Den Sound leiser stellen

Ein Kommentar zum Covid-19-Gesetz.

Hush Volume down Leise Still
In der Debatte ums Covid-19-Gesetz wünscht sich eine grosse Gruppe, dass endlich das Geschrei aufhört. (Quelle: Giphy)

Dieser Artikel ist zuerst am 11. November 2021 in Die Wochenzeitung WOZ erschienen. Die WOZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Hier kannst du die WOZ unterstützen.
🤍

__________

Durch Berns Gassen hallt wöchentlich der dröhnende Lärm der selbsternannten Freiheitstrychler. Die Plakate draussen in der Landschaft warnen vor «Massenüberwachung» und einem «Impfzwang für alle». In den sozialen Netzwerken ist von einer «Diktatur» die Rede, von «Apartheid», es werden gar Vergleiche mit den Menschheitsverbrechen des Holocaust gezogen. Die neuste Verdrehung stammt zuverlässig von SVP-Dichter Oskar Freysinger: Der Mann, der selbst eine Reichkriegsflagge im Keller hat, sieht im Covid-19-Gesetz ein «Ermächtigungsgesetz» wie das der Nazis.

Der zweite Coronaherbst in der Schweiz ist laut, erregt, gehässig. Die gesellschaftliche Diagnose der Spaltung ist rasch zur Hand: hier fanatische Impfgegner*innen, dort strikte Befürworter*innen der Massnahmen gegen die Pandemie. Vergessen geht dabei eine grosse, stille Gruppe: all jene, die schlicht genug haben von diesem Coronaglaubenskrieg. Und die sich vor allem eines wünschen: Dreht doch mal den Sound runter!

«Jede Google-Suchanfrage hinterlässt eine längere Datenspur als die Kontrolle des Zertifikats.»

Die Frage, ob am 28. November eine Diktatur beschlossen wird, stellt sich bei Trost nicht ernsthaft. Ein ernsthaftes Problem ist es aber, wenn Debatten mit einem solchen Maximalvokabular geführt werden. Auch der Begriff «Massenüberwachung» gehört dazu. Wer das Covid-19-Gesetz liest, merkt schnell, wie masslos übertrieben er ist: Jede Google-Suchanfrage hinterlässt eine längere Datenspur als die Kontrolle des Zertifikats. Dieses ist eine dezentrale IT-Lösung, wie man sie sich in Zukunft auch in anderen Fällen vom Bund wünscht, beispielsweise bei der E-ID.

Die aufgepeitschte Diskussion hat zur Folge, dass die Relationen verloren gehen. Das freiwillige Impfen, über das gar nicht abgestimmt wird, ist ein weiteres Beispiel dafür. Der medizinische Schutz wird von Kritiker*innen gerne als «Angriff auf die Unversehrtheit des Körpers» bezeichnet. Wer sich nun aber tatsächlich dafür interessiert, wie der Staat Körper angreift, sollte einmal einen Nothilfebunker für abgewiesene Asylsuchende besuchen. Oder sich erkundigen, wie sie bei einer Ausschaffung gefesselt und geknebelt werden.

Von den meisten – wohlgemerkt nicht von allen –, die jetzt an den Coronademos «Liberté» rufen, war zu diesen und vielen weiteren Verletzungen der Grund- und Freiheitsrechte in den letzten Jahrzehnten leider nichts zu hören. So bleibt der Eindruck, dass manche nur für ihren eigenen Egoismus die Treicheln schütteln. Und sich wohl deshalb im Vokabular vergreifen, weil sie als weisse Stimmberechtigte über alle Privilegien der Welt verfügen und nie eine Diskriminierung erfahren mussten. Frei nach dem Motto: Wenn ich mich betroffen fühle, muss eine Diktatur herrschen, mindestens.

«Die aufgepeitschte Diskussion hat zur Folge, dass die Relationen verloren gehen. Das freiwillige Impfen, über das gar nicht abgestimmt wird, ist ein weiteres Beispiel dafür.»

Im weiteren Verlauf der Pandemie ist die rhetorische Abrüstung umso dringender. Einfach mal leiser zu sein, um sich an die Gefährlichkeit der Krankheit zu erinnern, an die mehr als 11'000 Opfer, die sie in der Schweiz gefordert hat. Um darüber nachzudenken, was die Ausnahmesituation für die Kinder bedeutet, die derzeit nicht vor dem Virus geschützt sind. Um die gigantischen Gewinne der Pharmaindustrie zu diskutieren oder auch die Gewöhnung an Kontrollmechanismen. Klar deshalb, dass das Zertifikat – wie im Übrigen gesetzlich vorgesehen und vom Bundesrat beschlossen – befristet sein muss.

In der Stille würde man vielleicht auch wieder einmal bemerken, in welch privilegiertem Land wir leben. In der Schweiz, die weit mehr Impfdosen hamstern konnte, als dass sie Einwohner*innen zählt. Wo genug Reichtum vorhanden ist, damit Grosskonzerne wie Selbstständige in der Coronazeit finanziell unterstützt werden. Überhaupt gibt es weit grössere Probleme als diese Pandemie: die Klimaerwärmung, die Ungleichheit zwischen Nord und Süd, die tödliche Katastrophe an den EU-Aussengrenzen, von der Schweiz mitverantwortet.

Manchmal würde ich beim Abstimmen gerne ein Ausrufezeichen hinter das Nein setzen. Diesmal habe ich ein leises Ja abgeschickt.

Basel Briefing

Das wichtigste für den Tag
Jetzt Abonnieren
Jetzt Member Werden

Das könnte dich auch interessieren

Grossrät*innen für die Jugend

Samwel Shahadat am 17. Juli 2024

Grossrät*innen, was macht ihr für die Jugend?

Politiker*innen setzen sich für die ganze Bevölkerung ein. Aber was machen sie für die Jugend? Schnupperpraktikant Samwel Shahadat hat sechs Grossrät*innen rausgepickt, die sich insbesondere für die Jungen stark machen.

Weiterlesen
ARCHIV - ILLUSTRATION - SYMBOLBILD - 02.05.2011, Nordrhein-Westfalen, Arnsberg: Eine Packung des Medikaments Ritalin des Herstellers Novartis steht auf einem Tisch, an dem ein zehnjähriger Junge seine Hausaufgaben erledigt. (zu dpa «Was hilft dem Zappelphilipp?» vom 22.06.2018) Foto: Julian Stratenschulte/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ (KEYSTONE/DPA/Julian Stratenschulte)

Valerie Zaslawski am 07. Juli 2024

Verkennt die Politik den Ernst der Lage?

ADHS-Diagnosen bei Kindern und Erwachsenen nehmen zu – auch in Basel. Gleichzeitig fehlt es an Therapieplätzen sowie niederschwelligen Angeboten. Die Politik reagiert zögerlich.

Weiterlesen
Cuenod

Valerie Zaslawski am 30. Juni 2024

«Der Rassemblement National ist eine Gefahr für unsere trinationale Region»

Frankreich wählt ein neues Parlament. Sollte der rechtsextreme Rassemblement National eine Mehrheit gewinnen, bedeutet das für die Grenzregion Basel nichts Gutes, wie SP-Grossrat Tim Cuénod im Interview sagt.

Weiterlesen
Benjamin von Falkenstein

David Rutschmann am 28. Juni 2024

Der Provokateur

Benjamin von Falkenstein ist ein Meister darin, linke Basler*innen mit Tweets zum Augenrollen zu bringen. Nun koordiniert der 24-Jährige den kantonalen Wahlkampf der LDP. Über die Macht der Kommunikationsmittel und Politik am familiären Küchentisch.

Weiterlesen

Kommentare