Die Mitte gibt es nicht
Zu rechts für die Linken und zu links für die Rechten: Das ist die GLP. Die Sotomo-Auswertung im Auftrag von Bajour zeigt, dass die Grünliberalen die «wahre» Mitte im Grossen Rat sind. Und das Grünalternative Bündnis polarisiert nach links.
Seit zwei Jahren heisst die CVP «die Mitte». Auf ihrer Homepage schreibt sie, sie wolle «als echte Mitte-Partei Vermittlerin sein zwischen den Fronten».
Doch wenn man sich die Daten anschaut, sieht man: Noch nie seit Einführung der elektronischen Abstimmungsanlage war die Mitte-EVP-Fraktion im Grossen Rat so «unmittig» wie jetzt. Das geht aus dem Grossrats-Rating hervor, das die Forschungsstelle Sotomo für Bajour erstellt hat.
Die Daten zeigen: «Die Mitte» driftet seit einem Jahrzehnt nach rechts, genauso wie die anderen bürgerlichen Parteien. Die tatsächliche Mitte heisst GLP, ihre Repräsentant*innen haben die tiefsten DW-Nominate-Werte (siehe Box) aller Grossrät*innen.
Das zeigt: Behauptung und Realität driften in der Politik häufig auseinander. So werfen Linke und Rechte der GLP immer wieder vor, sie sei zu rechts respektive zu links.
Angefangen hat das wohl mit der nationalen SVP, welche die bürgerlichen Parteien seit Jahren vor sich hintreibt mit der Kritik, diese würden die bürgerlichen Werte verraten.
Zumindest in Basel-Stadt zeigen die Daten: Das Gegenteil ist der Fall. Die Bürgerlichen tendieren nach rechts.
Wobei: Bei der baselstädtischen SVP scheint der Konfrontationskurs seit den Wahlen 2020 abzunehmen, das hängt aber (auch) mit dem Ersatz einiger Hardliner wie Roland Lindner und Patrick Hafner zusammen. Und einem Phänomen, das sich in dieser Form in anderen Fraktionen nicht beobachten lässt: dem «Einmitten» einzelner Parlamentarier*innen wie Gianna Hablützel und Pascal Messerli.
Das Grossrats-Rating wird nach der Methode «DW Nominate» berechnet. Dieses Verfahren wurde für den amerikanischen Kongress entwickelt und bildet die ideologische Ausrichtung der Parlamentarier*innen ab, ohne dass die einzelnen Abstimmungen bewertet werden müssen. Minus 100 bedeutet ganz links, plus 100 ganz rechts. Als Grundlage für die Berechnung der Grossrats-Auswertung 2022 wurden die 34’500 bei Abstimmungen und Schlussabstimmungen elektronisch abgegebenen Stimmen verwendet, die von Januar bis Dezember 2022 aufgezeichnet wurden und auf opendata.bs.ch in maschinenlesbarer Form publiziert sind.
Bajour hat die Daten von der Forschungsstelle Sotomo auswerten lassen. Sotomo erstellt nach demselben Prinzip für die «NZZ» jährliche Ratings für den National- und den Ständerat, zuletzt im Dezember 2020. Die «bz» hat 2019 erstmals das Abstimmungsverhalten im Basler Grossen Rat nach demselben Verfahren analysiert. «DW Nominate» ist eine Abkürzung und steht für dynamisch-gewichtete, nominale Drei-Schritt-Berechnung.
Die viel zitierte Polarisierung lässt sich dagegen vor allem am linken Ende der Skala beobachten: Insbesondere das Grün-Alternative Bündnis GAB entfernte sich bis 2017 in grossen Schritten in Richtung politisches Niemandsland. Mit Elisabeth Ackermann als Regierungsrätin stoppte der Trend, seit ihrer Abwahl ist das GAB nicht mehr in der Regierung. Die Oppositionsposition macht sich auch in den Daten bemerkbar: Seit 2021 stimmen die GAB-Politiker*innen noch akzentuierter links.
Aktuell zeigt sich das beispielsweise in der Steuerdebatte. Die Regierungspartei SP trägt das von bürgerlicher Seite initiierte und von SP-Finanzdirektorin ausgearbeitete Steuersenkungspaket mit. Grüne, Basta und Juso dagegen bekämpfen das Paket, am 12. März stimmen wir darüber ab.
Konstant politisiert haben im vergangenen Jahrzehnt gemäss DW-Nominate-Auswertung die SP – und eben die GLP. Die Grünliberalen stellen mit Johannes Sieber den am ausgeglichensten abstimmenden Grossrat:
Ganz rechts aussen gibt es noch eine kleine Überraschung: Dort ist nicht nur David Trachsel, der mit seinen Positionen zuweilen sogar in der eigenen Partei aneckt und der die SVP-Fraktion gemäss Bajour-Recherchen in Richtung Aargau verlässt. Die rechteste Position hat seine Kollegin Gianna Hablützel, die mit einem DW-Nominate-Wert von 87 über die letzten zwei Jahren noch einen Punkt rechter abgestimmt hat als Trachsel.
Mit dem Mauszeiger lässt sich die Grafik erkunden – interessierte Leser*innen können selbst herausfinden, wer die linkeste und wer der rechteste Grossrät*in war. Aber Obacht, innerhalb der Fraktionsblöcke kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich trotz 70’000 ausgewerteter Stimmabgaben um Zufallsplatzierungen handelt, unter anderem wegen Abwesenheiten und mathematischen Rundungen.
Doch zwischen dem linken und rechten Flügel der Parteien sind die Unterschiede stichhaltig – und erst recht bei Politiker*innen wie dem Mitte-Mitglied und Kandidaten für das Riehener Gemeindepräsidium Daniel Albietz. Er ist für seine radikale Ablehnung von Abtreibungen oder seiner Coronapolitik bekannt und das schlägt sich auch im Sotomo-Rating nieder: Albietz steht weitaus rechter als seine Fraktionsmitglieder und auch rechter als alle FDP-Grossrät*innen.
Insgesamt haben wir Daten von 227 Grossrät*innen analysiert. Gibt man sie auf einer Grafik aus, zwingt es selbst Excel in die Knie. Deshalb hier eine Auswahl einiger besonders interessanten Grossrats-Karrieren.
Auch hier zeigt sich: Grundsätzlich zieht es Politiker*innen aller Parteien zu den Polen, bürgerliche werden von Jahr zu Jahr bürgerlicher, die Linken werden linker. Ein Beispiel: Raoul Furlano von der LDP. Bei seinem Eintritt in den Grossen Rat 2014 politisierte er auf der Linie, die heute Mitte-Grossrätin Andrea Knellwolf einnimmt. In den acht Jahren im Grossen Rat verdoppelte sich der DW-Nominate-Abstand Furlanos von der Mitte auf einen Wert, den zu Messbeginn ein gemässigter SVP-Politiker wie Alexander Gröflin hatte, der heute im Bürgergemeinderat ist. Zusammengezählt haben die drei (Knellwolf, Furlano und Gröflin) in ihren Polit-Biografien einen kombinierten Rechtsrutsch von 70 Punkten gemacht – das ist fast so viel wie der aktuelle Unterschied zwischen SP und FDP.
Dem Polarisierungstrend widersetzt haben sich gemäss Abstimmungsprotokoll die SP-Politikerinnen Tanja Soland und Salome Hofer. Soland ist mittlerweile Regierungsrätin, Hofer wurde immer wieder als Regierungsratskandidatin gehandelt. «Wenn mich etwas davon abhält, als Regierungsrätin zu kandidieren, dann ist es der Wahlkampf», sagte sie 2021 zur bz. Mittlerweile ist sie aus dem Grossen Rat ausgeschieden – exakt 31 Jahre zu früh, um bei gleichbleibendem Mitte-Drift im Jahr 2054 im bürgerlichen Lager angekommen zu sein.
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