Licht in der Dunkelheit
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion liess die Familie der ukrainischen Autorin Eugenia Senik ihre Weihnachtstradition wieder aufleben. Heute feiert Eugenia zweimal Weihnachten – und schöpft darin Hoffnung.
In dieser Weihnachtszeit denke ich an mein erstes Zuhause, in dem ich auch mein erstes Weihnachten mit meinen Eltern und meiner Schwester gefeiert habe. Obwohl das sowjetische Regime während langen Jahren die weihnachtliche Tradition sehr sorgfältig und hartnäckig auszuradieren versuchte, gab es die, die genauso hartnäckig und entsagungsvoll ihre Traditionen behüten wollten. Zentral- und Ostukraine haben am stärksten gelitten. Je näher man an der Grenze zu Russland lebt, desto grösser ist das Pech.
Wir hatten Pech, wir hatten den Kürzeren gezogen. In unserer Familie gab es eine Generation, die die Weihnachtstraditionen gar nicht erlebt hatte. Es gab ein sowjetisches Neujahr mit Väterchen Frost, aber es gab keinen Nikolaustag und kein Weihnachten. In der Sowjetunion wurden neben der Religion und der Kirche auch die damit verbundenen Traditionen verboten. Die Religion wurde mit der kommunistischen Ideologie ersetzt und Jesus – mit Lenin. Die, die doch versuchten, Weihnachten zu feiern, konnten ihre Arbeit verlieren, verhaftet oder Repressalien ausgesetzt werden. Und so war es bis zum Jahr 1991.
Die ukrainische Schriftstellerin Eugenia Senik (36) lebt seit August 2021 in der Schweiz. Aufgewachsen ist Senik im Osten der Ukraine, in Luhansk. Am 9. Mai erschien ihr dritter Roman, «Das Streichholzhaus», auf Deutsch. Es wurde vom PEN Ukraine in die Liste der besten ukrainischen Bücher des Jahres 2019 aufgenommen. Für Bajour schreibt sie ein persönliches Tagebuch über den Krieg.
Mein Vater hat unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sein Leben der Rekonstruierung gewidmet. Er wollte das rekonstruieren, was er gar nicht kannte, das noch zu Zeiten seines Vaters verschwunden war. Als Kind hatte er kein Weihnachtswunder erlebt. Er war ein Kind ohne Weihnachten. Und er war nicht der einzige. Aber er war sicher einer der wenigen, der sich als Ziel gesetzt hatte, Weihnachten zurück in unsere Familie zu bringen, in unser Zuhause, unsere kleine Stadt, fast an der Grenze zu Russland. Er hat Weihnachten meiner Schwester und mir zurückgebracht.
Die Mutter kochte zwölf Gerichte, die unbedingt ohne Fleisch sein mussten. Mein Vater fastete sechs Wochen lang vor Weihnachten und ass auch den ganzen Tag vor Heiligabend nichts. Beim Einbruch der Dunkelheit beobachtete er den Himmel und wartete auf den ersten Stern. Nur mit dem Licht des ersten Sterns durften wir uns an den Tisch setzen und das Essen meiner Mutter geniessen.
Doch nur der Vater fastete in unserer Familie. Vielleicht, weil er allein es so ernst genommen hatte. Der, der als Kind kein Weihnachten hatte. Und so ist er in meinem Gedächtnis geblieben, wie er in der Küche steht und zum Fenster auf den Himmel hinaus blickt. Wie ein kleines Kind.
«Nach zehn Monaten Terror und Schrecken brauchen die Ukrainer zwei Weihnachten. Sie brauchen das doppelte Licht und die Wärme dieses Festes.»
Unser Weihnachten feiern wir zwar am 7. Januar, basierend auf dem Julianischen Kalender. Am 6. Januar haben wir Heiligabend, während man hier in der Schweiz den Dreikönigstag feiert. Seit ein paar Jahren feiere ich zwei Weihnachten mit meiner neuen Familie. Einmal feiere ich am 25. Dezember mit meinem Mann und dann feiert er am 7. Januar mit mir. Ich feiere es für die, denen Weihnachten gestohlen wurde und denke an meine Eltern. Zwei Weihnachten sind doch besser als eins.
Auch viele Ukrainer*innen werden dieses Jahr zwei Weihnachten feiern. Nicht nur die, die ausgereist oder geflohen sind, sondern auch die, die im Land geblieben sind. Es ist unter anderem ein symbolisches Zeichen, sich von Russland noch weiter zu entfernen und sich den europäischen Traditionen zu nähern. Laut der Umfrage von BBC Ukraine werden viele Ukrainer*innen ab diesem Jahr Weihnachten am 25. Dezember feiern. Für sie ist es eine bewusste Wahl. Und doch gibt es genug von denen, die eine gewöhnliche Feier behalten möchten. Ich verstehe sie, denn es gehört zu ihren alten Traditionen. Und sie wollen wahrscheinlich irgendetwas aus dem vorherigen Leben behalten, was noch nicht zerstört wurde.
Am 24. Dezember wird aber nicht nur ein Heiliger Abend beim Gregorianischen Kalender sein, sondern auch zehn Monate des Krieges. Nach zehn Monaten Terror und Schrecken brauchen die Ukrainer zwei Weihnachten. Sie brauchen das doppelte Licht und die Wärme dieses Festes.
Aber ist es Zeit zum Feiern, Weihnachtsbäume auf dem Platz im Stadtzentrum aufzubauen und zu schmücken, wenn es kaum Elektrizität gibt? Ist es Zeit für Freude, wenn diese Städte täglich von Raketen beschossen werden? Ist es Zeit für das Leben, wenn jeden Tag viele Menschen sterben, darunter auch oft Kinder? Es war keine einfache Frage für die Ukrainer*innen. Und doch hat sich die Mehrheit für das Leben und die Freude entschieden. Für einen Weihnachtsbaum und eine kleine Feier. Weil es genau das ist, was die Russen ihnen wegnehmen wollen und die Bevölkerung täglich mit Drohnen und Raketen terrorisieren.
In Kyiv baut man einen künstlichen Weihnachtsbaum auf, der Baum und der Schmuck sind von vorherigen Jahren. Und die Beleuchtung, die von Stromgeneratoren kommt, finanzieren lokale Geschäftsleute, damit man dem Staat keine Geldverschwendung in der Kriegszeit unterstellen kann. Die Beleuchtung wird aber nur an bestimmten Uhrzeiten und Tagen eingeschaltet.
Nicht nur Kyiv, sondern auch andere Städte verzichten nicht auf einen Weihnachtsbaum. In Charkiw wird der Baum in der U-Bahn-Station, wo man sich am sichersten fühlt, aufgebaut.
Die Freundin von mir, die in Kyiv geblieben ist und inzwischen schon ihr Kind bekommen hat, stellt mit ihrem Mann ihre eigenen Kerzen her. Sie hat mir erzählt, dass sie einmal während eines Blackouts so wütend und ratlos geworden sind, dass sie auf die Idee gekommen sind, die Kerzen zu machen, sie zu verkaufen und das eingenommene Geld zu spenden.
Gleichzeitig sammeln Freiwillige in Polen Taschenlampen oder kaufen sie für das gespendete Geld ein. Sie verschicken dann die Taschenlampen als Weihnachtsgeschenk an die Kinder in die Ukraine. Da viele Kinder Angst vor der Dunkelheit haben, möchten sie ihnen einen Lichtstrahl schenken und dabei sagen, dass die Welt sie nicht vergessen hat.
Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat die ukrainische Autorin Eugenia Senik ihre Gedanken, Sorgen und Ängste für Bajour aufgeschrieben. Du kannst sie als Podcast hören, Eugenia hat die Texte selber eingesprochen.
Und so, mit den selbstgemachten oder gekauften Kerzen, mit den geschenkten Taschenlampen oder ausgeliehenen Generatoren, im Keller, Flur, oder – wenn man es wagt, gleich im eigenen Wohnzimmer, werden Millionen von Ukrainer*innen dieses Weihnachten bei ihnen zu Hause feiern. Wahrscheinlich wollen sie ihre Traditionen in ihrem Zuhause bewahren, trotz des Aggressors, der sie und das Leben selbst eliminieren will.
Und die, die gewagt haben, das Zuhause zu verlassen und ihre Traditionen mit dem Wichtigsten in den Koffer eingepackt haben, werden zusammen mit euch Weihnachten am 25. Dezember feiern. Am Heiligabend werden sich ihre Gedanken unaufhörlich darum drehen, dass es schon der zehnte Monat des Krieges ist. Sie würden sich wünschen, so bald wie möglich nach Hause zurückzukehren. Vor allem werden sie sich das Ende des Krieges wünschen und auf das Weihnachtswunder hoffen.
Und dasselbe werden sie noch einmal am 7. Januar wiederholen. Weil wir alle dieses Jahr, wie nie zuvor, zwei Weihnachten brauchen. In der Ukraine und ausserhalb unseres Landes brauchen wir das Licht des ersten Sterns und Licht selbstgemachter oder gekaufter Kerzen. Es hilft uns, das Licht in unseren eigenen Herzen zu bewahren. Denn dieses Licht wird bestimmt die Dunkelheit besiegen.
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