Baby Hussein darf seinen Papi nicht mehr sehen
Ein Vater wird aus der Schweiz geschickt, obwohl er hier Frau und Kleinkind hat. Laut Kolumnistin Anni Lanz verletzt das Ausländergesetz die Rechte von geflüchteten Kindern.
Einem Kind seinen geliebten Vater mit Gewalt entreissen oder vorenthalten, darf man das? Das ist zuweilen zulässig, wenn der Vater keinen Schweizer Pass hat, so jedenfalls befinden die Schweizer Gesetzgebenden. NGOs kritisieren die Praxis.
Ich treffe auf eine junge Familie im Besuchsraum des Basler Ausschaffungsgefängnisses. Die Eltern sind so um die zwanzig, beide sehr verliebt und der kaum halbjährige Hussein schlafend in den Armen seines Vaters. Die Vaterschaft ist unbestritten, das Kind wurde auf der Flucht gezeugt und in Basel geboren. Die Eheschliessung erfolgte nach muslimischem Recht. Da die Frau einen Flüchtlingspass des UNHCR besitzt, wurde sie in der Schweiz vorläufig aufgenommen.
Anni Lanz ist selbst ernannte Menschenrechtsaktivistin im Solinetz Basel. Seit fast 40 Jahren setzt sie sich für Geflüchtete und ihre Rechte ein. In ihrer Kolumne versucht sie ihnen eine öffentliche Stimme zu geben.
Der wissenschaftliche Sachbearbeiter vom SEM ging jedoch «nicht vom Vorliegen einer gültigen Ehe und aufgrund der kurzen Beziehungsdauer auch nicht vom Vorliegen einer gefestigten eheähnlichen Gemeinschaft aus» und ordnete die Ausweisung des Vaters nach Frankreich an, wie in der Zwischenverfügung des Bundesverwaltungsgericht steht, der junge Mann hatte – ohne Erfolg – Beschwerde eingereicht.
Die Familie sollte auseinandergerissen werden, weil der Vater sich in Frankreich aufgehalten hatte – gemäss Dublinrichtlinien muss ein Geflüchteter im ersten EU-Land um Asyl bitten, in dem er landet. Die Schweiz fällt in der Durchsetzung dieser Richtlinien meiner Meinung nach durch grosse Härte auf.
Für mich ist klar: Der junge Vater ist ein Fall für meinen Anwalt Guido Ehrler. Er wird nicht ruhen, bis die Familie friedlich und angstfrei zusammenleben kann. Das Basler Solinetz unterstützt ihn dabei.
Wir sind erfreut, neue Kolumnist*innen bei Bajour zu begrüssen. Die Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz schreibt monatlich über Anliegen von Geflüchteten. Und im Januar starten wir mit dem Format «Die Nationalrätin hat das Wort» und überlassen den Basler Vertreter*innen in Bern abwechselnd den Platz.
Im Ausschaffungsgefängnis erleben wir vom Basler Solinetz immer wieder dramatische Abschiedsszenen zwischen Kindern und ihren weggewiesenen Vätern. Die Kleinen können es nicht verstehen, weshalb ihr Vater sie für immer verlässt.
Es gibt in der Schweiz ein Recht auf Familie. Das gilt aber nicht für Eltern und Kinder, wenn der Vater keine Anwesenheitsbewilligung hat, aus der Schweiz weggewiesen ist oder wenn er sich in einem sogenannten Drittland befindet, es sei denn er habe ein sehr gutes Einkommen und sei nie straffällig geworden. Ich interpretiere das so: Die emotionale Bindung zwischen Vater und Kind kann zwar auch eine Rolle spielen, aber für den Staat ist das Geld wichtiger. Die Meinung des Kindes interessiert ihn aus meiner Erfahrung kaum je. Der Staat will offenbar das Risiko vermeiden, dass der Vater ihm auf der Tasche liegt.
Es gibt in der Schweiz ein Recht auf Familie. Das gilt aber nicht für alle.
Es gibt für jeden Aufenthaltsstatus spezielle familienrechtliche Bestimmungen im Ausländergesetz (AIG) in Art. 42-44 sowie Art. 85. Und im Asylbereich gibt es weiter einschränkende Bestimmungen.
Nur die Kernfamilie fällt bei den Drittstaatsangehörigen und Geflüchteten in Betracht. Was eine Familie ist und welche Rechte auf ein Zusammenleben damit verbunden sind, hängt de facto grundsätzlich von der hierarchischen Ordnung des Aufenthaltsstatus ab.
Nehmen wir zum Beispiel junge Flüchtende aus Afghanistan, die hier Angehörige haben. Wenn ihnen die Flucht zu Vater oder Mutter gelingt, werden sie in der Regel wieder abgeschoben, sobald sie volljährig sind – falls sie unser Land über einen Drittstaat erreicht haben. Dabei versteht es sich meiner Meinung nach von selbst, dass Flüchtende den Spuren ihrer Familienangehörigen folgen und von diesen weit besser und kostengünstiger betreut werden als von staatlichen Aufnahmestrukturen – falls sie in den Ländern, in die sie abgeschoben werden, überhaupt Obdach finden. Ich treffe sie völlig verzweifelt im Ausschaffungsgefängnis.
Der Schweizer Gesetzgeber hielt eine Wartezeit von drei Jahren für einen Familiennachzug von Elternteilen oder Kindern für angebracht.
Bis vor kurzem galt, dass Kinder mit einer vorläufigen Aufnahme (F-Bewilligung) drei Jahre warten mussten, bis der in der Ferne weilende Elternteil in die Schweiz einreisen konnte. Oder umgekehrt: bis die Eltern ihr im Ausland weilendes Kind nachziehen konnten. Der Schweizer Gesetzgeber hielt eine Wartezeit von drei Jahren für einen Familiennachzug von Elternteilen oder Kindern für angebracht (Art. 85, Abs. 7, AIG, Ausländergesetz).
Für unzählige Kinder bedeutete dies unsägliches Leid. Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte solch lange fixe Wartezeiten als unzulässig beurteilt, und das Bundesverwaltungsgericht musste seine Praxis – allerdings nur geringfügig – anpassen. Nach wie vor werden die Grundrechte der Kinder in der ausländerrechtlichen Praxis nach Meinung von Menschenrechtsaktivist*innen wie zum Beispiel der HEKS nur unzureichend respektiert. Damit sollen Zuzüge von Migranten vermieden werden.
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