«Femizide sind politische Verbrechen»

Nadia Brügger ist Mitiniatorin des ersten Rechercheprojekts zu Femiziden in der Schweiz und setzt sich dafür ein, dass der Begriff auch offiziell benutzt wird. Im Interview erklärt sie, warum Gewalt gegen Frauen alle etwas angeht.

Femizid
Geschlechtsspezifische Morde als Beziehungstat zu bezeichnen, verharmlose das enorme Gewaltverbrechen, sagt Nadia Brügger.

Nadia Brügger, was geht in Ihnen vor, wenn Sie von einem Mord an einer Frau hören?

Mein Herz bleibt jedes Mal stehen, wenn schon wieder ein Mann eine Frau getötet hat. Es passiert so häufig. Vor allem bin ich dann wütend und traurig und habe das Bedürfnis, mit anderen darüber zu sprechen. Dieses Jahr haben wir in unserem Rechercheprojekt Stop Femizid schon vier Femizide gezählt. Bei jedem weiteren Femizid frage ich mich, wo eigentlich der gesellschaftliche Aufschrei bleibt. Das ist das Erschreckende, dass diese Taten auf eine Art normalisiert sind.

Ist jeder Mord an einem Mädchen oder einer Frau ein Femizid?

Der Begriff Femizid stammt von der Soziologin Diana Russell, sie hat ihn in den 1970er Jahren geprägt und folgendermassen definiert: Femizide sind Tötungen von Frauen aufgrund der Tatsache, dass sie Frauen sind. Wenn einem Mord also die Grundhaltung der Frauenverachtung oder des Frauenhasses zugrunde liegt, dann ist von einem Femizid die Rede.

Nadia Brügger Autorin
Zur Person

Nadia Brügger ist Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Feministin. Sie hat Stop Femizid (www.stopfemizid.ch), das erste Rechercheprojekt zu Femiziden in der Schweiz, mitinitiiert.

Stop Femizid ist das erste Rechercheprojekt zu Femizid in der Schweiz. Wieso braucht es ein solches Projekt?

Es hat vorher keinen Ort gegeben, an dem gesammelt auf die Systematik von Femiziden hingewiesen wurde. Uns ging es vor allem darum, auf Femizide aufmerksam zu machen, also den Begriff ins Spiel zu bringen, der ein politischer Begriff ist und aufzuzeigen, wie regelmässig Männer in der Schweiz Frauen töten. Wir listen deshalb die Femizide auf, von denen wir mitbekommen. Es bräuchte in der Schweiz eigentlich eine regelmässige und detaillierte Datenerhebung und zeitnahe Fallanalysen von Femiziden. Das ist eine Frage des politischen Willens.

Der Begriff Femizid ist in der Schweiz bisher kein etablierter politischer Begriff. Seine Verwendung wurde zuletzt im Sommer 2020 vom Ständerat abgelehnt. Warum sollte man trotzdem von Femizid sprechen?

Weil er das Problem ganz konkret benennt. Und wenn man einem Problem keinen Namen gibt, wird es auch nicht angegangen. Der Begriff Femizid zeigt die politische Dimension dieser Gewalttaten: Femizide sind politische Verbrechen. Es braucht eine gewisse gesellschaftliche Atmosphäre, dass es Femizide in dieser Häufigkeit und Regelmässigkeit geben kann. 

Was ist das für eine Atmosphäre?

Das ist eine Gesellschaft, die tief in misogynen Denkmustern steckt. Das zeigt sich zum Beispiel darin, wenn einer Frau vorgeworfen wird, sie sei zu lange bei ihrem gewalttätigen Partner geblieben und ihr damit eine Mitschuld an den Taten des Mannes gegeben wird. Viele der kulturellen Erzählungen, die es in unserer Gesellschaft gibt, imaginieren Frauen als schuldig oder böse. Damit wird auf besonders perfide Weise patriarchale Gewalt legitimiert. Letztlich entlasten solche Erzählungen die Täter, aber eben auch ein ganzes System, das sie stützt und ihre Taten ermöglicht.

«Femizide sind quasi die Spitze des Eisbergs der geschlechtsspezifischen Gewalt. Die Grundlage dafür zeigt sich in einem Besitzanspruch, also dass Männer meinen, sie hätten Anspruch auf eine Frau oder ihren Körper.»
Nadia Brügger

Sind Femizide zum Teil vorauszusehen?

Es wird häufig so dargestellt, als seien Femizide spontane Taten, die aus dem Moment heraus geschehen. Aus der Forschung weiss man allerdings, dass Femizide in der Mehrheit der Fälle mit viel Aufwand geplant werden und die Täter sehr entschlossen handeln. Es zeigen sich häufig bereits früher in der Beziehung Risikofaktoren. 

Welche?

Die späteren Mörder sind schon vorher z. B. gewalttätig, bedrohen, stalken oder überwachen ihre Partnerinnen und üben häufig psychische Gewalt aus. Kurz: Sie zeigen kontrollierendes Verhalten. Femizide sind quasi die Spitze des Eisbergs der geschlechtsspezifischen Gewalt. Die Grundlage dafür zeigt sich in einem Besitzanspruch, also dass Männer meinen, sie hätten Anspruch auf eine Frau oder ihren Körper, dass die Frau ihnen gehört oder sie glauben, sie werden für immer mit ihrer Partnerin zusammen sein. Diese Anspruchshaltung ist an sich schon sehr gewaltvoll.

«Geschlechtsspezifische Gewalt ist vor allem kein Beziehungsproblem, sondern ein Männerproblem.»
Nadia Brügger

In den letzten Jahren ist der Begriff Femizid präsenter geworden, auch in den Medien. Man liest hin und wieder aber auch noch vom Beziehungsdrama oder von der Beziehungstat. Was ist der Unterschied?

In einer seriösen Berichterstattung sollte man solche Begriffe wirklich nicht mehr verwenden. Begriffe wie Beziehungsdrama sind so sprechend, weil sie Ausdruck davon sind, dass wir als Gesellschaft eine sehr grosse Sympathie für Täter haben. Kate Manne, die ein Standardwerk zu Misogynie geschrieben hat, nennt das «Himpathy». Sie beschreibt damit, dass häufig eher einem Täter Mitleid entgegengebracht wird, und es an Empathie für die Opfer mangelt. Das ist verheerend, letztlich aber Ausdruck davon, dass Frauenhass ein sehr banales Gefühl, ja eigentlich eine emotionale Gewohnheit ist, wie es die Anwältin Christina Clemm nennt. Wenn man solche geschlechtsspezifischen Morde als Beziehungstat bezeichnet, dann verharmlost man eben einerseits das enorme Gewaltverbrechen und macht andererseits die Täter unsichtbar. Dabei könnte man mit den betroffenen Frauen solidarisch sein und auch an die Hinterbliebenen denken. Das wäre ein wichtiges Zeichen. 

Das leuchtet ein, da bei einer Beziehung zwei Menschen dazu gehören, für einen Mord jedoch nur eine Person verantwortlich ist.

Genau. Geschlechtsspezifische Gewalt ist ja vor allem kein Beziehungsproblem, sondern ein Männerproblem.

Auf eurer Webseite von Stop Femizid gibt es auch einen Leitfaden für Medien. Auch für Bajour ist es manchmal schwierig zu entscheiden, ob wir über gewisse Fälle berichten oder nicht. Wie kann man entscheiden, bis wann es darum geht, Aufmerksamkeit für ein gesellschaftliches Problem zu gewinnen und ab wann es voyeuristisch ist?

Wichtig ist es in jedem Fall, diese Gewalttaten in einen Kontext zu stellen. Also wenn über einen Femizid berichtet wird, z. B. zu schreiben, der wievielte es in diesem Jahr bereits ist, von dem wir wissen. Das zeigt die Dimension und dass die Gewalttaten eben System haben und nicht irgendwelche Zufallstaten oder Einzelfälle sind.

Tötungsdelikte Häusliche Gewalt
(Bild: Bundesamt für Statistik)

Woran macht man das fest?

Die Sozialwissenschaftlerin Verónica Gago spricht von einem Krieg gegen Frauen. Im Jahr 2022 wurden weltweit 89’000 Frauen und Mädchen ermordet – so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr. Bei rund der Hälfte der Fälle war der Täter ein Partner oder Familienmitglied. Diese Zahlen sind da, das Ausmass des Problems ist längstens bekannt, aber das Leben von Frauen scheint noch immer keine Priorität zu haben. 

Worauf sollten Medien bei der Berichterstattung über Femizide achten?

Als Reaktion auf unser Projekt haben uns schon Personen geschrieben, die jemanden aufgrund eines Femizids verloren haben und gesagt, dass die zum Teil verharmlosende Berichterstattung für sie sehr schlimm zu lesen war. Als Journalist*in muss man möglichst versuchen, eine opferzentrierte und traumainformierte Berichterstattung hinzukriegen. Denn solche Artikel lesen auch Menschen, die aktuell von Gewalt betroffen sind, aber auch diejenigen, die Gewalt ausüben oder Täter sind. Deshalb ist nicht zu unterschätzen, welche Signale man mit einer verharmlosenden Wortwahl sendet.

«Ein grosser Schritt wäre, Femizide als gesamtgesellschaftliches Problem anzuerkennen.»
Nadia Brügger

Kann ein Zeitungsbericht unter Umständen betroffenen Frauen helfen?

Was betroffenen Frauen vor allem hilft, ist ein solidarisches Umfeld: Das sind Menschen, die nachfragen, wenn sie vermuten, dass eine Frau von Gewalt betroffen sein könnte, die ihre Hilfe anbieten und Frauen glauben, wenn sie von ihren Erlebnissen erzählen. Die Berichterstattung hat sich in den vergangenen Jahren verändert, und es finden sich jetzt häufiger Kontakte zu Anlaufstellen am Ende eines Artikels. Das ist sehr begrüssenswert. An solchen Veränderungen sieht man, dass sich das Bewusstsein bereits verändert hat. Dass dieser Bewusstseinswechsel eingetreten ist, verdanken wir dem unermüdlichen Einsatz feministischer Aktivistinnen, Theoretikerinnen und der feministischen Bewegung. 

Und was bleibt jetzt noch zu tun, um Frauen zu schützen?

Wir müssen den Fokus verschieben und nicht fragen, wie sich Frauen schützen können, sondern fragen, weshalb Männer so gewalttätig sind, warum sie niemand daran hindert, und welche Rollenbilder ihr Verhalten prägen. Und wir müssen auch fragen, warum viele Menschen es noch immer akzeptabel finden, dass Männer sich Frauen gegenüber so verhalten. Ein grosser Schritt wäre, Femizide als gesamtgesellschaftliches Problem anzuerkennen. Männer sind da besonders in der Verantwortung: Es reicht eben nicht, selbst nicht gewaltausübend zu sein. Es braucht ein kollektives Entgegenstehen gegen geschlechtsspezifische Gewalt. 

______________

Hilfe für Betroffene:

Hilfe im Notfall:

  • Polizei: 117
  • Frauenhaus beider Basel: 061 681 66 33; info(at)frauenhaus-basel.ch
  • Dargebotene Hand: 143
Herzen
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