Das grosse Kratzen an Stereotypen
Es sind getriebene, gescheiterte und eigensinnige Menschen, die Klaus Petrus in seinem kürzlich im Christoph Merian Verlag erschienenen Buch «Geschichten von Menschen am Rand» beschreibt. Im Gespräch mit dem Autor wird klar, dass er diesen Menschen ganz nah ist.
Um es vorwegzunehmen: Das kleine, handliche Buch hat es in sich, es ist verstörend und irritierend. 14 Menschen werden von Autor Klaus Petrus porträtiert, so etwa Lotti (71) in Bern, die nach und nach in die Armut abglitt. Oder Markus B., der in den vergangenen Jahren 1300 mal bei Prostituierten war. Da war auch Monsieur L. – charmant, durchaus, aber nicht wirklich tauglich für den üblichen Arbeitsmarkt. Petrus begleitete die schizophrene Lea, die immer wieder die Stimmen von Lisa und Leonie hörte – sie konnte nichts dagegen machen. Oder die Fotoreportage zu Sultan H., dem Journalisten aus Kabul, der 1200 Tage auf der Flucht war und schliesslich in Basel landete. Wirklich angekommen ist er aber noch nicht. Seine Fotoreportage «Auf der Flucht» erhielt vergangenes Jahr den Swiss Press Photo Award.
Die meist kurzen Geschichten fordern den Leser*innen einiges ab. Wahrscheinlich auch, weil die Porträts so direkt und authentisch sind. Und nah dran: Hie und da fühlt sich der*die Lesende unfreiwillig voyeuristisch.
Wie kommen Sie dazu, sich auf diese Menschen «am Rand», ihre speziellen Situationen und ihre Schicksale einzulassen?
Wir haben oft starke Bilder und Stereotype im Kopf, gerade wenn es um Menschen am sogenannten «Rand» der Gesellschaft geht – ein Ausdruck, den ich übrigens nicht sonderlich mag. Mit meinem Buch versuche ich, ein wenig an diesen Stereotypen zu kratzen. Es geht mir darum, mich den komplexen Biografien und Lebenswelten dieser Menschen anzunähern, und zwar ohne die gängigen Schubladen, Vorurteile und Klischees. Auch möchte ich keine klassischen Einordnungen oder Bewertungen machen. Kürzlich wurde ich gefragt, ob ich eine politische Message habe, da musste ich sagen: eigentlich nicht. Die Geschichten dieser Menschen sind wichtig genug.
Klaus Petrus (* 1967) arbeitet als Fotojournalist und Reporter und ist Redaktor beim Schweizer Strassenmagazin Surprise. Er schreibt über Armut, Ausgrenzung, Flucht und Krieg und berichtet vor allem aus der Schweiz, dem Balkan und dem Nahen Osten. Seine Texte und Fotografien sind u.a. im Magazin der Süddeutschen Zeitung, FAZ, WOZ, NZZ und Spiegel Online erschienen. Bis 2012 war er Philosophieprofessor an der Universität Bern.
Wie arbeiten Sie?
Die Porträts sind zwar eher kurz, aber sie bedeuten oft einen grossen Aufwand. Diese Menschen haben nicht auf einen Journalisten gewartet. Also geht es darum, Vertrauen aufzubauen, und das klappt nur, wenn ich diese Leute immer wieder treffe und ihnen glaubhaft vermitteln kann, dass ich an ihrem Leben und ihrer Geschichte interessiert bin. Die Kamera kommt erst spät ins Spiel, weil sie auch erschrecken kann. Wenn immer möglich, versuche ich, die Betroffenen direkt und persönlich anzusprechen, also nicht über Drittpersonen oder irgendwelche NGOs. Was bedeutet, dass ich recht viel Zeit auf der Strasse und in Beizen verbringe.
Und welche Ziele verfolgen Sie?
Ich möchte möglichst nah an die Lebenswelten dieser Menschen gelangen, sie in ihrer Gesamtheit erfassen – also mit allen Ecken und Kanten und Widersprüchen. Das ist natürlich ein hoher Anspruch, und ob es mir wirklich gelingt, ihn einzulösen, weiss ich nicht. So oder so möchte ich diese Menschen nicht auf eine bestimmte Rolle reduzieren, zum Beispiel auf die eines Opfers oder auf die einer Prostituierten, eines Trinkers oder einer armen alten Frau. Denn sie sind immer viel mehr als das Bild, das wir von «denen am Rand» haben. Wenn sich diese Bilder im Kopf der Leute, die diese Geschichten lesen, ein bisschen verändern kann, so habe ich mein Ziel erreicht.
Es gab sicherlich auch Geschichten, die Sie nicht schreiben konnten.
Allerdings. Einige brauchten mehrere Anläufe, andere stürzten ab. Zum Beispiel habe ich mich mehrmals mit einem Ex-Neonazi getroffen, der meinte: «Die SVP ist so was von soft.» Ich wollte begreifen, wie jemand, der aus der Szene ausgestiegen war, diese Auffassung vertreten kann. Die Gespräche gestalteten sich als schwierig, ich bohrte immer wieder nach, irgendwann sagte er, jetzt ist fertig. Andere Geschichten haben schlicht deswegen nicht funktioniert, weil mir die betreffende Person irgendwie zu fremd war oder auch zu unsympathisch. Ich komme als Reporter zwar immer von aussen, aber um so nahe an die Personen ranzukommen, braucht es eine gewisse Empathie.
Sie selbst haben auch eine spannende Geschichte. Sie hatten an der Uni Bern einen Lehrstuhl für Philosophie inne. Warum haben Sie diesen aufgegeben?
Mit Mitte 40 habe ich mir überlegt: Will ich noch weitere 20 Jahre an der Uni tätig sein? Nein. Auch wenn ich dort beste Bedingungen hatte – eine eigene Forschungsgruppe, interessante Themen –, es war doch ein bisschen eine Welt für sich, eine enge Welt. Ich wollte noch etwas anderes machen. Und ich war mir sicher, dass meine künftige Arbeit mit Reportagen und Fotojournalismus zu tun haben wird und ich freiberuflich arbeiten möchte. Klar war das ein grosser Wechsel – übrigens nicht nur thematisch und von der Arbeitsweise her, sondern auch finanziell.
Aber Sie können davon leben?
Ja.
Sie befassen sich fast ausschliesslich mit sozialen Problemen, sind auch häufig in Krisen- und Kriegsregionen unterwegs. Wieso gerade diese Themen?
Konflikte haben mich immer schon interessiert – und damit Mauern und Grenzen, die bei Konflikten fast immer im Spiel sind. Damit meine ich übrigens nicht bloss physische Mauern und Grenzen, sondern auch solche in unserem Kopf. Womit wir wieder bei den Stereotypen und Vorurteilen wären oder bei Mechanismen der Ausgrenzung, die bei vielen sozialen Themen eine Rolle spielen – wie Sucht, Altersarmut, Sexarbeit oder Scham. Genau darum geht es auch in meinem Buch.
Gibt es einen ethischen Kompass, der Sie in Ihrer Arbeit leitet?
Natürlich beschäftige ich mich nicht zufällig mit sozialen Themen und es dürfte auch kein Zufall sein, dass ich mich in meiner Arbeit nicht so sehr den Mächtigen widme, sondern eher den Abgehängten – letztlich geht es dabei um Fragen der Ungerechtigkeit. Als Reporter und Fotojournalist ist mein Kompass allerdings in erster Linie auf die zu erzählende Geschichte ausgerichtet – sie muss spannend sein, widerspenstig, überraschend, mit einem Wort: gut genug, um erzählt zu werden. Andernfalls lasse ich es bleiben. Und suche einfach weiter.
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«Am Rand», Reportagen und Porträts von Klaus Petrus, Christoph Merian Verlag, 29.- CHF, ISBN 978-385616-988-6
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