Der wichtigste und schönste Cortège
Was Bajour-Kolumnistin Cathérine Miville an der Basler Schulfasnacht gesehen hat, hat ihr Mut gemacht. Mehr als 13'000 Kinder zeigten stolz ihre Kostüme und versinnbildlichten, was die Fasnacht ausmacht: Integration und kulturelle Bildung. Zeit, der Fasnacht mehr Raum im Kulturleitbild zu gewähren.
Von Bärschwil über Metzerlen, Brislach, Witterswil, Roggenburg nach Nunningen und Eschwil – nein, das sind nicht die Basler ÖV-Pläne für die kommenden Jahre. Es sind nur einige der zahlreichen Orte, an denen in der Region Fasnacht grossgeschrieben wird. Sie bringen die Kalender der Fasnacht-Begeisterten im Dreiländereck genauso zum Bersten wie die zahllosen bestens besuchten Vorfasnachts-Veranstaltungen in der Stadt. Ich frage mich, wann eigentlich alle noch Larven und Kostüme machen, Zeedel und Laternen gestalten oder zu Marschübungen eilen.
Aus diesem wunderbaren Termin-Marathon-Chaos sticht eine Veranstaltung für mich ganz klar heraus – auch weil sie klugerweise ihre Kräfte bündelt und nur alle fünf Jahre stattfindet: Die Basler Schulfasnacht.
Cathérine Miville ist in Basel geboren und aufgewachsen. Sie unternahm ihre ersten Karriereschritte am Theater Basel, später lebte sie lange Zeit in Deutschland, führte an verschiedenen Häusern und bei Dieter Hildebrandts Sendung «Scheibenwischer» Regie und leitete zuletzt als Intendantin das Stadttheater Giessen. Als vor drei Jahren Mivilles Vater, der Basler SP alt Ständerat Carl Miville-Seiler, starb, beschloss sie, nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Intendantin, wieder in Basel zu leben. In ihrer neuen Kolumne «Ma ville» wirft die 70-Jährige regelmässig einen genauen Blick auf das kulturelle Leben in der Stadt und reflektiert, wie sich Basel entwickelt hat.
Was für ein beglückendes Ereignis war das. Mehr als 13’000 Kinder aus Basler Primarschulen und Kindergärten präsentierten im schönsten Fasnachts-Umzug, den ich je gesehen habe, ihre eigenständig kreierten und selber gemachten kunterbunt-perfekten Kostüme und Requisiten. Sie zogen durch die Innenstadt und sorgten dafür, dass die vielen Zuschauer*innen aus dem Staunen gar nicht mehr herauskamen.
Feuerwehrfrau, Pinocchio, Vogel Gryff und Heissluftballon-Pilot verstanden sich genauso gut wie Kühe, Krokodile und Hühner, die gemeinsam mit Farbstiften und überhitzten Weltkugeln – die auf Ice-Tea-Kisten abgekühlt wurden – einträchtig den Cortège abliefen. Und natürlich fehlten auch Harlekin, Blätzlibajass, Waggis und Co. nicht.
Begleitet wurden sie bis in die Abendstunden von jungen Garden und Musikgruppen, die das musikalische Fasnachtsfeeling beisteuerten. Für mich war fast das Schönste dabei: Die Gesichter der Kinder unter den Larven, die in Pausen sichtbar wurden, waren nicht minder vielfältig und divers als ihre kreativen Werke.
Und als ich am Abend dann wieder durch die Stadt ins Theater spazierte, kamen mir immer noch Familien mit kostümierten Held*innen entgegen. Todmüde? Keine Spur. Sie hüpften und sangen und liessen auch auf ihrem Heimweg ihrer stolzen Glückseligkeit freien Lauf.
Am Tag danach war in den Medien von «leuchtenden Kinderaugen» zu lesen. Glänzende Kinderaugen verbinde ich eher mit passivem Staunen, an Weihnachten oder mit Kindern, die zum ersten Mal im Theater sitzen, wenn die Lichter vom Kronleuchter ausgehen – wenn es denn einen hat.
Mich hat während des Umzugs vielmehr beeindruckt, wie die Kinder gewachsen sind, sich aufrichteten und die Rücken gerader wurden: Wir sind wer – jede*r für sich, aber vor allem auch alle zusammen als Gruppe. Sie haben wahrgenommen, dass ganz viele Menschen am Rand stehen und es total grossartig finden, was sie geschafft haben. Sie sind nicht mehr nur «die häärzige Gläine». Sie werden für ihre gemeinsame Leistung gelobt, fotografiert, gefilmt, beklatscht und ja auch bewundert.
Auch in Schul-Theater-Projekten habe ich das immer erleben dürfen. Vor dem Auftritt stehen nervöse, ängstliche kleine Kinder mit hängenden Schultern vor der Bühnentüre. Und wenn sie dann dran sind, gehen sie raus auf die Bühne und glänzen mit ihrem Können. Und nach dem Applaus kommen sie zurück und dann schweben lauter kleine Held*innen mit durchgedrücktem Kreuz durch die Garderobengänge. Sie haben erlebt, es war mega anstrengend, aber es hat sich gelohnt, denn: Wir haben es geschafft – gemeinsam.
Und dieses ganz einmalige und sehr nachhaltig motivierende Gefühl entstand sicher auch beim Umzug, gerade auch bei denjenigen, die (noch) nicht so tief in Basel verwurzelt sind oder aus anderen Gründen nicht unbedingt das Gefühl haben, dazuzugehören: Weil sie schüchtern sind, weil sie nicht zur In-Clique gehören, die in der Klasse den Ton angibt, weil ihre Eltern finanziell bei manchem nicht mithalten können oder nicht wollen, weil sie einen anderen kulturellen Hintergrund leben. Bei ihrem Cortège gehören alle dazu und sie werden alle zusammen als Gemeinschaft gefeiert.
Besser können kulturelle Bildung und integrative Bindung nicht entstehen und wirken. Und schon allein dafür gebührt der Fasnacht eine entsprechende Würdigung im nächsten Kulturleitbild der Stadt.
Die Basler Fasnacht ist UNESCO-Weltkulturerbe und dennoch kein Museum. Sie entwickelt sich kontinuierlich weiter, sehr oft zum Besseren. Ist schon auch sehr fein, dass die Frauen inzwischen (fast überall) ganz selbstverständlich dazugehören. So wird nach meinem Eindruck heute zum Beispiel deutlich besser und musikalischer gepfiffen. Auch freue ich mich sehr über die zahllosen neuen, ganz wunderbaren mehrstimmigen Märsche, die das Genre «Marsch» deutlich bereichert haben. Aber sie bedeuten für mich auch eine heftige Herausforderung, denn ich habe nach 50 Jahren mein Piccolo wieder ausgepackt und werde dieses Jahr aktiv mitmachen. Ein Versuch. Ich möchte wissen, ob ich den Zauber wiederfinde.
Hinderlich könnte dabei eine Entwicklung sein, die mich zumindest nachdenklich macht: Wie bei den Weihnachtsmärkten, der Herbstmesse und anderen Grossereignissen droht auch die Fasnacht zu überhitzen. Der Zuspruch von ausserhalb wächst rasant. Das ist zunächst ja gut. Wenn aber immer mehr Menschen kommen, die die Fasnacht als Event verstehen, den man nur zum Abfeiern besucht, können die Aktiven, die einfach Fasnacht machen und geniessen wollen, mehr und mehr verdrängt werden.
Ist ja ok, wenn Menschen zuschauen, aber um sie geht es nicht. Und auch das hat die Schulfasnacht ganz vorbildlich gezeigt: Allein die Kinder standen im Zentrum. Ihnen gehörte die Stadt. Alle anderen waren gern gesehen – als zuschauende Gäste, die sich am Strassenrand freuten. Kein Grölen drängte sich in Vordergrund und keine Handyleuchten für Selfies störten.
Daher mein Vorschlag an die Stadt: Pusht die Fasnacht etwas weniger in die internationalen Eventkalender und räumt ihr dafür mehr Raum im neuen Kulturleitbild ein. Da gehört sie hin.