Basel wird immer gefährlicher. Oder etwa nicht?
40 Prozent mehr Tötungsdelikte im ersten Halbjahr 2021: Dieses Bild zeichnen die neuen Zahlen der Basler Staatsanwaltschaft. Klingt schlimm? In absoluten Zahlen heisst das: zwei Fälle mehr als letztes Jahr.
Mio dio, die neue Halbjahresstatistik der Staatsanwaltschaft hat es in sich: «Im ersten Halbjahr ist eine Zunahme der Gesamtkriminalität um knapp elf Prozent feststellbar», schreibt die Behörde in einer Medienmitteilung. Und listet dann auf:
In Basel gab es 40 Prozent mehr Tötungsdelikte und Vergewaltigungen als im Vorjahr.
Dementsprechend fielen auch die Medienberichte aus. Alle, inklusive Bajour, schrieben von einer «Zunahme der Gewalt».
Da kann man glatt Angst bekommen.
So wie die SVP. Die Partei fürchtet: «Wer heute in der Stadt unterwegs ist, muss jederzeit Angst haben, dass er ausgeraubt, abgeschlagen, vergewaltigt oder getötet wird.» Denn: «Basel wird immer krimineller und gefährlicher.» Die SVP fordert deshalb «sicherheitspolitische Massnahmen», die sie nicht weiter definiert und mehr Polizist*innen.
Doch wie viel gefährlicher ist Basel denn wirklich geworden? Von wievielen Tötungsdelikte und Vergewaltigungen sprechen wir hier?
Unten in den Fussnoten der Stawa-Mitteilung stehen die absoluten Zahlen.
Wer schnell rechnet, merkt:
- 40 Prozent mehr Tötungsdelikte heisst: 2 Fälle mehr als letztes Jahr. Am Stichtag 30.06.2020 zählte die Stawa nämlich total 5 Fälle, dieses Jahr total 7 Fälle.
- 40 Prozent mehr Vergewaltigungen heisst: 5 Fälle mehr. 2020 zählte die Stawa insgesamt 10 Fälle, dieses Jahr 14 Fälle.
Natürlich: Jede Tötung, jede Vergewaltigung sind eine zu viel. Und die Kriminalitätsstatistik erfasst nur Anzeigen, die Dunkelziffer wird einiges höher sein.
Aber die Schlagzeile: «Zwei Tötungsdelikte mehr als im Vorjahr» klingt anders als «Tötungsdelikte + 40 %».
Im Boulevardjournalismus galt früher angeblich die Regel: Ein Ereignis ist ein Einzelfall, zwei sind ein Trend, drei sind eine Massenbewegung.
Stellt sich die Frage: Warum kommuniziert die Stawa, wie sie kommuniziert?
Folgende Fragen gehen an Sprecher Martin Schütz:
- Warum haben Sie sich bei der Kommunikation dafür entschieden, den Fokus auf die Prozentangaben zu legen?
- Würden Sie in diesem Fall von einer nüchternen, sachlichen Kommunikation sprechen?
- Warum sind die absoluten Zahlen (...) zuunterst als Fussnote aufgelistet?
- War Ihnen bewusst, dass die Prozentangaben wesentlich mehr Emotionen und politischen Zündstoff wecken könnten als die absoluten Zahlen?
Politik und Justiz sprechen in den letzten Jahren immer wieder vom «subjektiven Sicherheitsgefühl». Inwiefern kann die Stawa mit ihrer Kommunikation Einfluss auf dieses Gefühl nehmen?
Stawa-Sprecher Martin Schütz antwortet, kurz zusammgengefasst, die Stawa verfolge eine umsichtige Öffentlichkeitsarbeit. Die Halbjahresstatistik sei auf Wunsch der Medien entstanden. Es handelt sich dabei um eine interne Anzeigenstatistik, «quasi ein sich laufend nachgeführtes und sich so dauernd veränderndes ‹Rohmaterial›». Dies sei der Grund, weshalb die Stawa die prozentualen Veränderungen beibehalte. «Sie bilden den Trend ab – und um mehr geht es nicht.» Einzig bei Delikten mit tiefen Fallzahlen weise die Stawa seit je die absoluten Werte in Fussnoten aus, dies vor allem als Interpretationshilfe.
Andrea meint🤔: Hauptsache die SVP kann Massnahmen gegen die Angst ergreifen. Die ist nach dem Rechenwirrwar nicht nur gefühlt, sondern real. Auch ohne Interpretationshilfe.
Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt verfolgt eine umsichtige Öffentlichkeits- und Medienarbeit, die selbstverständlich auch die mögliche Rezeption bedenkt. Nicht zuletzt deshalb gehören wir zu jenen Staatsanwaltschaften, die sich in ihrer externen Kommunikation sehr eng an den gesetzlichen Rahmen – namentlich das Amts- und Untersuchungsgeheimnis sowie die weiteren Vorgaben des Strafprozessrechtes – und an kommunikationsethische Werte mit Blick etwa auf Persönlichkeitsschutz, Unschuldsvermutung oder die Gefahr von Vorverurteilungen halten.
Unsere aktive Medienarbeit ist stark geprägt von Zeugenaufrufen gemäss Art. 74 Abs. 1a der Schweizerischen Strafprozessordnung. Diese betreffen namentlich schwere Delikte, für deren Aufklärung wir uns Hinweise von Dritten erhoffen. Wenn sich Rezipientinnen und Rezipienten – und dazu zählen nicht zuletzt die für unsere Medienarbeit wichtigen Redaktionen, die ja nicht allein verbreiten, sondern auch einordnen – allein aufgrund dieser Zeugenaufrufe ein sicherheitspolitisches Bild machen wollen, entstehen Kurzschlüsse. Dessen sind wir uns selbstredend bewusst; die Alternative wäre jedoch der Verzicht auf ein wertvolles ermittlungstaktisches Instrument. Ich denke, dass dies nicht im Interesse einer erfolgreichen und so der öffentlichen Sicherheit dienenden Strafverfolgung sein kann.
In der Regel kritisieren (oder beklagen) Journalistinnen und Journalisten unsere zurückhaltende Praxis in der fallbezogenen Kommunikation. Ihre Anfrage deute ich nun umgekehrt, was mir aber die Möglichkeit gibt, den Ball zurückzuspielen. Entstanden sind unsere halbjährlichen Trendmeldungen nämlich einzig aufgrund des Wunsches der lokalen Medien – wissend, dass wir hier lediglich eine grobe Entwicklung bei ausgewählten, das Sicherheitsgefühl beeinflussenden Deliktsfeldern darstellen können. Die erstmals im August 2014 publizierte Halbjahres-Trendmeldung ist eine Momentaufnahme, die sich bis Ende Jahr noch deutlich verändern kann.
Aussagekräftige Daten für vertiefte Beschäftigung oder Mehrjahresvergleiche liefern einzig die Jahresberichte des Bundesamtes für Statistik zur Polizeilichen Kriminalstatistik. Ihnen zugrunde liegen schweizweit einheitlich erhobene und auf einen bestimmten Stichtag hin aufbereitete Daten, die uns unterjährig nicht zur Verfügung stehen. Unsere interne Anzeigenstatistik ist quasi ein sich laufend nachgeführtes und sich so dauernd veränderndes «Rohmaterial». Dies wiederum ist der Grund, weshalb wir uns entschieden haben, wie in den Vorjahren die prozentualen Veränderungen beizubehalten. Sie bilden den Trend ab – und um mehr geht es nicht. Einzig bei Delikten mit tiefen Fallzahlen weisen wir seit je die absoluten Werte in Fussnoten aus, dies vor allem als Interpretationshilfe.