626 Milliarden Dollar für die Heimat
Fast alle ihr bekannten Geflüchteten aus armen, unterdrückten oder kriegsgeplagten Ländern schicken Geld nach Hause – auch wenn sie selbst kaum genug zum Überleben haben, schreibt unsere Kolumnistin Anni Lanz. So erhalte Migration die Funktion eines riesigen weltweiten Umverteilungsmechanismus.
Weil Mahmoud in einem unterirdischen Bundes-Asylzentrum in Basel lebt und jeden Tag bloss drei Franken erhält, gab ich ihm für seinen Lebensunterhalt etwas Geld. Voller Freude eröffnete er mir, dass er nun endlich seiner Mutter Geld schicken könne. Auch mein junger Freund im Heim für unbegleitete minderjährige Asylsuchende spart sich die Hälfte seiner Tagesgelder für seinen Lebensunterhalt vom Mund ab und schickt den Betrag seiner Mutter in Afghanistan. Bekanntlich dürfen Frauen in Afghanistan nicht mehr einer Erwerbsarbeit nachgehen und das Haus verlassen. Auch seine Familie leidet unter dem Talibanregime unter grosser Hungersnot.
Meine kinderlose Mitbewohnerin aus Togo bezahlt mit ihrem tiefen Lohn als Pflegehilfe das Schulgeld ihrer zahlreichen Neffen und Nichten daheim. Fast alle mir bekannten Geflüchteten aus armen, unterdrückten oder kriegsgeplagten Ländern schicken Geld nach Hause, auch wenn sie selbst kaum genug zum Überleben haben. Sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge lassen sich oft kaum von den politischen Flüchtlingen unterscheiden. Meines Erachtens ist Armut ein legitimer Auswanderungsgrund. An ihrer Stelle würden wir wohl auch einen besseren Ort suchen.
«Den Hauptpreis bezahlen die Migrant*innen, die die Remissen oft unter sehr schlechten Bedingungen erwirtschaften.»Anni Lanz
Die internationale Weltbank führt seit Jahrzehnten Statistiken über die sogenannten Remissen, die Geldüberweisungen von Migrant*innen an ihre Angehörigen. Diese Überweisungen nehmen unentwegt zu, oft antizyklisch bei weltweiten Wirtschaftskrisen. Letztes Jahr betrugen sie laut Weltbank 626 Milliarden Dollar, ein Mehrfaches der geleisteten Entwicklungshilfe weltweit. In vielen armen Ländern bilden die meist in kleinen Beträgen geschickten Überweisungen die Haupteinnahmequelle und kommen der Bevölkerung direkt zugute. Sie versickern nicht in den Taschen korrupter Beamter.
Migration erhält unter diesem Aspekt die Funktion eines riesigen weltweiten Umverteilungsmechanismus, analog zu unseren nationalen Steuersystemen. Nur: den Hauptpreis bezahlen die Migrant*innen, die die Remissen oft unter sehr schlechten Bedingungen erwirtschaften.
Anni Lanz ist selbsternannte Menschenrechtsaktivistin im Solinetz Basel. Seit fast 40 Jahren setzt sie sich für Geflüchtete und ihre Rechte ein. In ihrer Kolumne versucht sie ihnen eine öffentliche Stimme zu geben.
Während die meisten Politiker*innen in den westlichen Ländern Migration als eine Bedrohung unseres Wohlstands ansehen oder zumindest mit fremdenfeindlichen Versprechen die Zustimmung der Wählenden holen, hält die Weltbank Migration für einen positiven, unverzichtbaren Wirtschaftsfaktor, der für unzählige Angehörige daheim ein Einkommen und damit eine breitere Kaufkraft generiert. Auch aus feministischer Sicht sollte die frauenfördernde Funktion der Überweisungen anerkannt werden, ermöglichen sie doch unzähligen Mädchen Bildung und Berufsaussichten.
Die familiären Bindungen und Verpflichtungen sind ein zentraler Teil von Migration, bedeuten sie doch eine Bereitschaft zum Teilen, die der individualistischen Kultur des Westens ziemlich fremd ist. Abgesehen von den Verpflichtungen in der Kernfamilie, pflegt man hier meines Erachtens häufig einen ziemlich schamlosen Geiz. Bei Migrant*nnen aus anderen Kulturen stelle ich eine weit entwickelte Grosszügigkeit fest: Sie schenken von Herzen etwas, das sie besonders wertvoll erachten. Dies ist die positive Seite von Familienbindungen, die in ihrer negativen Form zu Nepotismus und entwicklungshemmender Korruption führen.
Mehr Respekt für Ältere
Der Verlust von familiären Bindungen, von Respekt gegenüber der älteren Generation in unserer Kultur empfinde ich als betagte Frau als Nachteil, zuweilen gar als Diskriminierung. Wir älteren Personen können diesbezüglich einiges von Migrant*innen lernen, und erfahren von ihnen zuweilen viel mehr Respekt als von jungen Einheimischen. Sie an unserem Leben teilhaben zu lassen, kann ein grosser Gewinn sein.
Uns vom Solinetz ist dieser Sachverhalt bewusst. Deshalb helfen wir auch den Ausschaffungshäftlingen, Geld an ihre Mütter, Frauen und Schwestern zu schicken, die in besonderem Masse unter der Abwesenheit der jungen Männer leiden. Wir verdoppeln ihre Ersparnisse aus der Gefängnisarbeit und überweisen sie per Moneygram. Western Union hat uns bereits ausgesperrt, weil wir stets andere Namen anvisieren. Dies scheint Argwohn zu erregen.
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