«Es gibt Tatort-Fotos, die man vergessen möchte»
Astrid Rossegger arbeitet an der Schnittstelle zwischen Recht, Psychologie und Psychiatrie. Als forensische Psychologin begutachtet und therapiert sie Straftäter*innen und entwickelt Tools, mit denen sich die Gewaltbereitschaft von Menschen einschätzen lässt.
Frau Rossegger, was macht eine Forensikerin?
Mehr oder weniger. Viele, die in der forensischen Psychologie tätig sind, machen nach dem Studium umfangreiche Weiterbildungen im Bereich Psychotherapie und und Begutachtung. Es ist insgesamt ein recht langer Weg, den ich am Anfang meines Studiums noch nicht so geplant hatte.
Es gibt sehr viele verschiedene Bereiche, in denen wir Forensiker*innen tätig sind. Den Beruf gibt es so eigentlich gar nicht. Als Erstes denkt man möglicherweise an die Kriminaltechnik oder die Gerichtsmedizin. Es gibt aber auch noch die Arbeit der Psycholog*innen, die an der Schnittstelle zwischen Recht, Psychologie und Psychiatrie arbeiten und Straftäter*innen begutachten oder auch therapieren.
Gibt es eine klassische Ausbildung für den Beruf?
Mehr oder weniger. Viele, die in der forensischen Psychologie tätig sind, machen nach dem Studium umfangreiche Weiterbildungen im Bereich Psychotherapie und und Begutachtung. Es ist insgesamt ein recht langer Weg, den ich am Anfang meines Studiums noch nicht so geplant hatte.
Astrid Rossegger ist eine Schweizer Psychologin und Forensikerin. Seit 2000 ist sie in unterschiedlichen (Leitungs-)Funktionen im Zürcher Justizvollzug tätig, seit 2019 als Co-Leiterin von Forschung & Entwicklung. Parallel baute sie zusammen mit Jérôme Endrass die Arbeitsgruppe Forensische Psychologie an der Universität Konstanz auf, die sie mit ihm in Co-Funktion leitet. Astrid Rossegger ist Fachpsychologin für Rechtspsychologie sowie zertifizierte forensische Gutachterin der Schweizerischen Gesellschaft für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie.
Was genau bedeutet forensische Psychologie?
Ich habe verschiedene Hüte auf: Seit 25 Jahren bin ich in Zürich im Justizvollzug tätig. Ich habe dort eine Führungsverantwortung für rund 25 Mitarbeitende inne. Wir arbeiten im Bereich der anwendungsorientierten Forschung im Justizvollzug und untersuchen zum Beispiel die Wirksamkeit der Therapien, die gerichtlich angeordnet worden sind. Zudem leite ich an der Uni Konstanz eine Arbeitsgruppe.
Sie verfassen aber auch Gutachten?
Genau, ich schreibe Gutachten im Auftrag von Behörden. Hier geht es zum Beispiel um die Ausführungsgefahr von Gewalt.
Das klingt kompliziert. Was bedeutet das?
Wenn ein Schüler in einer Whatsapp-Gruppe mit Gewalt droht, dann begutachte ich den Fall, wobei dafür psychologisches, kriminologisches und klinisches Fachwissen notwendig ist. Oder wenn ein Mann seiner Frau Gewalt androht, wenn sie ihn verlassen will. In diesen Fällen geht es immer um die Gefahr von schweren Formen von Gewaltdelikten.
Und wenn die Gefahr Wirklichkeit wird?
Dazu verfasse ich auch Gutachten. Wenn die Handlungsschwelle zur Gewalt überschritten wurde, dann geht es um die Fragen: Ist jemand rückfallgefährdet? Liegt eine psychische Störung vor und gibt es eine Indikation für eine gerichtlich angeordnete Therapie? Und natürlich: Ist die Person schuldfähig?
«Es gibt wenige Fälle wie am Nasenweg, bei denen es zu schlimmen Ereignissen kommt.»Astrid Rossegger, Psychologin und Forensikerin
Zuletzt hat Basel der Fall am Nasenweg beschäftigt. Ein mutmasslicher Täter soll während seines Freigangs einen weiteren Mord begangen haben. Wurde ein falsches Gutachten erstellt?
Gutachter*innen treffen keine Entscheide, es entscheiden immer die Gerichte. Wir sagen zum Beispiel: Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand rückfällig wird, liegt bei zehn Prozent. Das Gericht muss dann abwägen und entscheiden. Es gibt wenige Fälle wie am Nasenweg, bei denen es zu schlimmen Ereignissen kommt. Wenn es passiert, ist es sehr wichtig, die Fälle aufzuarbeiten und genau zu analysieren.
Gibt es nicht immer ein Restrisiko?
Natürlich gibt es das. In einem Rechtsstaat muss das Gericht eine Güterabwägung zwischen den Freiheitsansprüchen des Beschuldigten und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit vornehmen.
Wie schreiben Sie ein Gutachten?
Für die Einschätzung des Rückfallrisikos geht man in zwei Schritten vor. In einem ersten Schritt schaue ich mir das statistische Rückfallrisiko einer Straftat an. Da geht es nicht um den Einzelfall, sondern um die allgemeinen Rückfallraten, anhand derer ich sehe, wie oft Personen je nach Delikt rückfällig werden.
Gibt es da Unterschiede?
Ja, absolut. Bei Raubdelikten werden sieben von zehn Personen rückfällig. Bei der Gewalt gegenüber Intimpartner*innen sind es drei von zehn. Für viele überraschend ist die recht niedrige Rückfallquote bei Sexualdelikten von fünf bis 15 Prozent.
«Statistische Werte geben einen Anker.»Astrid Rossegger, Psychologin und Forensikerin
Inwieweit helfen die Statistiken?
Statistische Werte geben einen Anker. Wenn wir uns Männer anschauen, die islamistische Inhalte im Internet liken, hilft es zu wissen, dass nur eine von 100’000 Personen, die im Kontext von Extremismus auffällig wird, gewalttätig wird. Anders ist es bei Männern, die ihre Ex-Freundin stalken. Hier wissen wir: Einer von drei Fällen dieser Art mündet in Gewalt.
Sie machen also aufgrund der statistischen Werte eine erste Einschätzung?
Genau. Im zweiten Schritt individualisiere ich die Prognose und gehe auf den Einzelfall ein. Ich lese alle Akteninformationen. Dazu gehören das Vorstrafenregister, oder wenn jemand schon mal in einer psychiachtrischen Klinik in Behandlung war, habe ich zudem die Austrittsberichte von der Klinik. Hinzu kommen Einvernahmen von der Staatsanwaltschaft von der Beschuldigten Person, wie auch von Zeugen und Geschädigten. Anschliessend spreche ich mit der Person, je nach Situation in Haft, in einer Klinik oder in Freiheit.
Und dann?
Dann beschreibe ich das Risikoprofil der Person. Dabei geht es darum, dass ich «nachvollziehen» kann, was vorgefallen ist. Ich versuche zum Beispiel herauszufinden, warum ein Mann seine Frau schlägt. Weil er getrunken hat? Oder weil er findet, Frauen müssten gehorchen und sanktioniert werden? Handelt es sich um eine Person, die sich unterlegen fühlt und aus lauter Überforderung zuschlägt? Es gibt auch Menschen, die Stimmen hören und meinen, sie müssten Befehle ausführen. Das sind unterschiedliche Dynamiken, und die versuche ich herauszuarbeiten. Dafür ist das Gespräch da. Je nach Eindruck korrigiere ich das statistische Risiko dann nach oben oder nach unten.
«Die Wahrheitsfindung ist Sache des Gerichtes – nicht der Gutachter.»Astrid Rossegger, Psychologin und Forensikerin
Haben Sie keine Angst, getäuscht zu werden?
Nein. Die Wahrheitsfindung ist Sache des Gerichtes – nicht der Gutachter.
Gibt es einen Fall, der Sie bis heute beschäftigt?
Die gibt es. Insbesondere dann, wenn Kinder involviert waren. Es gibt dann auch Tatort-Fotos, die möchte man am liebsten wieder vergessen.
Passiert es Ihnen, dass Sie Menschen forensisch analysieren, die Ihnen ausserhalb der Arbeit begegnen?
Möglicherweise lässt sich das nicht ganz abschütteln, wobei die Fälle, mit denen ich es zu tun habe, schon sehr anders sind als das, was man üblicherweise im Alltag antrifft.
Wie sieht ein normaler Arbeitsalltag von Ihnen aus?
Ich kann keinen typischen Tag beschreiben, weil jeder Tag anders aussieht. Es gibt Tage wie heute, an denen ich an der Uni lehre. Einen Schwerpunkt bildet sicherlich meine wissenschaftliche Tätigkeit, die aber auch ganz unterschiedlich aussieht. Es gibt Forschungsprojekte, wo wir Gefangene befragen und dafür in Haftanstalten von Zelle zu Zelle gehen und Fragebögen verteilen. Und es gibt andere Forschungsprojekte, in denen ich nur mit Akten arbeite. Mein Alltag ist sehr vielseitig. Nächste Woche stehen risikoorientierte Assessments von angehenden katholischen Seelsorgern an. Einmal in der Woche behandle ich Straftäter psychotherapeutisch.
Im Anschluss an den Fall im Nasenweg wagten Politik und Behörden eine erste Auslegeordnung. Justizdirektorin Stephanie Eymann machte klar: «Das Ziel ist, dass sich solche Taten nicht wiederholen.»
Sie forschen auch zu nationalsozialistischen Codes im öffentlichen Raum. Wie funktioniert das?
In der Schweiz ist das Zeigen von nationalsozialistischen Symbolen bisher nicht unter Strafe gestellt. Es geht immer um die Frage, ob es Propagandazwecken dient oder nicht. Wir haben versucht, das aus einer forensischen Perspektive zu beleuchten und gefragt: Was passiert, wenn Nazi-Symbole gezeigt werden?
Und?
Nach unserer Auffassung gibt es Symbole wie das Hakenkreuz, die eindeutig Angst und Schrecken auslösen sollen. Wenn wir als Gesellschaft akzeptieren, dass Menschen in Angst versetzt werden, dann macht das etwas mit uns. Denn im Grund akzeptieren wir Ausgrenzung bis hin zur Gewalt. Natürlich sind nicht alle Menschen, die Nazi-Symbole zeigen, gewaltbereit, aber die kleine Gruppe in der Gesellschaft, die gewaltbereit ist, wird ermuntert und nicht begrenzt.
Ausserdem haben Sie ein neues Tool zur Einschätzung der Gewaltbereitschaft von potenziellen islamistischen Attentäter*innen entwickelt. Wie funktioniert das?
Hier haben wir mit dem deutschen Bundeskriminalamt zusammengearbeitet. Die Polizei hatte sich ein Instrument gewünscht, mit dem sie Fälle identifizieren kann, die einen höheren Interventionsbedarf haben. Bei wem muss man genauer hinschauen? Wir haben ein Screening-Instrument entwickelt, mit dessen Hilfe man abklären kann, ob eine Person abklärungsbedürftig ist oder nicht.
Wird das Instrument auch in der Schweiz eingesetzt?
Bisher wird es flächendeckend in Deutschland und zum Teil in Österreich eingesetzt. Extremismus verläuft in Wellenbewegungen. Ich fand es sehr spannend, mit den deutschen Behörden zu einem Zeitpunkt an einem Phänomenbereich zu arbeiten, mit dem wir es in der Schweiz damals kaum zu tun hatten. Die Erkenntnisse sind auch für die Schweiz wertvoll, sollte die Welle zu uns kommen.
Dieser Artikel erscheint im Rahmen einer Medienpartnerschaft mit Neustart, ein gemeinnütziger Verein, der Beratung für Straffällige und deren Angehörige anbietet.