Von perfekten Äpfeln und Hochleistungshühnern
Die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative wollen die Landwirtschaft revolutionieren. Und spalten die Landwirt*innen – eine Spurensuche nach den Gründen durch das Baselbiet.
Baselland ist bäuerliches Territorium. Landwirtschaftsflächen säumen fast die Hälfte des Kantons. Ausserhalb der Siedlungsgebiete gibt es Weide- und Ackerland so weit das Auge reicht. Ehrwürdige Höfe thronen auf Hügeln, auf saftig grünen Wiesen grasen majestätisch anmutende Kühe, Rapsfelder in voller Blüte – sogar am Matsch an den Stiefeln erkennt man, mit welchem Ethos die Landwirt*innen, hier und in allen anderen Landesteilen, ihrem Beruf nachgehen. Einem, der gegenwärtig einmal mehr Gegenstand nationaler Kontroversen ist.
Am 13. Juni kommen zwei Initiativen zur Abstimmung, die einer Operation am offenen Herzen der Landwirtschaft gleichen. Die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative. Und je nachdem wen man fragt, könnte so das Leben der Patientin gerettet werden oder man richtet ein ziemliches Blutbad an.
Die Pragmatikerin
Oberhalb von Sissach muss der Bus ein paar Gänge runter schalten. Die Strasse rankt sich um den Berg, links blühen die Apfelplantagen, rechts warten Rebstöcke auf wärmere Tage. Laura Grazioli macht das raue Wetter aber nichts aus. Lächelnd winkt sie von weitem: 35 Jahre alt, HSG-Abschluss in Internationalen Beziehungen, diplomierte Landwirtin, Mutter.
Mit ihrem Bruder hat sie den Hof der Familie übernommen, in 10. Generation. Der Betrieb wird gerade neu strukturiert und auf Bio-Produktion umgestellt. Und obendrein macht Laura Grazioli noch Politik. Als Vizepräsidentin der Grünen Baselland und im Landrat, in welchem sie 2019 auf Anhieb die Wahl schaffte. Das brachte ihr das Prädikat «Senkrechtstarterin» ein, eine Entschlossene: «Öffnet sich eine Türe, gehe ich durch», sagte sie dem Schweizer Bauer nach ihrer Wahl. Offenbar aber nicht durch jede x-beliebige. Denn jene der Trinkwasserinitiative schlägt sie lieber zu.
Wie kommt es, dass eine grüne Politikerin, die gerade ihren bäuerlichen Betrieb auf Bio umstellt, nein zur Trinkwasserinitiative sagt? «Weil sie über das Ziel hinaus schiesst», antwortet Grazioli. Man könne schon ja sagen, schiebt sie nach, auch zur Pestizidinitiative, die sie im Grundsatz befürwortet, «aber wir müssen uns den Konsequenzen bewusst sein». Und das sind sich die Menschen nicht? Nein, findet Grazioli: «Sie machen den Link nicht zwischen dem Wunsch nach sauberem Trinkwasser und ihrem eigenen Konsumverhalten.»
Aussterbende Fische und unfruchtbare Rekruten
Was gefühlt seit der Geburt der Eidgenossenschaft rauf und runter diskutiert wird, ist das Verhältnis der Schweiz zu ihren Landwirt*innen.
Die Landwirtschaft ist Teil der DNA des Landes. Die sichere Versorgung der Bevölkerung und die Pflege der Kulturlandschaft sind in der Bundesverfassung verankert. Im Gegenzug lassen wir uns die Förderung der bäuerlichen Betrieben durch Direktzahlungen rund drei Milliarden Franken pro Jahr kosten. In Baselland etwa erhalten die Landwirt*innen jährlich über 51 Millionen Franken. Diese Förderung ist an Bedingungen geknüpft: am sogenannten ökologischen Leistungsnachweis. Tierschutz, Düngerbilanz, Biodiversität, Fruchtfolge und der Einsatz von Pestiziden – bäuerliche Betriebe müssen eine Reihe von Vorgaben einhalten, um Direktzahlungen erhalten zu können. Und sie sind per Gesetz verpflichtet, nachhaltig und umweltschonend zu wirtschaften.
Die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative sind zwei voneinander unabhängige Initiativen, die den Einsatz von Pestiziden in der Schweiz praktisch abschaffen möchten. Die Trinkwasserinitiative fokussiert auf die Landwirtschaft: Nur noch Betriebe, die keine Pestizide und Antibiotika verwenden und die das Futter für ihre Tiere selbst produzieren, sollen künftig noch Direktzahlungen vom Bund erhalten.
Die Pestizidinitiative will den Einsatz von synthetischen Pflanzenschutzmitteln grundsätzlich verbieten, sowohl in der Landwirtschaft wie auch bei den Privaten. Ausserdem soll der Import von Lebensmitteln, die mit synthetischen Pestiziden produziert wurden, verboten werden.
Trotzdem ist der Einsatz von umweltschädlichen Stoffen in der Landwirtschaft massiv. Gemäss der Verkaufsstatistik von Pflanzenschutzmitteln des Bundesamtes für Landwirtschaft für die Jahre 2008-2019 geht der Verbrauch von Pestiziden, Herbi- und Fungiziden kontinuierlich zurück, dennoch wurden 2019 noch knapp 2000 Tonnen davon verkauft. Das bekommen wir zu spüren.
Pestizide und deren Abbauprodukte finden sich in unseren Lebensmitteln und in unserem Trinkwasser wieder. Landesweite Schlagzeilen machte beispielsweise Chlorothalonil, das grossflächig im Grundwasser von mehr als der Hälfte aller Kantone nachgewiesen werden konnte und deshalb 2019 verboten wurde. Das Problem dabei: Viele dieser Stoffe bleiben jahrzehntelang im Wasser und im Boden und belasten die Umwelt auch lange nach einem Verbot. In Bächen und Flüssen sterben deshalb Insekten und Kleintiere, Fischarten verschwinden oder werden zunehmend steril.
Und auch Menschen bleiben nicht verschont. Bereits vor zwei Jahren fanden Forscher*innen mittels einer an Rekruten durchgeführten Studie heraus, dass die Spermienqualität in der Schweiz überdurchschnittlich schlecht ist. Im April dieses Jahres publizierten die Forscher*innen der Universität Genf Hintergründe, die deutlich aufzeigen, dass Pestizide dabei eine wesentliche Rolle spielen.
Um diese Entwicklung zu stoppen, soll nun die Landwirtschaft neu gedacht werden. Denn egal ob man den Hebel bei den Direktzahlungen ansetzt, wie die Trinkwasserinitiative verlangt, oder Pestizide gänzlich verbietet, wie die Pestizidinitiative es möchte, würde sich die Art, wie die Landwirt*innen arbeiten und produzieren grundlegend verändern.
Bewusste Konsument*innen?
Zurück ins Baselbiet. Das Anliegen beider Initiativen befürworte sie ohne Einschränkungen, betont Bio-Bäuerin Laura Grazioli. Nur der Weg dahin, besonders jener der Trinkwasserinitiative, stellten für die Landwirtschaft ein grosses Risiko dar. Insgesamt stünden die Landwirt*innen unter einem ständigen Wandel- und Innovationsdruck: «Die Bereitschaft die Produktion anzupassen und zu ökologisieren ist da», daher sei der Vorwurf, es müsse sich jetzt endlich etwas verändern, der im Zusammenhang mit den beiden Initiativen oft geäussert werde, verfehlt. Ein Argument, dass man auch von der FDP hört. «Die Annahme der beiden Initiativen würde zu einem tiefgreifenden Strukturwandel führen, dem zahlreiche Betriebe zum Opfer fallen würden, das muss uns bewusst sein.»
In manchen Bereichen gebe es heute kaum Alternativen zur konventionellen Produktion. Im Obstbau zum Beispiel. «Wir haben rund 100 Obstsorten auf dem Betrieb, darunter 30 Apfelsorten», erzählt Grazioli, «viele davon lassen sich nicht einfach auf Bio umstellen», die Vorstellung, dass man einfach aufhören könnte zu spritzen oder auf Bio-Schutzmittel umsteigen könne, sei falsch.
«Für eine konsequente Umstellung auf Bio müssen wir einen Grossteil unserer bisherigen Sorten aufgeben und ersetzen.» Ein solcher Prozess gehe mindestens zehn Jahre, bedeute Investitionen und beeinflusse im Endeffekt, was in unserem Einkaufskorb landet.
«Das ist einer der Schwachpunkte der Initiative», ist Laura Grazioli der Meinung. «Sie blendet den Konsum aus.» Denn, würden gewisse Apfelsorten nicht mehr produziert, fände man sie auch nicht mehr im Laden, oder es gebe sie nur als Importware. Das sei inkonsequent: «Das im Ausland mit Pestiziden produzierte Obst und Gemüse würde trotzdem gekauft werden und würde genauso auf unsere Teller landen.» Dass sich die Konsument*innen selbst einschränken würden, daran glaubt Grazioli nicht wirklich. Dasselbe gelte für die Eier-, Milch- und Fleischproduktion: «Sie würde in der Schweiz einbrechen, die Importe würden zunehmen. Und nun frage ich mich: Sind wir wirklich bereit, weniger davon zu essen?»
Die Trinkwasserinitiative, davon ist Grazioli überzeugt, hätte eine Polarisierung zur Folge: «Auf der einen Seite wären die fast romantischen, kleinteiligen Betriebe und auf der anderen die intensive Produktion, die auch ohne Direktzahlungen auskommen kann und sich nicht nicht an Vorgaben halten muss.» Die Landwirt*innen, die in den letzten Jahrzehnten Fortschritte in Richtung Umweltschutz gemacht hätten, würden abgestraft.
Würde man mit einem Ja also die Uhr der Landwirtschaft zurückdrehen? Oder in die Zukunft springen?
Die Visionär*innen
30 Kilometer entfernt, in Oberwil, findet die Zukunft bereits statt. Und zwar schon seit 1974. Der Bruderholzhof produzierte biologisch lange bevor das Bio-Label geboren wurde. Die Geburtsstätte des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FIBL) ist bei vielen Basler*innen, die regional und nachhaltig einkaufen wollen, äusserst beliebt. Vor dem Hofladen warten die Menschen geduldig, bis sie hinein können, die Kühe auf der Wiese müssen nicht um ihre Hörner fürchten. Synthetische Pestizide gibt es hier keine, dafür grosse Banner, die eine klare Message vermitteln: 2x Ja zu den Agrarinitiativen.
Laura Ineichen und Manuel Kaufmann sind bei den Gewächshäusern und kümmern sich um Tomatenstecklinge und um die Erdbeeren, die sie bald ernten wollen. Die beiden sind ein Paar, Jahrgang 1997 und die neue Generation auf dem Hof. Sie haben beide keinen politischen Hintergrund, Medienrummel ist ihnen nicht geheuer, aber das Engagement für die beiden Initiativen ist ihnen wichtig. Auch wenn sie sich in ihrer Branche damit nicht gerade Freund*innen machen. Sogar der Verband Biosuisse hat die Nein-Parole zur Trinkwasserinitiative beschlossen. Für die Betreiber*innen des Bruderholzhof unverständlich. Darum sind sie mit einem Offenen Brief zum «Knospendesaster», wie sie es nennen, an die Öffentlichkeit.
Das sind also diese «Romantiker*innen», die eine «Märchen-Landwirtschaft» propagieren. Ineichen und Kaufmann zucken mit den Schultern und meinen: «Es muss sich einfach etwas verändern. Punkt.» Dass die Landwirtschaft und die Gesellschaft von selbst nachhaltig würden, wenn schon sei das eine romantische Vorstellung. Die Realität für sie: «Unsere Lebensmittel sind zu billig, wir haben viel zu viel Foodwaste, in der Landwirtschaft gibt es die längsten Arbeitszeiten und die tiefsten Löhne», sagt Manuel Kaufmann. «Die Bio-Produktion ist eine Chance, um das zu ändern.»
Verstehen sie andere Landwirt*innen, die um ihre Lebensgrundlage besorgt sind? «Ja, doch», sagt Laura Ineichen, die Betriebe umzustellen, sei alles andere als einfach, aber es sei nötig: «Eine zukunftsgerichtete Landwirtschaft müsste im Interesse aller Landwirt*innen sein», würden die Initiativen angenommen, sei es kein Weltuntergang, auch nicht bei der Trinkwasserinitiative, meint Ineichen, bei der Umsetzung müssten alle Beteiligten konstruktiv mitarbeiten, «Politik, Verbände, die Forschung müssten gemeinsam Lösungen finden».
Darin sehen Kaufmann und Ineichen Potential. «Man stelle sich vor, das Geld, das in der Schweiz in die Entwicklung der Chemie-Landwirtschaft gesteckt wird, würde in die Erforschung des Biolandbaus fliessen – wir wären an einem ganz anderen Punkt.» Beide haben in der Ausbildung den Schwerpunkt Biolandbau gewählt, im Gegensatz zu den meisten ihrer jungen Berufskolleg*innen: «In der Ausbildung ist alles auf die konventionelle Produktion ausgerichtet», sagt Manuel Kaufmann, über Bio wisse man viel zu wenig, dass darum viele Landwirt*innen die Hände verwerfen würden, wundere ihn nicht.
Dass sich die Initiativen auch auf den Konsum auswirken würden, sehen die beiden auch so – und finden es gut. «Wir müssen weniger Fleisch, weniger Eier essen», sagt Laura Ineichen. «Das ist eine Tatsache.» Eine, die auch den Bruderholzhof tangieren würde. Das Futter für die Hühner, die sie momentan halten, müssen auch sie zukaufen. Und zwar, weil die Hühnerrasse nichts anderes frisst.
Ähnlich wie bei den Äpfeln von Laura Grazioli wird ersichtlich, wie spezialisiert die Landwirtschaft heutzutage ist: Will man Hühner, die rund 300 Eier pro Jahr legen, brauchen diese eine genau auf ihre Genetik abgestimmte Futtermischung, die nur wenige Agrarunternehmen liefern können, auch in der Bio-Landwirtschaft. Ohne dieses Futter ist die Hochleistung der Hühner gar nicht möglich. Nur wenn die Trinkwasserinitiative angenommen wird, könnten sich auch andere Hühnerrassen durchsetzen, meinen Ineichen und Kaufmann.
Interessiert das die Konsument*innen beim Einkaufen überhaupt? Laura Ineichen und Manuel Kaufmann sind der Meinung, dass «das Bewusstsein über die Prozesse wächst» und, dass die Landwirt*innen keine Angst davor haben sollten.
«Schlussendlich haben wir alle die gleichen Ziele», sagt Manuel Kaufmann und fügt an, was auch schon Laura Grazioli 30 Kilometer weiter ein paar Tage vorher gesagt hatte: «Jede*r Landwirt*in will sauberes Trinkwasser und gesunde Lebensmittel.»
Über den Weg dahin wird an der Urne entschieden.