Hartmut Rosa: «Diese Schocks könnten uns verändern»
Seit Banken-, Coronakrise und Ukrainekrieg wissen wir: Die Welt ist nicht mehr beherrschbar. Wir werden uns anpassen und wieder erkennen müssen, was uns wirklich fehlt, sagt der Soziologe Hartmut Rosa.
Am vergangen Montag kam die Medienmitteilung: Hartmut Rosa kommt ins Unternehmen Mitte. Wir von Bajour so: Der kommt genau richtig! Wir haben Fragen zur Weltlage, auf die der Soziologe bestimmt Antworten hat. Also baten wir den Gastgeber, die UM Politik Talks, um einen Interviewtermin. Und bekamen eine halbe Stunde am Dienstag vor der Veranstaltung. Der Soziologe kam direkt aus dem Schwarzwald in den Basler Feierabendverkehr.
Hartmut Rosa (1965) ist Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Bestseller «Beschleunigung» und «Resonanz» machten ihn auch ausserhalb der akademischen Welt bekannt. Rosa erhielt diverse Auszeichnungen, unter anderem den Erich-Fromm-Preis 2018.
Hartmut Rosa, aktuell herrscht eine grosse Solidarität für Geflüchtete aus der Ukraine. Wie kann man diese Solidarität erhalten, damit sie nicht irgendwann umschlägt?
Das ist die grosse Frage. Menschen sind fast dankbar, dass sie etwas tun können. Die Klimakrise und die Covidkrise haben Ohnmacht erzeugt und jetzt haben wir das Gefühl, dass wir gemeinsam etwas tun können. Das gibt uns ein Gefühl der Selbstwirksamkeit.
Am Anfang der Cornakrise war die Solidarität auch gross.
Genau, die Menschen leisteten Nachbarschaftshilfe, Pflegekräfte wurden unterstützt. Der Wunsch, solidarisch zu sein, steckt tief in uns drin. Man fühlt sich solidarisch viel besser, als wenn man denkt: «Die Geflüchteten sollen doch alle draussen bleiben.» Das führt zu einer inneren Verhärtung.
Irgendwann während der Coronakrise hat die Solidarität umgeschlagen, es gab viel Hass. Warum?
Solche Umschlagsmomente sind auch in Bezug auf den Krieg in der Ukraine zu befürchten. Bei Corona kämpfte man gegen einen unsichtbaren Feind und sah keine Wirkung - die Krise ging und ging nicht vorbei. Aber ich sehe noch ein grundsätzlicheres Problem: Das gesellschaftliche Verhältnis ist ein aggressives.
Sind wir alle aggressiv?
Es gibt den Zwang, dass wir uns ständig steigern und optimieren müssen, noch mehr leisten. Die To-Do-Liste zeigt sehr gut, wie wir zur Welt stehen. Das führt zu einem Aggressionsverhältnis. Am Anfang einer Krise ist man zwar solidarisch, aber dann merkt man: Das ändert nichts an meinem Leben. Und dann finden wir Sündenböcke.
Wollen Sie damit sagen: Nach einer Weile Corona-Nachbarschaftshilfe während des Shutdowns holte uns der stressige Alltag wieder ein? Deshalb der Hass?
Am Anfang des Lockdowns hielt alles an, der Elternabend, der Besuch bei der Tante, das Geschäftstreffen, die Hochzeit, der Urlaub. Die Agenda wurde leer. Das hat bei vielen Menschen für Entspannung gesorgt. Oh, das ist schön. Und eine Notlage führt zu Solidarität, weil die Routine nicht greift, keine amtliche Lösung bereitsteht. Alle freuen sich. Und dann, ruckzuck, füllten sich die Terminlisten wieder. Beispielsweise, weil man sich online einrichtet. Und dann sitzt man bewegungslos und konturlos vor dem TV und absolviert sein Programm – und dann soll man auch noch etwas für andere tun?
DAS ist der Grund, dass Solidarität umschlägt? Ich erinnere mich an politische Momente: Nach dem «Wir-schaffen-das»-Appell von Angela Merkel 2015 in Deutschland waren es die Pegida-Demos. Bei Corona in der Schweiz die Abstimmung über das Covid-Gesetz, gegen welches Massnahmengegner*innen auf die Strasse gingen…
Es sind immer viele Gründe. Aber es hat damit zu tun, dass die Menschen das Gefühl verlieren, die Welt ändere sich. Jetzt muss ich wieder ins Yoga und ins Achtsamkeitstraining und auf mein Aussehen achten und und und… Das schafft Aggression und die übertragen wir dann auf die Geflüchteten. Oder die Menschen, die mich impfen wollen.
Heisst das, Solidarität lässt sich nur langfristig aufrechterhalten, wenn sich die Welt radikal ändert? Weg vom Leistungsprinzip?
Die Welt hat sich mehrmals radikal verändert, zum Beispiel mit der Digitalisierung. Mit dem Kapitalismus. Mit dem Christentum und der Kolonialisierung. Einen solchen Wandel kann man nicht mit einer einzigen Massnahme auslösen, dafür braucht es einen Paradigmenwandel. Wie im Mittelalter, als man sich dachte: Wie kommen wir in die Moderne?
Wie kamen wir in die Moderne?
Die Pest im 13. Jahrhundert bewirkte einem massiven Säkularisierungsschub, wie zum Beispiel die Sozialwissenschaftlerin Marianne Gronemeyer oder der Philosoph Hans Blumenberg aufgezeigt haben.
Warum?
Die Menschen kamen auf die Idee, das Leben vor dem Tod zu geniessen, weil ihnen bewusst war, dass die Pest sie jederzeit dahinraffen kann. Also öffneten sie sich für weltliche Genüsse, aber auch für empirische Erkenntnisse.
Könnten die aktuellen Krisen von Klima bis Krieg auch einen Kulturwandel bewirken?
Das könnte sein. Corona ist ähnlich wie die Pest: Es macht die Welt radikal unverfügbar.
Was heisst unverfügbar?
Das fing mit Donald Trump und dem Brexit an oder sogar mit der Finanzmarktkrise 2008. Dass die grossen Banken zusammenbrechen können, machte klar: Die Logik der Finanzmärkte ist nicht steuerbar. Trump: nicht kontrollierbar. Der Brexit: hat alle überrascht. Und dann noch Corona. Das alles hat gezeigt: Meine Welt kann von heute auf morgen zusammenbrechen. Und das nach 250 Jahren, in denen die Welt immer erreichbarer wurde: Man konnte überall hinfliegen, mit allen kommunizieren, alle Waren bestellen.
Meine Grosseltern hatten früher keine Mangos…
…. oder Orangen. Man kann alles haben. Und dann von einem Tag auf den nächsten nicht mehr über die Grenze nach Frankreich oder Deutschland. Und jetzt, nach Corona, der nächste Schock: Der Krieg kann in meine Nähe zurückkehren. Diese Schocks könnten uns grundsätzlich verändern.
Kann man die Krisen auch als Chance sehen?
Ja, die Idee, dass wir uns die Welt verfügbar machen wollen, heisst zwar: Ich will alles kontrollieren und dominieren und kann mir alles kaufen. Aber es führt auch zu Entfremdung.
Entfremdung?
Es geht ums Gefühl: Ich war schon überall, aber es berührt mich nicht mehr. Ich kann zig Songs auf Spotify hören, aber sie lassen mich kalt. Und vielleicht hilft ja die Krise, mit dem Gedanken zu brechen, alles dominieren zu wollen.
«Vor der Moderne war die Resonanz durch Repression bedroht, heute durch Steigerungszwang.»Hartmut Rosa, Soziologe.
Was heisst kontrollieren konkret? So wie in der Schwangerschaft? Man kann vertrauen, dass das Kind schon geborgen heranwächst oder man kann jede Woche Tests machen, die einen vielleicht vor bösen Überraschungen bewahren und die Kindersterblichkeit senken?
Genau. Das ständige Kontrollieren führt zu Ängsten. Dem liegt ein Misstrauen ins Leben zugrunde. Soziologische Studien zeigen: Je mehr Kameras und andere Sicherheitseinrichtungen man ums Haus hat, desto unsicherer fühlt man sich.
Wie lebt man ohne Kontrolle?
In einer «Resonanzbeziehung», wie ich es nenne.
Was heisst Resonanz?
Es ist ein Beziehungstyp zum Leben, zum Körper, zu den Dingen. Eine Antwortbeziehung. Sie entsteht, wenn mich etwas bewegt oder berührt. Zum Beispiel, wenn mir jemand etwas erzählt und ich denke: Oh, das interessiert mich. Das lässt sich nicht kaufen.
Mit Geld kann man aber an ein Konzert gehen, das einen inspiriert oder eine Reise machen, die einen verändert.
Ich kann zwar einen Flug buchen, um die Polarlichter zu sehen. Aber die Wirkung auf mich, die kann ich nicht erzwingen. Ein anderes Beispiel: Wenn ich depressiv bin, kann ich zwar mein Lieblingslied hören, aber ich kann nicht darauf reagieren, es passiert nichts mit mir. Dann gibts keine Resonanz. Und wenn mir die Resonanz abgeht, wenn ich das Gefühl habe, nichts bewirken zu können, werde ich frustriert. Die Pegida ist eine Folge davon.
Warum ist die Pegida frustriert?
Ich werde frustriert, wenn ich denke, ich bekomme nicht vom Leben, was ich verdient habe. Deshalb brauche ich einen Sündenbock. Ich glaube, wir haben keine Sprache mehr dafür, was uns fehlt. Weil wir im Hamsterrad leben.
Aber häufig sind es Menschen aus dem Mittelstand, die rechtsradikal sind. Denen fehlt doch nichts.
Doch. Nicht materiell, aber sie vermissen die Resonanz, wissen es jedoch nicht. Sie denken, sie müssten z.B. mehr Geld kriegen. Dabei fehlt ihnen eben das Gefühl, etwas bewirken zu können im Leben.
Sie sind ja Professor und bewegen sich bestimmt auch im Hamsterrad. Trotzdem treten Sie nicht der Pegida bei.
Natürlich, Sie und ich müssen auch Drittmittel eintreiben und sind in einem Daueraggressionsverhältnis und denken manchmal: Das ist nicht das, was ich mir vom Leben erhofft habe…
Aber?
Impf- oder Flüchtlingsgegner denken häufig: Ich werde sowieso nicht gehört und gesehen, ich bin den Eliten egal. Es ist zum Beispiel kein Zufall, dass viele Deutsche Impfgegner*innen aus dem Osten kommen. Und jetzt machen sie die Erfahrung, dass sich die Politik schon für sie interessiert. Indem sie etwas nicht tun, werden sie plötzlich relevant.
Sind sie nicht zu Unrecht gekränkt? Die Zeitungen waren voller Impfgegner*innen und auch die Rechten kommen ständig zu Wort.
Ich habe nicht gesagt, sie bekommen keine Aufmerksamkeit. Sondern sie machen die Erfahrung, dass sie nicht gehört werden. Selbstwirksamkeit bedeutet nicht: Ich kann alles haben, was ich will.
Man kann nie alles haben.
Viele Pegida-Anhänger wollen, dass alles so bleibt, wie es war. Sie glauben, dass man Entfremdung überwindet, in dem man alles bewahrt – also wollen sie die Grenzen schliessen. Aber wenn man alles bewahrt, verändert man sich nicht und dann ist man nicht lebendig.
Haben Sie ein Beispiel?
Sie haben ja ein Burka- und ein Minarett-Verbot in der Schweiz. Der Gedanke dahinter war: Wenn wir viele Muslime reinlassen, müssen wir Kirchen zu Moscheen umbauen. Das stimmt nicht. Aber es ist tatsächlich so, dass man sich ändert, wenn man Kontakt mit anderen hat. Vielleicht gibt es dann Kirchen UND Minarette. Oder man baut zusammen etwas ganz Neues.
Gab es denn je genug Resonanz? Ich erinnere mich schwach aus dem Studium, dass bereits Rousseau die Sehnsucht nach dem Einswerden mit der Natur beschrieb. Oder Marx die Entfremdung.
Ich stütze mich auf meinen Büchern auch auf Rousseau und Marx. Oder auf Max Weber, der von der «Entzauberung der Welt» sprach und Adorno, der das «Verdinglichung» nannte. Die These ist, dass der Resonanzverlust mit der Moderne kam.
Und vorher?
Am Anfang dachte ich, die Moderne sei die Erzählung der Resonanzkatastrophe. Aber dann habe ich gesehen, dass die Moderne auch Resonanzbeziehungen geschaffen hat.
Welche?
In der romantischen Liebe, im Verhältnis zu unseren Kindern, im Naturverständnis. Das Frauenstimmrecht, die Liberalisierung der Homosexualität. Dass wir uns so kleiden dürfen, wie wir wollen. Glauben dürfen, was wir wollen. Vor der Moderne war die Resonanz durch Repression bedroht, heute durch Steigerungszwang.
Haben wir unter dem Strich mehr oder weniger Resonanz als im Mittelalter?
Ich möchte weg vom mehr oder weniger. Ich möchte ja nicht diese Optimierungslogik bedienen und die Botschaft senden: Ich muss sofort resonanter werden. Und ich bin kein Ratgeber, der ein Buch schreibt: 7 Schritte zur Resonanz.
«Burnout ist die höchste Form der Entfremdung»Hartmut Rosa
Sondern?
Ich sehe meine Rolle als Gesellschaftskritiker. Im Klimawandel zeigt sich ein extremes Aggressionsverhältnis zur Natur. Oder im Fleischkonsum, Nutztiere werden verdinglicht.
Sind Sie Vegetarier?
Ja. Aber Tierversuche sind noch schlimmer. Da ist das Tier nur ein verfügbares Ding. Und dann, im Gegenzug, haben wir Haustiere, die nur der Resonanzbeziehung dienen.
Aber das stimmt doch nicht: Meine Tante ist Bäuerin. Sie und ihre Familie haben eine Beziehung zu jeder einzelnen Kuh…
Das meine ich ja. Je nach Bauernhof hatte man früher eine resonante Beziehung zu Tieren. Jetzt haben wir eine radikale Trennung zwischen Nutz- und Haustier.
Sie sind kein Ratgeber. Aber haben Sie eine Idee, wie man weg vom ängstlichen Selbstoptimierungswahn hin zu einer resonanten Beziehung zur Welt kommt?
Doch, das kann man sich schon überlegen. Nehmen Sie das Gesundheitswesen, das durchökonomisiert ist. Am Effizientesten wäre, alles von Robotern erledigen zu lassen. Und dann fürs Menschliche noch ein paar Seelsorger und Psychologen zu holen.
Aber?
Man kann das Pflegen und die Beziehung nicht trennen. Deshalb haben wir in der Pflege so hohe Burnoutraten. Weil die Pflegenden den Doppelanspruch körperlich fühlen: Sie müssen möglichst effizient arbeiten. Doch wenn du an einem Bett stehst, weisst du nicht, wie lange es dauert, bis du zum Patient eine Beziehung hast.
Wie bei den Kindern? Manchmal spielt man mit ihnen und es macht klick und man ist sich nahe und hat eine schöne Zeit. Und manchmal ist wie eine Grenze da.
Genau. Resonanz lässt sich nicht erzwingen. Sie ist der Albtraum aller Kontrolllogik. Dieser Widerspruch erzeugt Ohnmachtskrisen. Und Burnout ist die höchste Form der Entfremdung. So, jetzt haben Sie mich aber alles gefragt, was man kann.
Ausserdem klopft schon Ihr nächster Termin an die Türe. Herzlichen Dank, haben Sie mich in Ihr Hamsterrad gezwängt.
Das habe ich mir ja selbst ausgesucht.