Literatur für jetzt von jetzt: Die Hochzeit
Es ist ein Tag, von dem fast jeder weiss, wie er ihn verbracht hat: Der Lockdown-Start. Fest mit unserer Erinnerung verbunden, schreibt er Geschichten, die wir festhalten wollen, bevor sie sich wieder verflüchtigen.
Am Freitag hat der Bundesrat ausgerufen. Am Sonntag hat mich Benjamin von Wyl angerufen. Er habe zusammen mit ein paar Freunden tausend (!) Briefumschläge gekauft, deren Inhalt 30 Autor*innen innert fünf Tagen füllen sollten. Denn die meisten hätten zwar stapelweise ungelesene Bücher, aber irgendwie fehlte die Aktualität. Und jede Sekunde den Corona-Ticker neu laden, befriedige auch nicht. Recht hatte er. Und so entstand die erste Nummer «Stoff für den Shutdown», einem Print-Zine-Magazin, das uns durch den Schwebzustand begleiten soll. Beim erfolgreichen Crowdfunding kamen über 32 000 Franken für das Projekt zusammen. Und es zeigt sich: wenn Gewissheiten fehlen, dann ist Literatur umso wichtiger. Ein exklusiver Auszug für Bajour-Leser.
Ist einer von ihnen beiden adoptiert? Die Zivilstandsbeamte hörte kurz auf, mit der Tastatur zu klappern. Vor der Frau lag ein Fragebogen. Vor dem Mann lag ein Fragebogen. Dort hatten sie gegenseitig ihre Personalien eingetragen. Sie wollten keine grosse Sache daraus machen. Ein formaler Akt. Mehr nicht. Trotzdem hatte sie sich auf dem Weg zum Stadthaus noch ein paar goldene Schuhe gekauft, die nun unter dem Bürotisch glänzten. Nein. Also. Ja. Eine Stiefkindadoption. Lange her. So sehr mit der Familiengeschichte verwoben, dass der Begriff gar nicht zu dem Umstand zu passen schien, dass der zweite Mann ihrer Mutter irgendwann auch ihr rechtlicher Vater geworden war.
Sie blickte nervös auf die Zeiger der Uhr an der Wand. Es war schon kurz nach vier. Im Hintergrund raschelte das Cellophanpapier, in das die mannshohen Rosen eingeschlagen waren. Die beiden Trauzeugen verschwanden beinahe hinter dem Strauss, was gar nicht so schlimm war, weil sie eigentlich sowieso im Wartesaal sein sollten. Mit einem leeren Stuhl und zwei Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und den anderen. Auch wenn sie sich beim grossen Spender gewissenhaft die Hände desinfiziert hatten. Auf der Tastatur war es erneut still geworden. Es fehle noch eine Bestätigung aus der Hauptstadt, sagte die Beamtin.
«Vier Lagen weisser Tüll wären genau vier Lagen zu viel gewesen.»
Nur eine Formalität, wegen der Adoption. Normalerweise. Ausser an diesem Freitag. Das Jahr hatte schon so angefangen. Nachts rüttelten und zerrten die Winde an den Fensterläden. Bianca. Petra. Sabine. Sturmtiefs wie Vorahnungen, die mitten im Winter schwülwarme Luft brachten. Sie las Nachrichten von schmelzenden Eisschilden. Der heißeste Sommer. Der wärmste Winter. Und ein Himmel voller Flugzeuge, die sich wie ein breites Band pausenlos um den Globus schlangen. Wenn sie im Bett den gleichmässigen Atemzügen der Tochter lauschte, dachte sie über Kaskadeneffekte nach. Steigende Meeresspiegel. Versteppte Regenwälder. Das Ende der Evolution. Erst wenn sie sich eine Dokumentation über Pottwale oder indigene Völker im Amazonas ansah, schlief sie ein. Und wenn sie wieder aufwachte, musste sie sich als Erstes von den verhedderten Kabeln der Ohrenstöpsel befreien.
Doch im Grossen und Ganzen hatte sie sich daran gewöhnt, dass die Möglichkeit einer Katastrophe permanent präsent ist. Viel eher wunderte sie sich darüber, dass es den anderen ganz offensichtlich nicht ebenso zu ergehen schien. Wenn sie mit dem Fahrrad am Fluss entlang durch die Altstadt fuhr, vorbei an Reisegruppen und Pärchen, die Liebesschlösser an Brücken anbrachten, spielte sie im Kopf mögliche Szenarien durch. Dürren. Brände. Oder vielleicht auch nur eine einzige feindliche Zelle, die im Geheimen zu wuchern begann und sie aus dem Leben stossen würde.
Als sie die von Arkaden umgebene Halle verliessen, war sie froh, dass sie den Rock schon tags zuvor wieder in das Geschäft zurückgebracht hatte. Vier Lagen weisser Tüll wären genau vier Lagen zu viel gewesen. Sie kannte Paare, die sich wieder hatten scheiden lassen. Sie kannte solche, die zweimal geheiratet hatten. Aber sie kannte niemanden, der das Standesamt unverrichteter Dinge wieder verlassen musste. Auf dem Boden lagen Herzen und Reiskörner, verstreute Hinterlassenschaft der letzten Festgesellschaft. Sie machten trotzdem ein paar Bilder, denen sah man das ja nicht an. Während sie auf die Meldung aus Bern gewartet hatten, verkündete der Innenminister im Fernsehen, dass ab Montag alle Schulen im Land für die kommenden Wochen geschlossen sein würden.
Auf einmal war sie da, die Katastrophe. Unsichtbar eingeflogen. Ohne Vorwarnung, dafür mit exponentiellem Wachstum. Und während ein paar hundert Kilometer weiter südlich die ersten Menschen im Fieber auf den Krankenhausfluren erstickten, schwante ihnen langsam, dass das weiche Kissen der Zivilisation, in das sie sich jederzeit fallen lassen konnten, mit einem Schlag bedroht war. Auf den ersten Blick sah es auf dem grossen Parkplatz aus wie an einem ganz normalen Morgen im Frühling. Ein paar Jungs spielten Rollhockey. Die Magnolien standen vor ihrer flüchtigen Blüte, die Natur war bereit für eine neue Runde. Erst nach und nach fiel auf, dass nur Geschwister und Familien beisammen standen. Achthundert neue Fälle an einem Tag. Die Schweiz war über Nacht zu einem Hochrisikoland geworden. Die Grenzen abgeriegelt. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie nicht mehr zu ihren Verwandten, die weiter nördlich lebten. Sie dachten an den Lockdown, der am Nachmittag kommen würde. Lockdown. Ein Wort, dass in ihrem Sprachgebrauch bis vor wenigen Tagen nicht existiert hatte. Nun hatte sich auch dessen Verwendung exponentiell vermehrt.
Die ausgefüllten Fragebogen lagen noch immer in einer Schublade auf dem Amt. Doch sie hatten keinen neuen Termin ausgemacht. Die Burg im Bündnerland war erst für September gemietet. Lange Schatten, goldenes Licht. Sie würden draussen Pizza backen, tanzen. Bier aus Flaschen trinken. Die Kinder würden irgendwann in ihre Schlafsäcke schlüpfen und das Lachen und die Gespräche der Erwachsenen würden sie zudecken. Auch wenn das Amt nur ein formaler Akt war, fand sie keine Ruhe. Es fühlte sich ein bisschen so an wie damals, als sie kurz vor der Geburt tagelang die Wohnung geschrubbt und alles fertig bekommen musste, was sie sich vorgenommen hatte.
Zwei Stunden später trafen sie sich erneut vor dem Stadthaus. Gleicher Ort, gleiche Mission. Auf den Strassen war es merklich ruhiger geworden. Die beiden Trauzeugen hatten neue Rosen mitgebracht, diesmal in rosa. Die Stimmung war gedrückt, aber aufrichtig. Man musste nicht mehr viel sagen, es war einfach, wie es war und das verband sie für diesen Moment auf eine Art und Weise, die keine Worte verlangte.
Vor dem Spender mit Desinfektionsmittel am Eingang hatte sich eine Schlange gebildet. Statt einer Festgesellschaft kamen ihnen diesmal zwei Männer mit Mundschutz entgegen. Bald darauf sassen sie in einem Raum mit Holztäfer und Fenstern aus buntem Glas. Eine kleine Wiedergutmachung, auch ohne Reservation. Zweimal ja. Viermal Unterschrift. Ein Erinnerungsfoto, Chagall im Hintergrund.
«Und seit die Flugzeuge am Boden blieben, war auch wieder Platz am Himmel.»
Wenn das alles hier vorbei ist, dann feiern wir, bestätigten sie sich zum Abschied und ahmten dabei in der Luft Umarmungen nach. Für einen Augenblick sahen sie zur grossen Kirche hinüber. Sie dachten darüber nach, was das mächtige Gebäude schon alles überstanden hatte. Und das war eine tröstliche Vorstellung. Dann gingen sie ihrer Wege. Jeder für sich. Die Arbeit rief. Heute erst recht.
Ein Putzwagen der städtischen Reinigung wischte den Asphalt hinter ihnen sauber. Die rotierenden Bürsten erschienen ihr noch lauter als sonst, was vielleicht aber auch daran liegen mochte, dass es still geworden war in der Stadt. Ein Fahrrad sauste vorbei, ein wehender Mantel. Es war, als würden sich die Leute nicht mehr umschauen, weil sie fürchteten, jemandem zu begegnen. Und dann nicht wüssten, wie sie sich korrekt verhalten sollten.
Nie hätte sie geglaubt, nie sich auch nur vorgestellt, dass sie ihre Flitterwochen in Quarantäne verbringen würde. Aber vielleicht passte das ja zu ihnen. Die Tage hatten einen neuen Takt bekommen, dessen Höhepunkt darin bestand, einen Kopfsalat, getrocknete Tomaten und Schokolade zu kaufen. Oder in der Dunkelheit ein paar verstohlene Runden auf dem Sportplatz zu drehen. Doch auf einmal war vieles klar, auch die Kanäle von Venedig, wo man jetzt kleine Fische sah, die am Boden herumflitzten, vor der Stadt gar Delfine. Und seit die Flugzeuge am Boden blieben, war auch wieder Platz am Himmel. Die Welt hatte begonnen, sich wieder auszudehnen.
Digitale Vernissage: «Stoff für den Shutdown Vol. I»
Im verlassenen Saal des Neumarkt Theater Zürich lesen Schauspieler*innen Geschichten von Tabea Steiner, Romana Ganzoni, Sascha Rijkeboer, Donat Blum, Simone Meier, Daniel Mezger, Fatima Moumouni, Michelle Steinbeck und vielen mehr. Getragen werden die Texte von elektronischer Musik, welche den Rhythmus der Sprache und die Atmosphäre aufnimmt und sie zu etwas neuem verwebt.
Die Ausstrahlung erfolgt in zwei Teilen:
- Samstag 11. April 2020, 21.00 https://kapsel.space/
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Samstag 18. April 2020, 21.00 https://kapsel.space/
Es sprechen: Sascha Ö. Soydan, Patrick Slanzi, Anna Hofmann, Jakob Leo Stark und Tobias Bienz.
Sound: Nicolas Balmer, Dadaglobal