssen. Die Gemeinde hat bereits signalisiert, dass das funktionieren könnte. Nach 13 Jahren als Abteilungsleiterin Bildung, Freizeit und Kultur wäre es für mich auch stimmig: Es wäre der richtige Schritt, jetzt auch auf einer neuen Bühne zu wirken.
Mit welchem Verkehrsmittel pendeln Sie zwischen Pratteln und Waldenburg?
Mit 18 hat es sich wie ein Verrat an meinen Prinzipien angefühlt, Autofahren zu lernen. Deshalb kann ich es bis heute nicht und fahre täglich öV: Zwei Stunden jeden Tag mit der S-Bahn und der Waldenburgerbahn (nach anfänglichen Problemen funktioniert sie jetzt deutlich besser). Der öV wurde zu meinem Lebensstil, er ist eine willkommene Pause oder gibt mir die Möglichkeit, noch ein paar Mails zu beantworten. Ich finde, er wird noch zu wenig gefördert. Gratis-öV sehe ich nicht als die Lösung, aber man muss mehr Anreize schaffen und die Angebote ausbauen.
«Für mich bedeutet ‹wirtschaftlich› nicht, dass nur wenige profitieren sollen, wie es bisher der Fall ist. Ich verstehe den Begriff so, dass das Gemeinwohl profitiert. Das ermöglichen wir durch Chancengleichheit.»Andrea Sulzer, Landratskandidatin Waldenburg
Kommen wir zu Ihren politischen Forderungen: Sie wollen die Demokratie weiterentwickeln und zum Beispiel Unter-18-Jährigen und Menschen ohne Schweizer Pass Stimmrecht auf Gemeindeebene geben. Kann man Demokratie verschenken, oder muss man sie sich verdienen?
Ich bin der Meinung: Alle, die in der Schweiz leben, gehören zur Schweiz. Wer hier geboren wird oder sich eine Weile hier aufhält, unsere Institutionen und politischen Instrumente kennt, muss sich Teilhabe nicht verdienen. Immer wieder merke ich, dass schon heute viele Leute nicht wissen, wie Wählen funktioniert, was kumulieren und panaschieren bedeutet. In einer Zeit, in der Demokratie auf der ganzen Welt unter Beschuss steht, müssen wir sie stärken. Demokratie ist aber nicht einfach ein Geschenk, sondern eine Verpflichtung.
Sie sagen, dass Sie «Innovation grün und wirtschaftlich» gestalten wollen. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?
Die Grünen sind sehr interessiert an Innovation, gerade wenn es um die Energiefrage geht – wir müssen aus der fossilen Energiegewinnung aussteigen, die bisherigen Quellen erneuerbarer Energie werden aber nicht ausreichen, um unseren Bedarf zu decken. Hier sind dringend neue Energieträger und -gewinnungsformen gefragt. Der steigende Bedarf an Energie ist jedoch gleichzeitig auch ein Problem in sich: Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist in seinem Wachstumsanspruch gefangen. Es benötigt immer mehr von allem, besonders von den natürlichen Ressourcen. Der Overshoot-Day – der Tag, an dem wir die natürlich nachwachsenden Ressourcen aufgebraucht haben ist in der Schweiz bereits im Mai. Hier brauchen wir dringend ein Umdenken. Wir können nicht immer mehr wollen.
Wachstumskritik ist sicher grün, aber ist sie auch wirtschaftlich?
Für mich bedeutet «wirtschaftlich» nicht, dass nur wenige profitieren sollen, wie es bisher der Fall ist. Ich verstehe den Begriff so, dass das Gemeinwohl profitiert. Das ermöglichen wir durch Chancengleichheit. Bildung ist eine der wenigen Ressourcen, die wir aktiv beeinflussen können. Wenn wir in frühe Sprachförderung investieren und allen Kindern einen guten Schulstart ermöglichen, führt das später zu mehr innovativen Entwicklungen.
«Unsere Klimaziele müssten so sportlich wie in Basel-Stadt sein. 2050 kann kein Ziel sein, das wäre der Worst Case.»Andrea Sulzer, Landratskandidatin Waldenburg
Welche Klimaschutzmassnahmen braucht der Kanton Baselland?
Was mir am meisten am Herzen liegt, ist ein verstärkter Fokus auf Biodiversität. Was uns mit dem Verlust der Artenvielfalt droht, ist noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen. Da braucht es noch viel mehr Sensibilisierungskampagnen.
Hat der Grüne Regierungsrat Isaac Reber das bislang versäumt?
Dank Isaac Reber haben wir eine Klimastrategie, die musste er ja auch im Regierungsrat durchboxen. Ich finde, dass unsere Klimaziele so sportlich wie in Basel-Stadt sein müssen. 2050 kann kein Ziel sein, das wäre der Worst Case. Das anzupacken und früher umzusetzen wird wesentlich für die nächste Legislatur.
Lange waren Sie ehrenamtliche Präsidentin der Breakdance-Akademie The Movement. Sollten politische Debatten als Dance Battles ausgetragen werden?
Der Spirit dieser Battles ist genial und wäre tatsächlich auch für Politik ein gutes Vorbild. In der Politik scheint vieles wie vorgefertigt. Ein bisschen mehr «Freestyle» würde gut tun: Die Tänzer*innen bereiten sich nicht mit einem Programm vor, sie fangen einfach an zu tanzen, spielen mit der Energie ihrer Gegenüber. Das ist alles sehr friedlich und zugleich kreativ und innovativ.
Bajour kürt täglich eine*n Basler*in des Tages. Baselbieter*innen mitgemeint. Wen würden Sie nominieren?
Viggy Kulasingam. Er ist ein Tausendsassa, Vorsitzender des Tamilischen Vereins Nordwestschweiz, hat ein Hilfswerk in Sri Lanka gegründet und organisiert das Event «Wir feiern zusammen», bei dem Tänzer*innen aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen. Ich weiss nicht, woher er die Energie nimmt – er hat immer ein Strahlen im Gesicht.
Darf ich noch ein Buch empfehlen?
Natürlich.
Zur Zeit lese ich «Weniger ist Mehr» von Jason Hickel. Es geht um die Zerstörung unseres Planeten durch Wachstum und Kapitalismus, wissenschaftlich untermauert aber auch anekdotisch und dadurch einfach verständlich. Auch wenn die düsteren Fakten dargelegt werden, ist es keine Weltuntergangslektüre. Denn es bestärkt darin, Möglichkeiten zu finden, dieses System zu unterbinden.