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Tod im Waaghof

Die Asche der Tochter

Kowsika hatte schon zu Hause in Sri Lanka Gewalt von Männern erfahren. Sie wollte nur weg, ihr Leben anderswo leben. Doch in der Schweiz trifft sie auf ein System, das sie in den Suizid treibt. «Tod im Waaghof», Teil 2.

Daniel Faulhaber
Nivethan Nanthakumar, Republik

03/29/23, 03:00 AM

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Eine Zelle im Untersuchungsgefängnis Waaghof.

Eine Zelle im Untersuchungsgefängnis Waaghof. (Foto: Illustration Isabel Seliger/Republik)

Eine Warnung: Dieser Beitrag behandelt die Themen Suizidalität und sexualisierte Gewalt. Im Text werden Videoaufnahmen beschrieben, die das Geschehen zeigen.

Ihr Name war Kowsika

Ihr Name war Kowsika

Am Montag erschien der erste Teil unserer gemeinsamen Recherche mit der Republik. Darin geht es um Kowsikas Vergewaltigung in Sri Lanka, die sie zur Flucht bewogen hatte. Und um ihr abgewiesenes Asylgesuch in Basel und ihren Suizid am 12. Juni 2018 im Basler Untersuchungsgefängnis Waaghof.

Lies hier Teil 1

August 2021: Vier Aufseher*innen stehen vor dem Basler Strafgericht, weil sie rund 15 Minuten warteten, bevor sie versuchten, das Leben der 29-jährigen Kowsika zu retten. Die grossen Abwesenden während der Verhandlung sind – die Angehörigen.

Da ist keine Mutter, die Gerechtigkeit für ihre Tochter fordert. Kein Vater, der um sein Kind weint. Und vom Staatsanwalt bis zu den Journalist*innen fragen sich alle: Warum gibt es in diesem Prozess keine Privatklägerschaft?

Wo ist die Familie von Kowsika?

«Was ist mit meiner Tochter passiert, bevor sie starb?»

fragt Kowsikas Mutter die Journalist*innen.

Rund ein halbes Jahr nach dem Prozess steht eine wacklige Verbindung nach Sri Lanka, ein unscharfes Bild aus einer beschlagenen Handykamera, die Stimme einer trauernden Mutter.

«Was ist mit meiner Tochter passiert, bevor sie starb?», fragt sie, mit schmerzerfülltem Gesicht und brüchiger Stimme.

Und die Schwester fragt: «Haben sie unsere Kowsika gefoltert? Im Gefängnis? Hat sie sich deswegen umgebracht?»

Denkst du an Suizid, hier findest du Hilfe:

  • Dargebotene Hand: Telefonisch 143 wählen. Anonym und rund um die Uhr.
  • Medizinische Notrufzentrale Basel-Stadt: Was tun im Notfall? 061 261 15 15
  • Zentrum für Diagnostik und Krisenintervention Akutambulanz (ab 18 Jahren) 061 325 81 81
  • Klinik für Kinder und Jugendliche der UPK Basel: 061 325 82 00

Im Herbst 2017 hatte das Migrationsamt in Basel Kowsika mitgeteilt, dass es nicht auf ihr Asylgesuch eintrete und sie stattdessen nach Malta abschiebe. Denn formell war Malta für ihr Asylgesuch zuständig, nicht die Schweiz. Schliesslich war Kowsika mit einem maltesischen Visum nach Europa gekommen.

Aber Kowsika will nicht nach Malta. Sie kennt niemanden dort, was soll sie da?

Also taucht Kowsika unter. Achtzehn Monate lang muss sie in der Schweiz unentdeckt bleiben, dann ändern die asylrechtlichen Verantwortlichkeiten: Zuständig würde die Schweiz. Als Frau und Tamilin rechnet sich Kowsika gute Chancen auf Asyl aus. Sie muss nur durchhalten.

Es gelingt ihr neun Monate lang.

«Grössere Diaspora-Gemeinschaften sind engmaschige soziale Netze, die Solidarität begünstigen können. Aber über sie kann auch viel Kontrolle ausgeübt werden.»

sagt Moreno Casasola von der Freiplatzaktion Basel.

«Abtauchen ist ganz allgemein riskant», sagt Moreno Casasola von der Freiplatzaktion Basel. «Und erst recht für Frauen.» Die Freiplatzaktion wurde 1985 als Beratungsstelle für tamilische Migrant*innen gegründet und berät heute vor allem Sans-Papiers – Menschen, die nach abgewiesenem Asylgesuch in Nothilfestrukturen landen, die nie bei einem Amt vorstellig geworden sind oder die – wie Kowsika – nach einem negativen Bescheid untertauchen.

Die Männer arbeiten dann vor allem auf dem Bau, in der Landwirtschaft, im Eventbereich: Schwarzarbeit ist meist Schwerstarbeit. Und dafür nimmt man lieber Männer.

Abgetauchten Frauen bleibt dagegen oft keine andere Option, als zu putzen – häufig in Privathaushalten, wo sie zusätzlich Angehörige pflegen. Oder sie sind in der Sexarbeit tätig. Das macht sie verletzlicher als ihre männlichen Schicksalsgenossen. «Es verstärkt die Abhängigkeit. Und führt mitunter auch zu sexueller Ausbeutung», sagt Casasola. Grössere Diaspora-Gemeinschaften seien engmaschige soziale Netze, die Solidarität begünstigen könnten, sagt Casasola weiter. Aber: «Über sie kann auch viel Kontrolle ausgeübt werden.»

Dies betrifft besonders Frauen.

«Kowsika machte einen selbstbewussten und zielstrebigen Eindruck.»

sagt Karuna, die einen Monat lang Kowsikas Zimmergenossin im Bundesasylzentrum Bässlergut war.

Wie es Kowsika ergeht, als sie untertaucht, darüber gibt es keine lineare Erzählung. Viele, denen Kowsika in dieser Zeit begegnete, schweigen trotz Zusicherung von Anonymität. Manche aus Angst vor Repressionen, weil sie eine Sans-Papiers-Frau deckten. Andere wohl auch, weil sie ein schlechtes Gewissen haben. Vielleicht, weil sie sich für Kowsika verantwortlich fühlen. Vielleicht auch, weil sie Kowsikas Notlage ausgenutzt haben.

Die Informationen sind Bruchstücke, die sich zu einem lückenhaften Bild fügen. Sie kommen von Menschen, die Kowsika kennenlernten, bevor sie abtauchte, und mit ihr in Kontakt blieben bis zu ihrem Tod. Von Karuna zum Beispiel, einer Zimmergenossin, mit der Kowsika im Bundesasylzentrum Bässlergut in Basel einquartiert war, während beide auf ihren Asylentscheid warteten.

«Kowsika machte einen selbstbewussten und zielstrebigen Eindruck», sagt Karuna. Sie habe viel von ihrer Familie gesprochen. Über die Gewohnheiten der Mutter, zum Beispiel, oder über die Beziehung zu ihrer Schwester.

Aber wie Kowsika in die Schweiz gereist war oder welche Pläne sie noch hatte – darüber habe sie nicht gesprochen. Karuna und Kowsika lebten nur einen Monat zusammen im Bässlergut. Dann wurde Karunas Asylgesuch angenommen. Und auf Kowsikas Gesuch nicht eingetreten.

Kowsikas grösster Traum war, eines Tages einen eigenen Kosmetiksalon zu betreiben.

Kowsikas grösster Traum war, eines Tages einen eigenen Kosmetiksalon zu betreiben. (Foto: Illustration Isabel Seliger/Republik)

Ein anderer Weggefährte erzählt, als Kowsika abgetaucht sei, habe sie in einem tamilischen Restaurant bei Basel gearbeitet, ohne Arbeitsbewilligung. Sie habe auch in tamilischen Haushalten geputzt und Betagte gepflegt. Irgendwann aber gehen in Basel Gerüchte um: Kowsika sei eine liederliche Frau, sie verführe die Männer, in dessen Haushalten sie putzt.

Ausgerechnet. Kowsika, über die Mutter und Schwester sagen, sie habe sich nie für Männer interessiert.

Aber die Wahrheit spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle. Kowsikas Ruf ist ruiniert, und ihr bleibt nichts anderes übrig, als Basel zu verlassen. Sie zieht nach Biel. Dort ist die Arbeitssituation nicht besser, erzählt sie der Familie. Auch dort soll sie als Haushaltshilfe gearbeitet haben, berichten zwei ehemalige Weggefährten.

Kowsika schickt der Schwester und der Mutter Pakete mit Schokolade und Kleidern. Sie versucht auch, Geld zu schicken, um die Schulden bei den Schleppern abzuzahlen. Mehr als 300 Franken schafft sie nicht.

Die vollständigen Akten bestehen aus einem Blatt Papier

Offiziell taucht Kowsika im Sommer 2018 wieder auf. Am 9. Juni wird sie um 12.22 Uhr in einem Einkaufszentrum in Biel vom Sicherheitsdienst wegen Verdachts auf Ladendiebstahl festgehalten. Was sie gestohlen haben soll, ist nirgends dokumentiert, niemand stellt einen Strafantrag. Jedenfalls hat die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern nie etwas von einer Kowsika gehört.

Die Stadtpolizei Biel, die der Sicherheitsdienst des Einkaufszentrums an diesem Samstagmittag ruft, stellt schnell fest, dass Kowsika illegal in der Schweiz ist – und dass das Basler Migrationsamt für sie zuständig ist. Die Polizei bringt sie ins Regionalgefängnis Bern, von wo aus sie nach Basel gefahren werden soll.

Viel ist nicht dokumentiert von ihrem 35-stündigen Aufenthalt im Berner Gefängnis. Genau gesagt bestehen die vollständigen Akten – nach Angaben des Regionalgefängnisses – aus nur einem einzigen Blatt Papier. Es ist datiert, aber nicht unterzeichnet. Demnach beklagt sich Kowsika über Schmerzen in den Beinen, als sie ins Gefängnis gebracht wird. Im Übergabebericht des Gesundheitsdienstes des Regionalgefängnisses Bern steht, dass aufgrund der Sprachbarriere nicht genau nachvollzogen werden könne, woher die Schmerzen stammen: «Ev. von einem Sturz bei der Verhaftung. Hat 2× Irfen 400 mg erhalten.»

Laut Bundesverfassung hat jede Person, die verhaftet wird, das Recht, dass ihr in einer ihr verständlichen Sprache erklärt wird, warum sie ins Gefängnis muss und welche Rechte sie hat. Im Fall von Kowsika gibt es keinen Hinweis darauf, dass ihr dieses Recht gewährt worden wäre: Es ist in den Akten nicht dokumentiert, dass die Bieler Stadtpolizei eine*n Dolmetscher*in aufgeboten hätte, und Kowsika spricht, nachdem sie in der Schweiz neun Monate ausschliesslich in tamilischen Haushalten verbracht hat, kein Deutsch und nur sehr rudimentäres Englisch.

«Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die aufgrund von Einreiseverboten oder fehlender Aufenthaltsbewilligung in Haft geraten, nicht wissen, wie ihnen geschieht.»

sagt Moreno Casasola von der Freiplatzaktion Basel.

«Das Unterlassen der Informationspflicht ist eine gängige Verfehlung», sagt das Team der Freiplatzaktion Basel. «Genauso wie man es unterlässt, Menschen darauf hinzuweisen, dass sie das Recht auf Kontakt zur Aussenwelt und zu rechtlicher Vertretung haben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die aufgrund von Einreiseverboten oder fehlender Aufenthaltsbewilligung in Haft geraten, nicht wissen, wie ihnen geschieht.»

Die Schweizerische Strafprozessordnung hält zudem klar fest, dass Menschen nur inhaftiert werden dürfen, wenn ihnen eine Haft physisch und psychisch zugemutet werden kann. Im Jargon heisst das: Hafterstehungsprüfung. Bei Kowsika wird gemäss den vollständigen Akten des Regionalgefängnisses Bern keine Hafterstehungsprüfung gemacht.

Und das, obwohl gemeinhin bekannt ist, dass Geflüchtete oft traumatisiert sind. Besonders wenn sie aus Kriegsgebieten stammen. Besonders wenn sie Frauen sind.

Frauen wie Kowsika.

Der Krieg in Sri Lanka

Kowsika kam 1988 zur Welt, da herrschte auf Sri Lanka seit 5 Jahren Krieg. Der Krieg dauerte insgesamt 26 Jahre, erst 2009 fand er offiziell ein Ende.

Die Ursprünge des Krieges, in dem wohl mehr als 100’000 Menschen starben, gehen weit zurück, bis in die Kolonialzeit, als die Briten die Insel beherrschten und als geopolitisch und strategisch wichtigen Standort nutzten. 1833 vereinten die britischen Kolonialherren ohne Rücksicht auf die historischen Gegebenheiten Sri Lanka zu einer einzigen administrativen Einheit, obwohl die Insel seit jeher in verschiedene Königreiche unterteilt gewesen war.

Dabei wurden die mehrheitlich hinduistischen und christlichen Tamilen zu einer Minderheit gemacht. Parallel dazu entstand ein singhalesisch-buddhistischer Nationalismus, der glaubt, die Singhalesen seien das auserwählte Volk, erkoren, den Buddhismus zu schützen.

1948 entliessen die Briten Sri Lanka in die Unabhängigkeit. Sie übertrugen die Macht der singhalesischen Mehrheit. Im gleichen Jahr wurde mehr als 700’000 Tamil*innen die Staatsbürgerschaft aberkannt, rund 11 Prozent der Bevölkerung verloren das Bürgerrecht. Als 1956 Tamilisch nicht mehr als Landessprache anerkannt war, formierte sich unter Tamil*innen politischer Widerstand.

1976 werden die Liberation Tigers of Tamil Eelam gegründet, besser bekannt als Tamil Tigers. Sie gehen mit Gewalt gegen die sri-lankische Regierung vor: Sie legen Bomben, sprengen sich selbst in die Luft, zwingen Kinder als Soldaten in den bewaffneten Kampf. Der Staat reagiert mit aller Härte. In den 1980er-Jahren herrscht auf Sri Lanka offener Krieg, Tausende fliehen. Auch in der Schweiz kommen die ersten tamilischen Geflüchteten an.

epa01722121 Students from a leading school do a painting depicting the on-going conflict in the north-eastern part of the island on the walls of the Football Federation in Colombo, Sri Lanka, 07 May 2009. With the Sri Lankan military gaining the upper hand and almost finishing off the separatist Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) while its leaders are said to be trapped in four sq. mile area, the population hopes to see an end to the conflict which has been dragging on for more that a quarter century. The majority love and respect the security forces personnel while the government too has declared a War Hero's month beginning today to uplift those military personnel who have been disabled or the families of those who had died in this war. EPA/M.A.PUSHPA KUMARA

Schüler bemalen 2009 die Wände mit einer Szene des Konflikts zwischen den Tamil Tigers und des sri-lankischen Militärs. (Foto: EPA/M.A.PUSHPA KUMARA)

Um die Jahrtausendwende haben die Tamil Tigers zahlreiche tamilische Gebiete unter Kontrolle. Sie bauen eine Selbstverwaltungsstruktur auf, rüsten ihre Streitkräfte auf mit Flotte und Luftwaffe.

2008 starten die Truppen der sri-lankischen Regierung eine Grossoffensive und erobern Anfang 2009 Kilinochchi, die administrative Hauptstadt der Tamil Tigers. Hunderttausende fliehen in sogenannte «no fire zones». Doch die singhalesische Regierung bombardiert diese systematisch, wie journalistische Recherchen aufdecken. In den letzten Monaten des 26-jährigen Kriegs gibt es zahlreiche Massaker, Tausende Menschen werden durch Bombardements und aussergerichtliche Tötungen umgebracht.

Die Massaker sind bis heute nicht als Völkermord anerkannt. Die singhalesische Regierung streitet ab, Kriegsverbrechen begangen zu haben.

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2009 endet der Krieg offiziell. Aber die Gewalt geht weiter. Die singhalesische Regierung lässt Kritiker*innen entführen und foltern. Ganze Familien verschwinden bisweilen. Die Uno schreibt in aktuellen Berichten über Akte staatlicher Folter und sexueller Gewalt gegenüber Tamil*innen, die bis heute andauern.

Gewalt, die auch Kowsika erfahren hat.

Als Kowsika in Basel um Asyl bittet, gibt sie an, dass sie von der singhalesischen Armee festgenommen wurde. Es war eines Nachts Ende Dezember 2016, Kowsika fuhr mit ihrem Mofa wieder einmal spät von der Arbeit nach Hause, als sie angehalten wurde. Drei Tage lang, sagt sie den Migrationsbehörden in der Schweiz, sei sie in einem Raum festgehalten und vergewaltigt worden. Sie habe die Männer gekannt, sagt sie dem Migrationsamt. Sie hätten sie nicht zum ersten Mal angehalten.

Der Stützpunkt ihrer Peiniger lag direkt an ihrem Heimweg. Für die Familie war klar: Kowsika musste weg. Sri Lanka war für sie nicht mehr sicher.

Einen Monat später verliess Kowsika das Land. Etwas über 18 Monate später wurde sie vom Regionalgefängnis Bern nach Basel überstellt – gefesselt mit Handschellen. Eine 29-jährige Frau, die in der Schweiz Schutz suchte, weil sie in ihrer Heimat mehrere Tage lang von uniformierten Männern vergewaltigt worden war. Die sich hier nichts hatte zuschulden kommen lassen, ausser keine Aufenthaltsbewilligung zu haben. Sie wurde für einen dreieinhalbstündigen Transport in Handschellen gelegt und von Uniformierten abgeführt. Höchstwahrscheinlich ohne dass ihr jemand in ihrer Sprache verständlich gemacht hatte, was mit ihr geschehen würde.

«Haben sie Kowsika gefoltert?», fragt uns die Schwester im Videocall.

Die Mutter fragt: «Warum war Kowsika im Gefängnis?»

Am 9. Juni 2018, am Tag ihrer Verhaftung und fünf Tage vor ihrem Tod, schickt Kowsika die letzte Nachricht an ihre Schwester. «Macht euch keine Sorgen», schreibt sie über den Facebook-Messenger. «Ich schaue, dass ich endlich Arbeit finde und Geld schicken kann für das Kind.»

Sie meint das Kind ihrer Schwester Kowsela, das in jenen Tagen zur Welt kommen soll. Doch die frohe Botschaft eines gesunden Kindes vernimmt Kowsika nicht mehr. Als Kowsika tagelang nichts von sich hören lässt, machen sich Kowsela und die Mutter Sorgen.

Am 18. Juni, vier Tage nach Kowsikas Tod, macht die Mutter gerade Frühstück, der kleine Bruder putzt die Wohnung und Schwester Kowsela sitzt mit dem Baby auf dem Sofa, als frühmorgens zwei Freunde der Familie vor der Wohnungstür in Trincomalee stehen. Sie erzählen, was sie auf der Website Lankasri gelesen haben, einer Plattform, die über Schicksale von Exil-Tamil*innen schreibt: «Frau nimmt sich in Schweizer Gefängnis das Leben.»

Die Mutter weiss sofort: Das ist ihre Tochter. Kowsika.

«Das Gefängnis in der Schweiz ist doch für Verbrecher – für gefährliche Menschen. Warum war Kowsika im Gefängnis?»

fragt Kowsikas Mutter die Journalist*innen.

Jetzt sitzt die Mutter in einem Internetcafé in Trincomalee, über die Lautsprecher ist ein Schluchzen zu hören. «Sie war meine Tochter», sagt die Mutter. «Warum musste sie denn ins Gefängnis, sie hat doch nichts Böses gemacht? Das Gefängnis in der Schweiz ist doch für Verbrecher – für gefährliche Menschen. Warum war Kowsika im Gefängnis?»

Es hatte Monate gedauert, die Verwandten von Kowsika zu finden. Prozess und Anklageschrift hatten nur ihren Namen und ihre Staatsangehörigkeit preisgegeben, mehr nicht. Hinzu kamen harte Covid-Lockdowns in Sri Lanka, immer wieder Stromausfälle, Unruhen, das Land befindet sich in der schlimmsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Aber im Winter 2021 stand endlich eine wacklige Verbindung nach Trincomalee.

Während in der Schweiz schon ein eisiger Wind durch die Strassen bläst, herrschen in der Hafenstadt im Nordosten 30 Grad. Die Handykamera ist beschlagen.

Die Situation aber ist glasklar: Kowsikas Familie wurde vom Schweizer Staat in verschiedenen Belangen unzulänglich und inkorrekt informiert.

Wie die Behörden versagten

Das Migrationsamt Basel hatte Namen und Adresse der Mutter von Kowsika in den Akten. Aber bei der Familie meldet sich in den Tagen nach Kowsikas Tod weder die Basler noch eine andere Schweizer Behörde. Stattdessen schickt die Schweizer Botschaft in Sri Lanka dem Staatssekretariat für Migration in Bern eine Mail: Darin verlinkt sie den gleichen Artikel, von dem an diesem Tag auch die Mutter hört und in dem sie sogleich ihre Tochter erkennt.

Das Staatssekretariat für Migration antwortet der Botschaft in Sri Lanka knapp: «Medienanfragen hatten wir bisher keine dazu.»

Am 14. Juni 2018 berichten Schweizer Medien über den Suizid einer sri-lankischen Staatsangehörigen im Basler Waaghof. Am Tag darauf werden zwei Onkel von Kowsika bei der Basler Staatsanwaltschaft vorstellig. Kowsikas Mutter habe sich bei ihnen gemeldet und um Auskunft über den Todesfall gebeten. Die Mutter habe seit dem 9. Juni nichts mehr von der Tochter gehört.

Am 19. Juni um 14 Uhr wird Kowsikas Verwandten in der Schweiz ihr lebloser Körper vorgeführt. 10 bis 15 Minuten Zeit bekommen sie für die Verabschiedung. Die anwesenden Polizeibeamten bestätigen den Suizid und sprechen gegenüber den Onkeln davon, dass es Videoaufzeichnungen gebe. Sie raten den Verwandten jedoch davon ab, sie anzusehen – die Bilder seien «nicht schön». So berichtet es jemand, der damals im Raum war.

Am nächsten Tag schreibt die Familie der zuständigen sri-lankischen Behörde, dass sie davon ausgeht, dass es sich bei der Verstorbenen um Kowsika handle.

Einen Tag später, am 21. Juni 2018, schreibt die der Staatsanwaltschaft angegliederte Kriminalpolizei Basel-Stadt der Mutter und der Schwester in Sri Lanka auf Englisch:

Mehr steht nicht über die Umstände ihres Todes.

Knapp drei Wochen später wird Kowsikas Asche nach Sri Lanka überstellt. Für den Transport verrechnet der Schweizer Staat der trauernden Familie eine Gebühr von 60’000 sri-lankischen Rupien – damals rund 380 Franken, fast drei Monatslöhne. Viel Geld für die Familie, die bei den Schleppern immer noch hoch verschuldet ist.

Am 13. August 2018 schreibt Kowsikas Mutter in holprigem Englisch einen Brief an die Schweizer Botschaft an der Gregory’s Road 63 in Colombo.

Zwei Monate später antwortet die Botschaft, dass man sehr betroffen sei und aufrichtiges Beileid anerbiete. Die Botschaft habe den Brief gelesen und verstehe die Schwierigkeiten und Fragen. Eine Entschädigung «für den Tod ausländischer Staatsangehöriger» sei allerdings nicht vorgesehen.

Die Botschaft schreibt, das Generalsekretariat von Sri Lanka habe um folgende Dokumente gebeten: den Untersuchungsbericht der Polizei, die Autopsie, die Todesurkunde.

Mit keinem Wort erwähnt die Botschaft gegenüber der Familie, dass die Staatsanwaltschaft Basel zu diesem Zeitpunkt bereits eine Strafuntersuchung eingeleitet hat. Weiter verschweigt sie, dass im Fall einer Anklage die Möglichkeit einer Staatshaftungsklage im Raum steht, die eine Verbliebenen-Entschädigung für allfälliges staatliches Fehlverhalten vorsieht – unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Verbliebenen.

Die Mutter und die Schwester werden genauso wenig darüber informiert, dass die Basler Staatsanwaltschaft später Anklage gegen vier Aufseher*innen erhebt – und dass die Familie im folgenden Prozess das Recht hätte, als Privatklägerin aufzutreten.

Der Staatsanwalt informierte die am Verfahren teilnahmeberechtigte Mutter nicht über den Abschluss der Untersuchung und die anstehende Gerichtsverhandlung.

Erst am 3. Februar 2020, mehr als eineinhalb Jahre nach Kowsikas Tod, meldet sich der Erste Basler Staatsanwalt telefonisch bei Kowsikas Onkel in der Schweiz. Er sagt ihm, er werde ihm eine schriftliche Ankündigung über den Abschluss des Strafverfahrens zukommen lassen. Sie sei für Kowsikas Eltern bestimmt.

Der Onkel antwortet in gebrochenem Deutsch, wie der Staatsanwalt in einer Notiz festhält, dass er nur selten Kontakt zu den Eltern von Kowsika habe.

Trotzdem informiert der Staatsanwalt die am Verfahren teilnahmeberechtigte Mutter nicht über den Abschluss der Untersuchung und die anstehende Gerichtsverhandlung. Das ist ein klarer Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, wonach Angehörige angemessen an Strafverfahren zu beteiligen sind.

Dass die Aufseher*innen, in deren Obhut sich Kowsika zum Zeitpunkt ihres Suizidversuchs befand, erst nach 10 Minuten den Notruf verständigten und eine Viertelstunde lang keine lebenserhaltenden Massnahmen ergriffen, erfahren Mutter und Schwester erst drei Jahre nach Kowsikas Tod. Nicht von offiziellen Vertreter*innen des Schweizer Staates, sondern von drei Journalist*innen, die sich an einem trüben Wintermorgen aus einem Sitzungszimmer in Basel über eine wacklige Internetverbindung bei ihnen melden.

Die Familie wurde drei Monate im Dunkeln gelassen

Es ist nicht alltäglich, dass man als Journalist*in plötzlich selbst zur Akteur*in in einer Geschichte wird. Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, weil das, was man während der Recherche herausfindet, die Umstände nachhaltig ändert. Das war hier der Fall.

Wir hatten während der Recherchen den Rechtsanwalt Philip Stolkin interviewt – als Experten für Staatshaftungsklagen im Kontext von Suizid in Haft. Denn er hatte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen Fall gegen den Schweizer Staat gewonnen, der in der Verhandlung gegen die vier Aufseher*innen mehrmals zitiert wurde.

Nachdem wir mit Kowsikas Mutter und Schwester gesprochen und die Dokumente geprüft hatten, die sie von der Schweiz erhalten hatten, riefen wir erneut bei Stolkin an, um seine Einschätzung zu hören.

Stolkins Antwort war unmissverständlich. Er wurde noch am gleichen Tag Anwalt von Mutter und Schwester, klagte sich zusammen mit seinem Kollegen Bernard Rambert erfolgreich in das bereits in Berufung gegangene Verfahren ein. Und wir, die drei Autor*innen dieses Beitrags, sind in diesem Nebenverfahren als Zeug*innen für die fehlerhafte Information der Familie in Sri Lanka aufgeführt. Nicht in unserer Funktion als Journalist*innen, sondern weil es unsere Pflicht als Bürger*innen ist.

Die Akten liefern keine klare Antwort. Sie liefern mehrere.

Zu den Untersuchungsakten sind wir jedoch nicht als Zeug*innen gekommen, sondern als Journalist*innen. Nachdem sie vom Schweizer Staat drei Jahre lang über die Umstände zu Kowsikas Tod im Dunkeln gelassen wurden, wünschten sich Mutter und Schwester ausdrücklich, dass sämtliche Unterlagen, die mit Kowsikas Fall zu tun haben, mit Bajour und der Republik zur freien Verwendung geteilt werden.

In den Akten haben wir auch nach Antworten gesucht auf die Fragen der Mutter: Warum musste Kowsika ins Gefängnis? Oder genauer: mit welcher rechtlichen Begründung? Unter welchem Hafttitel wurde sie überhaupt im Untersuchungsgefängnis Waaghof festgehalten?

Während des Prozesses blieb diese Frage ungeklärt. War Kowsika in Untersuchungshaft? In Ausschaffungshaft? Oder in Dublin-Ausschaffungshaft?

Die Akten liefern keine klare Antwort. Sie liefern mehrere. Wenn man sie zählt, dann kommt man insgesamt auf fünf verschiedene Hafttitel, also auf fünf verschiedene Begründungen, warum Kowsika im Gefängnis war.

Keine Antwort, aber eine Erkenntnis: Irgendetwas stimmt hier nicht.

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Zu den Co-Autor*innen und zur Serie

Es ist nicht das erste Mal, dass Missstände im Untersuchungsgefängnis Waaghof publik werden, als Daniel Faulhaber, damals noch Reporter bei Bajour, im Sommer 2021 zum ersten Mal von Kowsikas Fall hört. Er will der Sache auf den Grund gehen. Im Wissen, dass eine saubere Aufarbeitung alleine kaum zu bewältigen ist, kontaktiert er Republik-Reporterin Anja Conzett. Nach der Verhandlung gegen die vier Aufseher*innen sind sie sich einig, dass die Geschichte, die sie erzählen müssen, lange vor Kowsikas Suizidversuch begann.

Sie führen erste Hintergrundgespräche und treffen so auf den tamilischstämmigen Journalismusstudenten Nivethan Nanthakumar, der sich der Recherche anschliesst. Nanthakumar versucht, Kowsikas Angehörige ausfindig zu machen. Spricht mit Kowsikas Wegbegleitern in Basel, reist für Hausbesuche quer durch die Schweiz und telefoniert spätnachts nach Sri Lanka – monatelang, bis er sie findet und den Journalist*innen in der Folge Einsicht in die Untersuchungsakten gewährt wird, deren Studium weitere Monate Recherche in Anspruch nimmt.

In den anderthalb Jahren seit Recherchebeginn hat sich für die drei Autor*innen einiges verändert. Daniel Faulhaber ist unterdessen beim «Beobachter», wo er vermehrt über Justizthemen schreiben will. Anja Conzett hat ihre Festanstellung bei der Republik aufgegeben, um Vollzeit Jus zu studieren, und Nivethan Nanthakumar hat eine Ausbildung als Gerichtsdolmetscher begonnen.

Plötzlich ist sie ganz still

Plötzlich ist sie ganz still

Am Freitag erscheint Teil 3 der Recherche. Er geht den widersprüchlichen Haftumständen von Kowsika nach und der Frage, ob die Behörden schuld sind an ihrem Tod.

Lies hier Teil 3

Wir publizieren die Recherche gemeinsam mit der Republik in drei Teilen. Möchtest du, dass wir dir den gesamten Text, also alle drei Teile, am Freitagmorgen per E-Mail zuschicken, dann kannst du hier klicken.

Hoi, ich bin es nochmal, Andrea Fopp, Chefredaktorin von Bajour und ich freue mich, dass du diesen Artikel komplett gelesen hast. Kennst du schon das Inside-Bajour-Mail? Wenn du dich registrierst, dann schicken wir dir einmal pro Monat ein Update mit unseren besten Recherchen und darüber, was sonst noch so passiert bei unserem Medien-Startup. Hier kannst du dich anmelden.

Oder aber du kannst uns finanziell unterstützen, indem du mit der Twint-App diesen QR-Code scannst.

Spende in den Recherchierfonds

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