Zuerst Gipfeli, dann Cüpli
Der neue Basler Erziehungsdirektor heisst Mustafa Atici. Doch auch FDP-Herausforderer Luca Urgese erzielte ein respektables Resultat. Auf Streifzug mit den beiden durch den Wahlsonntag.
Der offizielle Teil des Wahlsonntags beginnt für Mustafa Atici mit Espresso und Gipfeli im Café Beschle an der Clarastrasse. Wenn hier eine halbe Stunde vor Bekanntgabe der Zwischenergebnisse die SP-Parteileitung und die Regierungsrät*innen Tanja Soland und Kaspar Sutter mit ihrem Kandidaten für den freien Sitz in der Regierung zusammensitzen: Was gibt es da denn überhaupt noch zu besprechen? Auf die Wahlentscheidung hat man jetzt eh keinen Einfluss mehr, der Wahlkampf ist gelaufen.
Und der war intensiv, wie SP-Parteipräsidentin Lisa Mathys sagt: «Wir machen quasi seit einem Jahr gemeinsam Wahlkampf.» Schon im Herbst 2023 stand sie mit Atici auf der Liste für die Nationalratswahlen. «Es wird ein bisschen komisch sein, wenn dieser intensive Wahlkampf jetzt vorbei ist.» Doch sie sagt auch, wie viel Spass es gemacht habe, mit Atici zusammen zu arbeiten. «Er ist einfach so ein positiver Mensch.»
An diesem SP-Tisch rechnen wegen des Vorsprungs im ersten Wahlgang eigentlich alle mit einem Sieg Aticis. «Aber man vermeidet es, jetzt schon über Resultate zu reden», sagt Mustafa Atici. Er habe schon viele Wahlen erlebt, deshalb kenne er diese Art von Vormittagen: Smalltalk statt Taktieren. «Alle sind aufgeregt, das ist auch okay so. Wir reden halt dann davon, was man am Wochenende gemacht hat.»
In Aticis Fall: Am Samstagabend waren Freund*innen zu Besuch. Deshalb stand er an diesem Sonntag auch nicht wie gewohnt um 6 Uhr auf, sondern erst um halb 8. Ein kurzer Blick in die Zeitungen, nicht so ausführlich wie sonst, dann joggen und ein ausgiebiges Frühstück mit der Familie: «Meine Frau und ich lieben Oliven, davon müssen wir immer mindestens zwei Sorten daheim haben.»
Immer wieder muss Atici an diesem Morgen das Gespräch unterbrechen und kurze begrüssende Handbewegungen, Lächeln und Blicke zu Leuten werfen, die ihm viel Erfolg wünschen. Darunter der Kleinbasler Unternehmer Elio Tomasetti, der seine Zeitung auf einem ganzen Tisch ausgebreitet hat: «Ich kenne Mustafa seit 20 Jahren, er macht das», sagt Tomasetti. Obwohl er den Eindruck hat, dass auch «der Luca» noch aufgeholt haben könnte.
«Dieser Luca» gibt den Medien an diesem Morgen nicht viel Zeit, um seine Stimmungslage so kurz vor Bekanntgabe der Zwischenresultate abzuholen. Um 11.45 Uhr macht Luca Urgese sich auf den Weg ins Congress Center – er wohnt am Messeplatz, der Weg ist nicht weit. Trotzdem ist vor seiner Haustür Verstärkung eingetrudelt. Dazu gehören neben FDP-Präsident Johannes Barth auch alt Regierungsrat Baschi Dürr und Wahlkampf-Mitstreiter Conradin Cramer sowie LDP-Präsidentin Patricia von Falkenstein. Ein paar mutmachende Schulterklopfer, Händeschütteln und Umarmungen später brechen sie auf.
Auf den heutigen Tag habe er sich nicht besonders vorbereitet, sagt Urgese und zupft sich beim Gehen das Jackett zurecht. «Gestern war ich noch beim Coiffeur, am Abend hatte ich Freunde bei mir zu Gast zum Znacht, das war grad noch gut zur Ablenkung.» Urgese ist nervös, geht aber gefasst, lächelnd und mit langsamen Schritten auf Personen zu, die ihm vor dem Congress Center die Hände entgegenstrecken. Einer von ihnen ist SVP-Präsident Pascal Messerli. Er gesellt sich ans Ende des Grüppchens, das nun mit Urgese die Rolltreppen hinauf in den Saal der Bekanntgabe nimmt.
Um 12 Uhr ist es soweit. Vor der Bühne haben sich zwei Menschentrauben gebildet – eine um Urgese, eine etwas Grössere um Atici. Die Zwischenresultate werden eingeblendet und Urgese ist die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Neben ihm jubelt Cramer und klopft ihm anerkennend auf die Schultern. Denn: Urgese hat aufgeholt.
Das ist ein Grund zur Freude, wie auch Urgese ein bisschen später im Interview bestätigt. Er gratuliert Atici zum Sieg und gibt zu, er sei «einerseits klar ein bisschen enttäuscht». Der Wahlkampf sei intensiv gewesen «und wir haben wirklich bis zum letzten Tag noch versucht, auf der Strasse Leute zu mobilisieren». Andererseits sei es ihm gelungen, «zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang aufzuholen. Das gibt mir auch eine gewisse Genugtuung».
«Die bürgerliche Zusammenarbeit sollten wir weiterführen», findet der bürgerliche Kandidat Luca Urgese. Er betont, dass das Ergebnis knapper ausfiel, als wohl einige gedacht haben.
Dass Urgese aufgeholt hat, führt er selber auch auf die bürgerliche Zusammenarbeit zurück. «Es ist uns gelungen, auch im zweiten Wahlgang zusammenzustehen, den Abstand deutlich zu verkleinern», sagt er. Aus seiner Sicht sollten die Bürgerlichen dies im Herbst weiterführen. «Dieser Entscheid liegt aber am Schluss bei den Parteipräsidien und vor allem bei den Parteimitgliedern.»
FDP-Präsident Barth lässt sich an diesem Wahltag jedenfalls noch nicht in die Karten blicken. Er sei traurig, dass es nicht gereicht hat, aber auch stolz – auf Urgese und «dass wir gegen die geballte Macht der SP und Grünen angehen konnten».
Auch Mitstreiter Cramer, der deutlich und wenig überraschend zum Regierungspräsidenten gewählt wurde, verteilt Lorbeeren für das respektable Resultat von Urgese. Er sagt zu Bajour, er freue sich «riesig», dass Urgese «so eine Aufholjagd hingelegt hat». Das sei gar nicht so einfach und zeige, dass Urgese wirklich überzeugt habe. Er habe Inhalte gebracht, sei auf die Menschen zugegangen und habe ihnen gut zugehört. «Das sind beste Voraussetzungen für ein Regierungsamt», sagt er. «Luca wird eine tolle politische Zukunft haben», ist Cramer überzeugt. «Mit ihm ist zu rechnen.»
Conradin Cramer (LDP) ist neuer Basler Regierungspräsident. Das überrascht niemanden. Trotzdem war er vor dem Wahlsonntag nervös. Jetzt freut er sich auf die kommenden Aufgaben bei der Teambildung, aber auch in den konkreten Dossiers Kultur, Wohnen und Klima.
Ob er sich bei den Gesamterneuerungswahlen im Herbst wieder aufstellen lässt und erneut versucht, für die FDP einen Regierungssitz rauszuholen, lässt Urgese heute offen. Die letzten drei Monate seien anstrengend gewesen. Er werde jetzt «ein bisschen Abstand nehmen» vom Wahlkampf und sich dann entscheiden.
Derweil ist direkt nach dem Aufploppen des Zwischenresultats auf dem Bildschirm grosser Jubel im Atici-Lager ausgebrochen. Es ist nur ein knappes halbes Jahr her, als sich Atici an gleicher Stelle von seinem Nationalrats-Amt verabschieden musste. Seine Abwahl kam für ihn selbst überraschend, für eine kurzen Moment entgleisten ihm die Gesichtszüge und genau da drückte der Fotograf ab. Die Bilder, die an diesem Aprilsonntag vom Siegesmoment geschossen werden, dürften Atici besser gefallen.
Atici wird von allen Seiten umarmt und beglückwünscht. Jemand ruft im Takt klatschend «MUS-TA-FA, MUS-TA-FA». Sein Vorname trägt Aticis Bekanntheit an diesem Sonntag über die Kantonsgrenzen hinaus. «Mustafa, der Erste» wird er von der Basler Zeitung betitelt. Eine Anspielung auf Aticis Ankündigung, der erste Mustafa in einer Schweizer Kantonsregierung werden zu wollen. Der Kurde mit türkischem und schweizerischem Pass versteht die Wahl als Signal an die migrantische Community in der Schweiz, wie er zu Bajour sagt.
Im Interview sagt Mustafa Atici, was der Wahlsieg für ihn und die migrantische Community in Basel bedeutet und wie er den Wahlkampf erlebt hat: «Gewisse Anfeindungen haben mich ziemlich nachdenklich gemacht.»
Dann gibt sich Atici der vereinigten Journalist*innen-Schar hin. Er eilt von Telebasel-Livesendung zum SRF-Radio-Interview, dazwischen ein kurzes, medienwirksames Händeschütteln des vom bundesrätlichen Glamour begleiteten Beat Jans. Der sagt zu seinem Freund väterlich bestärkend, dass das Amt keine einfache Aufgabe wird.
Während sich Urgese vom Medienrummel zurückzieht, pilgert die SP-Fraktion in den Foodcourt Klara. Atici wird mit Applaus und Standing Ovations empfangen. Das Cüpli steht parat. Es scheint, hier war man sich schon vorher recht siegessicher. Atici hält eine kurze Ansprache in der Spielecke, man macht Selfies, stärkt sich für den Abend. Aber: Die Stimmung ist schon lockerer.
Fast forward, 18 Uhr: Verkündung des definitiven Schlussergebnisses. Als die 3000 Stimmen Vorsprung für Atici bekannt werden, bricht wieder Jubel aus. Die «MUS-TA-FA, MUS-TA-FA»-Chöre erfüllen den Raum und werden nur unterbrochen, um Urgeses Resultat zu verkünden, bei dem die Bürgerliche Hälfte des Raums ebenfalls in Jubel ausbricht. Man mag den Linken nicht die Stimmung überlassen.
Den kurzen Moment der Blumenstraussübergabe auf der grossen Bühne teilt sich Atici mit dem eben beförderten Conradin Cramer. Doch der grosse Moment findet dann doch neben der Bühne statt, als Atici die Treppe herunterkommt und ein Mann ihm eine Khata um die Schultern legt. Der Schal aus weisser Seide ist eine Glücksschlaufe aus der tibetischen Kultur. Er wird zur Begrüssung überreicht. Willkommen im Amt, Herr Regierungsrat.
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