Aus dem Buch ausbrechen
Heute beginnt die Buch Basel. Auf dem Programm des Internationalen Literaturfestivals stehen während drei Tagen Lesungen, Diskussionen, Performances, Workshops und auch Digitale Literatur – aber was versteht man darunter eigentlich?
Digitale Literatur ist wie ein Buch, das nicht nur aufgeschlagen werden will, sondern plötzlich auch anfängt zu tanzen, zu singen oder mit dir zu plaudern. Wo früher Tinte und Papier dominierten, regiert heute der Code – und das nicht nur still und brav, sondern mit allerlei interaktiven Überraschungen. Hier wird das «Lesen» neu definiert: Vielleicht scrollst du, klickst oder swipest du schon bald selbst Teil der Geschichte? Auf jeden Fall wird es nie langweilig!
Obiger Absatz hat die KI ChatGPT geschrieben. Sie scheint ein echter Fan von Digitaler Literatur zu sein. Aber was ist das eigentlich genau?
Die diesjährige Buch Basel nimmt sich des Themas an. Buch-Basel-Leiterin Marion Regenscheit und Literaturvermittlerin Chris Möller erklären im Gespräch mit Bajour, warum sie Digitale Literatur aus dem virtuellen Raum an die Buch Basel holen und wie man sie definieren kann.
«Es ist eher aussergewöhnlich, dass Digitale Literatur im Rahmen eines Literaturfestivals eine Plattform erhält.»Chris Möller
Ist ein Text, der als PDF im Internet hochgeladen wird, bereits Digitale Literatur? Nicht unbedingt, sagt Chris Möller, die seit drei Jahren in die Konzeption der Digitalen Literatur an der Buch Basel involviert ist. Sie erklärt: «In der Literaturwissenschaft wird von Digitaler Literatur im engeren Sinne gesprochen, wenn sich die Autor*innen des Erscheinungsmediums bewusst sind und aktiv damit spielen.»
Digitale Literatur lebt von Interaktion, oft steht hinter den Texten eine künstliche Intelligenz (KI). «Autor*innen von Digitaler Literatur spielen damit, dass sie auf Geräten stattfindet, produziert und konsumiert wird.» Bisher handelt es sich eher um einen Nischenbereich, der sich rasant weiterentwickelt und neue Chancen für die Literaturwelt bietet. «Es ist eher aussergewöhnlich, dass Digitale Literatur im Rahmen eines Literaturfestivals eine Plattform erhält», sagt Möller.
Die Leiterin der Buch Basel, Marion Regenscheit, hat sich bewusst vor drei Jahren dazu entschieden, Digitale Literatur in Form eines Transformationsprojekts in Basel erlebbar zu machen: «Ich finde es wichtig, Digitale Literatur an einem realen Ort erlebbar zu machen», sagt sie. So können die Besucher*innen des Internationalen Literaturfestivals an diesem Wochenende kreatives Schreiben mit AI ausprobieren oder mit Chatbots arbeiten.
«Wenn aus einer Online-Community irgendwann eine Offline-Community wird, wäre das ein Erfolg.»Ivy Nuss
Zu Gast ist unter anderem die Berliner Autorin Ivy Nuss. Sie nutzt das Web als Spielwiese, lädt ihre Texte als PDF im Internet hoch und probiert verschiedene Formate wie Lesungen auf TikTok aus. Sie sagt: «Ich schreibe klassische Prosa, aber das Internet ist ein integraler Teil meines Lebens und auch meiner Poetik. Aus meiner Sicht gibt es in der Welt gar keinen Offline-Zustand mehr.» Das Internet ist für die digitale Autorin ein riesiger Kommunikationsraum, den sie nutzt. Vor allem aber interessiert sie sich dafür, wie Identität im Netz geformt wird, wie sich Communitys und Subkulturen bilden.
Als Autorin betrachtet sie das Internet vor allem als Rechercheort, der ihr viel Inspiration gibt. Aus ihrer Sicht ist das Web vor allem aber auch ein Zufluchtsort für queere Autor*innen, die sonst keinen Raum haben, um sich auszutauschen und Texte zu publizieren. «Wenn aus einer Online-Community irgendwann eine Offline-Community wird, wäre das ein Erfolg», sagt Ivy Nuss. Sie ist an der Buch Basel, um über ihre Arbeit und ihre Erfahrungen mit Digitaler Literatur zu sprechen und anhand von konkreten Beispielen zu zeigen, wie Literatur im Netz entstehen kann.
«Ich bin bei rein KI-generierten Texten mit Standardmodellen eher kritisch, weil ich den literarischen Mehrwert nicht sehe.»Jenifer Becker
Auch die Autorin, Kulturwissenschaftlerin und bildende Künstlerin Jenifer Becker forscht über lernfähige Technologien und schreibt auch mit ihrer Unterstützung. In ihrem Workshop an der Buch Basel zeigt sie, wie Autor*innen die KI künstlerisch nutzen können. Sie stellt eigene Projekte wie ihren persönlichen Chatbot, den Jeniferbot, vor.
Dabei handelt es sich um ein ChatGPT3-Modell, das mit einem Roman von Becker selbst trainiert wurde und Text generiert. «Der Jeniferbot ist also meine eigene ChatGPT-Version», sagt sie. Viele Autor*innen machen sich aber weniger Mühe und greifen auf vortrainierte Modelle zurück, um Texte zu generieren.
Das lasse sich aktuell gut bei Kindle Direct Publishing beobachten, wo von KI geschriebene Bücher im Bereich Romance oder Fiction und auch Sachbücher hochgeladen werden. «Ich bin bei rein KI-generierten Texten mit Standardmodellen eher kritisch, weil ich den literarischen Mehrwert nicht sehe», so Becker.
Während der BuchBasel scheint die Begeisterung für Literatur innerhalb der Bevölkerung gross. Tatsächlich sind das Lesen und die Lesehäufigkeit von Büchern, E-Books und Comics in der Schweiz stabil. Wir möchten in unserer Frage des Tages von dir wissen, ob du noch Bücher liest.
Grundsätzlich ist sie aber sehr offen, wenn es um die Zusammenarbeit zwischen Menschen und Maschine geht: «Es wird gerade sehr viel ausprobiert, das ist spannend zu beobachten.» KI kann ein Werkzeug sein, um Texte zu konzipieren, erzeugt aktuell aber vorwiegend generische Inhalte. «Die eigentliche Schreibarbeit nimmt mir die KI nicht ab», sagt sie.
«Studien zeigen, dass Sprachmodelle die Arbeit der Autor*innen bisher noch nicht beschleunigen», sagt Becker. Einen Mehrwert sieht sie durchaus für Amateurschriftsteller*innen oder für Kinder und Jugendliche, die einen Zugang zu Literatur bekommen und sich mithilfe der KI selbst ausprobieren können. Ebenso für konzeptuelle Literatur.
Ein Beispiel für Digitale Literatur an der Buch Basel ist der Gedichtgenerator unter dem Namen «Gesammelte Wörter». Bei dem Projekt kann mit Hilfe eines selbst geschriebenen Codes eine grosse Wortmasse zu einem Gedicht werden. Die kreierten Gedichte werden direkt auf Postkarten gedruckt, die die Schreibenden im Rahmen der Buch Basel frankieren und versenden können.
«Für die Besucher*innen ist dies ein erstes Kennenlernen mit der KI im Literaturbetrieb, eine Spielerei. Niederschwellige Einstiegsmöglichkeiten sind aber wichtig, denn wir möchten erlebbar sein und nicht vom Elfenbeinturm aus über Digitale Literatur referieren», so Regenscheit.
Bereits im Vorfeld hat die Buch Basel via Instagram dazu aufgerufen, am Projekt Gesammelte Wörter mitzuwirken und es haben bereits mehr als 50 Personen beim Projekt mitgemacht. Welche neuen Möglichkeiten ergeben sich durch die Digitale Literatur für die Autor*innen? Grundsätzlich ist es relativ leicht, etwas zur Verfügung zu stellen. Jede*r kann selbst schnell das eigene Produkt online veröffentlichen. Es geht aber vielmehr darum, die Möglichkeiten im Netz weit darüber hinaus zu nutzen. Chris Möller sagt, dass das Internet ein zusätzlicher Raum ist, den die Autor*innen mitbespielen und auch als Marketingtool nutzen können.
«Digitale Literatur ist eine neue Art, Literatur anders zu denken.»Marion Regenscheit
Marion Regenscheit betont aber auch, dass es sehr anspruchsvoll ist, multimedial unterwegs zu sein. Denn es brauche viele Skills und oft ein ganzes Team für die Programmierung. Daher gebe es bereits viele Kollektive, die gemeinsam an einem Werk schreiben. An der Buch Basel soll den Besucher*innen vor allem die Schwellenangst zur Digitalen Literatur genommen werden. «Digitale Literatur ist ganz bewusst ein Teil des Literaturfestivals. Es ist eine neue Art, Literatur anders zu denken.»
Fest steht: Die Digitale Literatur steckt teilweise noch in den Kinderschuhen, sie wird sich aber in den kommenden Jahren zusammen mit der KI weiterentwickeln und neue Räume und Möglichkeiten für Autor*innen und Leser*innen bieten. Wer schon heute auf den Zug aufspringen möchte, bekommt an der Buch Basel die Möglichkeit dazu.