Eine wahre Helvetia
Die über den Rhein blickende «Helvetia auf der Reise» kennt jede*r in Basel. Jetzt ist ihre Erschafferin, die Skulpturenkünstlerin Bettina Eichin, 80 Jahre alt geworden.
Bettina Eichin empfängt mich in breitem Baseldeutsch – Zuhause in den südbadischen Weinbergen. Aufgewachsen ist die Skulpturenkünstlerin zwar in Bern und Fribourg, zuhause jedoch sprach man Basler Dialekt. Der ist ihr geblieben, bis heute.
Eichins Eltern stammten aus Basel, ihr Götti lebte da, ein Besuch in der Heimatstadt war nach dem frühen Tod ihrer Mutter immer wieder eine Rettung. «Basel war die heile Stadt, mein heimliches Glück», sagt die Skulpturenkünstlerin. Kein Wunder hiess ihre liebste Katze Kunigunde. Benannt nach der Basler Stadtheiligen.
Bekannter als Kunigunde aber ist in Basel Eichins Helvetia. Die bronzene «Helvetia auf der Reise» auf der Mittleren Rheinbrücke hat mittlerweile Kultstatus erreicht. Sie wurde in den vergangenen Jahren in Aktionen performativ massiert, geschmückt, und mit Transparenten zum Sprachrohr feministischer Anliegen. Wenn in Basel die Frauenrechtler*innen streiken, dann ist Helvetia mit dabei – zu Eichins Freude.
«Die Frau ist sich selbst Muse.»Skulpturenkünstlerin Bettina Eichin
Gerade hat sie eine Kanne Ingwertee aufgegossen. Wir setzen uns in ihr Wohnzimmer, umgeben von einer fast musealen Einrichtung. Kunst und Keramik füllen die Räume des Hauses, dazwischen reihenweise Pflanzen, Babuschkas, Notizen, ein «Atomkraft-Nein-Danke-Sticker». Bettina Eichins weisses Haar ist in einem tiefen Knoten unter einer Muschelspange eingerollt. Sie strahlt eine herbe Eleganz aus, und selbst ein vielfarbenes Strickteil wirkt an ihr schick und schlicht.
Ihre Helvetia sei nicht mehr bloss die Allegorie, als die man sie sonst erlebt: als schützende und stolze Landesmutter, in Haltung, mit ihren Attributen der Athene verwandt. «Helvetia ist Tugend und Ideal in Frauenform – wie so oft bei Allergorien», erklärt Eichin und ergänzt mit hochgezogener Braue: «Von Männern erfunden, die sich dann im Alltag selbst nicht an diese Tugenden halten.» Ihre Helvetia sei aus ihrer Festprägung in der Münze herausgestiegen, sie geht ihren eigenen Weg. Sie verkörpert die Erschöpfung der Frauen sowie das Aussteigen aus der ständigen Beanspruchung als Gebende und Mutter.
Als ich Eichin darauf anspreche, dass ich Ähnlichkeiten zwischen ihr und der «Helvetia auf der Reise» zu erkennen glaube, sei es die Frisur oder die Haltung, wundert sie das nicht. «Die Frau ist sich selbst Muse», bemerkt sie. Ob man schreibe, male, bildhaue – jede künstlerische Arbeit habe autobiografische Züge. «Es ist stets die eigene Erfahrung und Sozialisation, es sind die eigenen Ängste oder Wünsche, die in Form und Thema einfliessen», sagt sie. Sie wolle Geschichten erzählen und dies mit einer Sprache, die für alle lesbar sei. So sei sie zum Realismus gekommen. Und so schuf sie ihre «Neun Musen», oder «Menschenrechte 1776, 1789, 1791», die gar im Bundeshaus standen, bevor sie in ein Kunstlager der Eidgenossenschaft verschwanden.
Eichin begann damit jedoch in einer Zeit, in der Botschaften in Kunstwerken strikt abgelehnt wurden. Es war verpönt, mit Kunst auf Politisches oder gesellschaftliche Anliegen aufmerksam zu machen. «Das war keine Kunst – und realistische Kunst wurde sofort verdächtigt, sozialistisch, faschistisch oder halt historistisch zu sein.»
Eichins Kunstobjekte sollen politisch und gesellschaftskritisch gelesen werden, was ihr das Leben als Künstlerin nicht unbedingt leichter macht. So legte sie sich 1986 beispielsweise mit dem Chemiekonzern Sandoz an, nach dem damaligen Grossbrand auf dessen Firmengelände. Die Pharma-Firma hatte Eichin beauftragt, zu deren 100-jährigem Jubiläum einen Marktplatzbrunnen zu schaffen – als Geschenk an die Stadt. Doch dann kam es zum Chemie-Brand, und Löschwasser mit bis zu dreissig Tonnen Pestiziden floss in den Rhein, tötete Fische, Frösche und Vögel auf Hunderten von Rheinkilometern.
«Das Gestalten und Formen war Trost und Ausweg für mich. Hier konnte ich mich ausdrücken.»
Eichin wollte ihren ursprünglichen Entwurf überdenken und die Katastrophe thematisieren. Wutentbrannt entzog Sandoz ihr daraufhin den Auftrag und Eichin schuf als grosses Stilleben die «Markttische», die heute im Kreuzgang des Basler Münsters stehen, auf eigenes Risiko.
Dass Eichin Ungerechtes nicht akzeptiert, gehe wohl auf ihre Kindheit zurück, sagt sie. Und wenn sie vom frühen Tod ihrer Mutter, der darauffolgenden Stiefmutter und der Unterdrückung erzählt, fühlt man sich schnell ans Märchen von Aschenputtel erinnert. Bettina Eichin flüchtete sich in die Kunst. «Das Gestalten und Formen war Trost und Ausweg für mich. Hier konnte ich mich ausdrücken», sagt Eichin. Noch immer aquarelliert sie Blumen und Landschaften, wenn sie auf Reisen ist, und täglich schreibt sie Briefe, oft nachts, wenn das Haus ganz ruhig ist.
Immer wieder im Gespräch steht Bettina Eichin auf, nimmt ein Foto von der Kommode, ein Bild von der Wand, eine Skulptur vom Fensterbrett. Auch ihre Hände – erstaunlich jung gebliebenen – sind ständig in Bewegung. Auf ihrem Mac scrollen wir durch Artikel und Videos. Sie arbeitet noch immer, in ihrem Atelier hier unterm Dach und in ihrer Werkstatt in Basel – mit Blick auf den Rhein. Vor dreissig Jahren übernahm Eichin die Werkstatt, reduzierte sie jedoch in den vergangenen Jahren immer stärker. Ein Kämmerlein mit Briefkasten, Telefon und Bett sei übriggeblieben. Oft sei sie nicht mehr da. Ohne Auto ist es eine ziemliche Reise von zuhause in Oberrotweil bis nach Basel – und auch die Demenz ihres Mannes bindet sie mehr ans Haus.
Viele Stücke hier in diesem verwinkelten Haus erinnern an Griechenland. An die Orte, wo sich Eichin und ihr Mann, der Archäologe Gerhard Hiesel, kennenlernten und wo sie auch gemeinsam bei Ausgrabungen arbeiteten – bis ihr Sohn ins schulpflichtige Alter kam und die Familie im Freiburgischen sesshaft wurde.
Unter ihrer Scheune, in einer Art Kellergewölbe, präsentiert Eichin ihre «Steinzeit»: die frühen Arbeiten der ihres Zeichens ersten Steinmetzin der Schweiz. Darunter auch ihr erstes Steinfigürchen von 1960, das in seiner Form der viel später entstandenen «Helvetia auf der Reise» äusserst ähnlich sieht.
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Über dem Gewölbe, auf einer Art Heuboden stehen die Arbeiten aus ihrer «Bronzezeit». Die Bronze hatte die Künstlerin als Material für sich in den 70er-Jahren entdeckt und bald ein eigenes Verfahren entwickelt. Dieses erlaubt es ihr zwar ohne grossen Kraftaufwand riesige Skulpturen zu formen – alles Unikate. Denn sowohl das originale Wachsmodell als auch die Abgussform werden im Gussprozess in der Giesserei zerstört.
Der Kunsthistoriker Jean-Christophe Ammann habe ihr einst gesagt: «Alles, was du machst ist Friedhof», sagt Eichin und lacht laut. Erst sei sie empört gewesen, doch so falsch liege er tatsächlich gar nicht. Ihre Arbeit sei eine Form von Erinnerungsarbeit, «ich bin eine Art Chronistin, versuche die Zeit zu lesen, zu interpretieren und eine Sprache dafür zu finden». Die Bildhauerei ist ein langsames Medium. «Deswegen bin ich immer dabei zu sammeln, um irgendwann daraus eine Essenz zu ziehen, die eine Gültigkeit lange über die Entstehung hinaus hat», so Eichin.
Politisiert durch den Abtreibungsparagraf 218
Einen langen Atem brauchte Eichin auch in ihrer kulturpolitischen Arbeit. In Deutschland engagierte sich Eichin über Jahrzehnte bis auf Bundesebene in der Kulturpolitik. Damals gab es kaum ein Wettbewerbswesen, keine Atelierhäuser, keine Kunstkommissionen oder Jurierungen – Aufträge wurden über Beziehungen vergeben. «Die alten Bilderhauer sassen da im Speck – im Hintergrund häuslich verwöhnt von ihren braven Musen», erinnert sich Eichin. Dass sie sich in der deutschen Wahlheimat politisch zu engagieren begann, lag an den Protesten 1971 um den Paragrafen im deutschen Strafgesetzbuch, der Abtreibungen grundsätzlich unter Strafe stellte. «Der Paragraf 218 hat mich politisiert», sagt sie rückblickend. «Mich und viele andere Frauen. Wir mussten uns plötzlich damit auseinandersetzen, wo wir als Frauen in dieser Gesellschaft stehen.»
Eichin formte das Paragrafenzeichen aus Penissen und liess es von Freundinnen und Freunden in der Öffentlichkeit herumtragen. «Ich wollte damit aufzeigen, dass es Männer sind, die mit dem Paragrafen 218 über den weiblichen Körper entscheiden.» Und traurigerweise habe sich daran nicht viel verändert. Wir sprechen über Polen, Texas, diskutieren über die feministische Bewegung damals und heute.
«Ich bin Feministin, ohne Frage», sagt Eichin. Doch sie habe sich weniger in der Bewegung selber engagiert. Sie wirkte mit ihrer Kunst vom Rand her in die Mitte, da sie die Bewegung als ideologisch sehr verschlossen wahrgenommen habe.
Allgemein war die politische Auseinandersetzung damals neu für Eichin. In der Schweiz hatte sie noch kein Frauenstimmrecht erlebt – und sie kämpfte nach der Ausbildung um den Mindestlohn als Steinmetzin in der Münsterbauhütte Bern und wurde das erste weibliche Gewerkschaftsmitglied. Es ist nicht zu übersehen: In Eichin steckt eine ganze Menge davon, wofür ihre Helvetia am Rhein heute steht.