Die Schweiz im Zeitalter der ausbleibenden Reformen
In der Altersvorsorge oder beim Klima müsse die Schweizer Politik mehr Mut zeigen, findet Jonas Lüthy, Präsident der Jungfreisinnigen Basel-Stadt. Es sei an der Zeit, ideologische Scheuklappen abzulegen und den Staat wieder kritischer zu hinterfragen.
Die Schweiz hat Berührungsängste mit Reformen. Es ist an der Zeit diese abzubauen und sich den grossen Fragen zu stellen. Die Politik muss ihren Mut wiederfinden, ideologische Scheuklappen endlich ablegen und den Staat wieder kritischer hinterfragen.
Mut zu einer nachhaltigen Reform der Altersvorsorge
Die Altersvorsorge stellt seit Jahren eine der grössten Sorgen der Schweizer Bevölkerung dar – und das zu Recht. Die Finanzierung ist aufgrund der immer älter werdenden Bevölkerung in Gefahr. Seit der Einführung der AHV im Jahr 1948 ist die Lebenserwartung nach der Pensionierung für Männer um acht Jahre und für Frauen um zehn Jahre gestiegen.
Was hat der politische Nachwuchs zu sagen? Im Wahljahr überlassen wir regelmässig den Jungparteien den Platz. Heute hat Jonas Lüthy das Wort. Der Präsident der Jungfreisinnigen Basel-Stadt kandidiert im Herbst für den Nationalrat. Er setzt sich für «eine innovative und zukunftsorientierte Schweiz» ein und betont: «Junge Menschen sind in der Politik und auch im öffentlichen Diskurs untervertreten. Das will ich ändern.» Lüthy lebt in Basel und arbeitet derzeit bei Novartis.
Die Menschen werden immer älter und beziehen entsprechend länger eine Rente. Die Konsequenz: Während vor 60 Jahren noch etwa sechs Erwerbstätige eine Rente finanzierten, sind es heute noch drei. Wir müssen der Realität ins Auge blicken: Wenn die AHV in den nächsten Jahren nicht reformiert wird, steht sie vor dem Konkurs.
Während sich die Schweiz derweil mit dem politischen Luftschloss einer dreizehnten AHV-Rente beschäftigen muss, wäre es an der Zeit sich Reformideen anzunehmen, die das Problem lösen und nicht verschärfen. Fast alle anderen westeuropäischen Länder haben ihr Rentenalter der steigenden Lebenserwartung angepasst und es bis 2023 auf 67 oder 68 Jahre erhöht.
Tatsächlich entschärft dieser Lösungsansatz das Problem, doch alleine ist auch dieser Schritt nicht wirklich nachhaltig. Entsprechend ist neben der Erhöhung des Rentenalters in einem nächsten Schritt eine Kopplung an die Lebenserwartung angezeigt. Wenn die Lebenserwartung auch künftig ansteigt, wird das Rentenalter bei diesem Mechanismus automatisch erhöht.
«Wenn die AHV in den nächsten Jahren nicht reformiert wird, steht sie vor dem Konkurs.»Jonas Lüthy
Die Renteninitiative der Jungfreisinnigen fordert genau diese Lösung zur langfristigen, finanziellen Sicherung unserer Altersvorsorge. Selbstredend können nicht alle länger arbeiten, beispielsweise wenn sie in körperlich anspruchsvollen Branchen arbeiten. Hier gibt es bereits heute Lösungen: So haben sich die Sozialpartner in der Baubranche beispielsweise auf ein Rentenalter von 60 Jahren geeinigt. Nachdem der Nationalrat jüngst die Renteninitiative ohne Gegenvorschlag abgelehnt hat und sich damit – gerade im Wahljahr – reformunfähig zeigt, appelliere ich für mehr Mut zur Lösung.
Systemwandel ohne Antikapitalismus
Während es in der Altersvorsorge Mut zu unpopulären Lösungen braucht, benötigt die Klimapolitik eine Abkehr von Ideologie hin zu mehr Pragmatismus und Wissenschaft. Die Forderung nach Verzicht, um dem Klimawandel entgegenzuwirken, ist längst in aller Munde.
Letzten Endes wird dadurch lediglich eine ergebnisbasierten Klimapolitik untergraben. Das Verzichtsmodell fusst auf der Annahme, dass immer, wenn jemand gewinnt, jemand anderes verlieren muss. Da es der Menschheit, glücklicherweise, dank Marktwirtschaft und Freihandel immer besser geht, muss das Klima nun die Rolle des Verlierers übernehmen, um das antikapitalistische Dogma zu erhalten.
«Das ab Oktober frisch gewählte Parlament wird sich mit grossen Herausforderungen konfrontiert sehen. Es bleibt zu hoffen, dass die Berührungsängste mit Reformen in der neuen Legislatur der Vergangenheit angehören.»Jonas Lüthy
Tatsächlich besteht ein Fehler im System, der aber schlicht behoben werden könnte – ohne das System bachab zu schicken. Bei der Problemstellung des Klimawandels liegt ein Fall von Marktversagen vor. Ökonomisch betrachtet, führt der gegenwärtige Ausstoss von Treibhausgasemissionen zu Kosten, welche nicht im Marktpreis enthalten sind, sogenannten negativen externen Effekten. Ziel muss folglich sein, dass diese Kosten von den Verursachern dieser Effekte und nicht mehr von unserer Umwelt getragen werden.
Ermöglichen würde das die Bepreisung von CO2, verknüpft mit einem Emissionshandelssystem. Dies schafft nicht bloss preisliche Anreize zur Nutzung von CO2-effizienten Produkten, sondern auch einen Innovationsdruck, da CO2-Ineffizienzen indirekt abgestraft werden. Darüber hinaus würden der Bevölkerung die arbiträren Technologieentscheidungen der Politik erspart bleiben.
Der «Dad bod» der Schweiz
Schreit die Klimapolitik nach weniger Ideologie und die AHV nach mehr Mut so braucht der Staat wieder eine gesunde, aber kritische, Auseinandersetzung mit sich selbst. Kein Tag vergeht, an welchem nicht von vermeintlich staatlichem Leistungsabbau zu lesen ist, die Fakten sprechen aber eine andere Sprache.
Entgegen der vorherrschenden Meinung liegt die Fiskalquote der Schweiz inklusive der Beiträge für Pensionskassen und obligatorische Krankenpflegeversicherung mit 40% nicht niedriger als in unseren Nachbarstaaten Deutschland und Österreich. Es gilt festzuhalten: Der einst schlanke Schweizer Staat hat sinnbildlich einen «Dad bod» bekommen.
Dies widerspiegelt sich auch im Stellenbestand des öffentlichen Sektors, welcher in den letzten zehn Jahren mit 13% wesentlich stärker gewachsen ist als jeder der Privatwirtschaft (8%). Die Tendenz der Konkurrenzierung der Privatwirtschaft durch den Staat hat sich insbesondere in Bezug auf Arbeitskräfte akzentuiert.
KMU und Gewerbeunternehmen, die das unternehmerische Risiko tragen und von keinerlei staatlichen Begünstigungen und Vorteilen profitieren, haben das Nachsehen. Im Sinne einer Gegenmassnahme wäre eine Personalbremse für die Verwaltung angezeigt. Nicht nur könnte dadurch die fehlgeleitete Konkurrenzierung eingedämmt werden, sondern die Politik müsste, bevor sie weitere Regulierungen erlässt, vordergründig auch prüfen, ob sie dafür das nötige Personal hat.
Das ab Oktober frisch gewählte Parlament wird sich mit grossen Herausforderungen konfrontiert sehen. Es bleibt zu hoffen, dass die Berührungsängste mit Reformen in der neuen Legislatur der Vergangenheit angehören.