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Der Krieg & ich

Wie ungerecht ist die Hilfe für Ukrainer*innen?

Hilfe für Geflüchtete sollte nicht zum Wettbewerb werden. Jedes Leid muss respektiert und anerkannt werden, findet die ukrainische Autorin Eugenia Senik.

04/27/22, 03:04 AM

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Eugenia Senik: «Ich bitte euch alle, eure Empathie nicht zu verlieren.»

Eugenia Senik: «Ich bitte euch alle, eure Empathie nicht zu verlieren.» (Foto: Anastasia Stefanenko)

Ich habe dieses Thema lange vermieden, obwohl ich oft darüber nachgedacht habe. Denn mir ist bewusst, dass das Thema kompliziert und emotional ist.

Ich höre fast täglich von Freund*innen und Bekannten aus der Schweiz, wie unfair es doch sei, dass ausschliesslich den Ukrainer*innen in Not so grosszügig geholfen wird. Sie kritisieren dabei nicht die Ukrainer*innen, sagen sie, aber das System. Doch die Kritik liest sich oft anders, besonders auf sozialen Medien. Unter anderem bin ich auf Instagram auf folgendes Bild gestossen:

(Foto: Eugenia Senik)

Doch hier spüre ich nicht nur die Kritik am System, sondern auch an den Ukrainer*innen. Auch stehen da Unwahrheiten. Nein, nicht alle Ukrainer*innen können in Deutschland ohne Abitur an der Universität studieren. Man erkennt am Ton und Struktur des Textes, dass hier auch Neid und Irritation gegenüber Ukrainer*innen projiziert werden. Eine Ukrainerin ohne Ausbildung wird Architektin, während eine Syrerin mit Ausbildung als Putzkraft arbeiten muss. Das Gespräch ist nicht zwischen einem deutschen Migrationsbeamten und einer Syrerin, sondern mit einer überheblichen Ukrainerin, die mit blosser Selbstverständlichkeit ihre Privilegien auszunutzen wusste. Eine Ungerechtigkeit und keine Wahrheit.

Und das macht mich unendlich traurig, weil ich hier den Versuch sehe,  unsere Gesellschaft zu spalten. Etwas, das ich als Ukrainerin nur zu gut kenne und miterlebt habe, damals als die Russen mit Erfolg durch Propaganda und Lügen ukrainische Familien aufeinander hetzten. 

Doch Leser*innen müssen wissen, dass wir schutzsuchende Ukrainer*innen nicht immer diese Hilfe bekommen haben. Als Ukranierin aus dem Donbas möchte ich euch meine Geschichte erzählen und wie ich diesen Krieg, der schon 2014 angefangen hat, bis jetzt erfahren musste. Denn was wir seit dem 24. Februar erleben, ist nur eine neue umfassende Phase von demselben Krieg. Es existierten bereits zehntausende Opfer bevor die ersten Raketen Kyiv trafen. Diesen Opfern wurde damals nicht geholfen und unter ihnen ist auch meine Familie und viele meiner Freunde.

Zur Autorin

Zur Autorin

Die ukrainische Schriftstellerin Eugenia Senik (35) lebt seit August 2021 in der Schweiz. Aufgewachsen ist Senik im Osten der Ukraine, in Luhansk. Am 9. Mai erscheint ihr dritter Roman, «Das Streichholzhaus», auf Deutsch. Es wurde vom PEN Ukraine in die Liste der besten ukrainischen Bücher des Jahres 2019 aufgenommen. Für Bajour schreibt sie ein persönliches Tagebuch über den Krieg.

Als der Krieg im Donbas ausgebrochen ist, habe ich in La Chaux-de-Fonds am Roman «das Streichholzhaus» gearbeitet. Man hat mir damals in der Schweiz keine Hilfe angeboten, obwohl ich durch den Krieg mein Zuhause verloren hatte und in der Westukraine wenig Unterstützung fand. In Westeuropa hatte man wenig Ahnung von diesem Krieg und man sah ihn eher als Konflikt innerhalb des Landes an. Ich bin also in die Ukraine zurückgekehrt, ohne zu wissen, was mich erwartet.  

Gleichzeitig musste meine Schwester mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann fast ohne nichts aus Luhansk fliehen. Alles, was sie dort aufgebaut hatten, mussten sie verlassen und nirgendwo, nicht mal in der Ukraine, wurde ihnen Hilfe angeboten. Sie mussten Orte wechseln, bei Freunden kurzfristig Schutz suchen und irgendwie Geld verdienen. Sie mussten einfach überleben.

Ich habe damals eine winzige Wohnung in der Westukraine gefunden, eine Wohnung, die kaum Platz für eine Person bot. Meine Mutter hat es gerade noch geschafft, mit dem letzten Zug zu mir nach Lwiw zu kommen. Dicht aneinander gedrängt haben wir in dieser winzigen Wohnung  Schutz gefunden. Mein Vater ist aber alleine zu Hause geblieben und wollte die Wände halten, während die Stadt beschossen wurde. Er sagte, er wolle lieber dort sterben, wo er geboren wurde und niemals den Separatisten oder Russen sein Land überlassen.

Wir hatten mehrere Monate keinen Kontakt mit ihm und wussten nicht, ob er noch lebte. Wir erfuhren aber, dass ein Gebäude, welches keine zehn Meter entfernt stand, bis auf das Fundament zerstört worden war. Ob dabei auch unser Haus getroffen wurde, wussten wir nicht. 

«Wir waren in Sicherheit in Lwiw, aber es ist kein Geheimnis, dass psychische Schmerzen genauso stark sein können wie physische.»

Eugenia Senik

Der ukrainische Staat hat damals für mehrere Monate die Rente für alle Rentner*innen aus Donbas eingefroren, mit der Begründung, dass diese Rentner*innen wahrscheinlich auch Separatist*innen seien. Meine Mutter ist somit als Rentnerin ohne Geld geblieben. Ich hingegen habe als Lehrerin gearbeitet. In der Ukraine ist das kein gut bezahlter Job. Pro Stunde habe ich zwei bis drei Franken verdient. Ich habe also mehr Schüler*innen aufgenommen und fast ohne Pause gearbeitet. Manchen Schüler*innen habe ich sogar kostenlosen Unterricht angeboten, weil ihre Väter in dieser Zeit an der Front für mein Zuhause kämpfen mussten.

Wir waren in Sicherheit in Lwiw, aber es ist kein Geheimnis, dass psychische Schmerzen genauso stark sein können wie physische. Mein Vater, meine Verwandtschaft und Freund*innen waren in Gefahr und ich fragte mich jeden Tag, ob sie noch lebten. Ich konnte in der Nacht kaum mehr als ein paar Stunden schlafen. Ich hatte starke Schmerzen am ganzen Körper und die Ärzte waren ratlos. Meine Arme und Beine zuckten und zitterten ständig unkontrolliert.

Ich versuchte, das alles mit meinen Freund*innen in der Westukraine zu teilen, in der Hoffnung dass sie mein Leid verstehen würden und mich unterstützen könnten. Aber ich fand kein Verständnis. Wir Donbasser wurden sogar beschuldigt, diesen Krieg angezettelt zu haben. 

«Wegen der neuen Grenze habe ich mich nicht mehr getraut, zurück nach Hause zu fahren.»

Eugenia Senik

Meine Seele starb jeden Tag erneut an den unerträglichen Schmerzen, die ich mit fast niemandem besprechen konnte. Man hatte damals nicht deutlich genug erkannt, dass es eigentlich der Anfang vom heutigen Krieg ist. Wir waren also Opfer dieses Krieges wie jetzt der Rest der Ukraine zum Opfer wurde. Nur gab es damals keine Solidarität und keine weltweite Hilfe. Wir mussten unsere Schmerzen schlucken und einfach weiterleben. 

Als meine Stadt und viele andere Städte im Donbas erobert und besetzt waren, wurde es in meiner Heimatstadt mehr oder weniger ruhig. Wir konnten den Vater wieder telefonisch erreichen und die schrecklichen Geschichten von ihm hören. Seine Gesundheit hat sich in der Zeit auch verschlimmert. Er hatte fast sein ganzes Sehvermögen verloren und sein Herz hat stark gelitten. Meine Mutter entschied sich zurückzukehren, um ihn zu unterstützen. 

Wegen der neuen Grenze habe ich mich nicht mehr getraut, zurück nach Hause zu fahren. Ich hatte Angst, dass Kämpfer der sogenannten LNR mich entführen und foltern würden, weil ich schon damals öffentlich eine starke, pro-ukrainische Meinung vertreten habe. Und die Ukraine ohne meine Heimatstadt, war für mich nicht mehr dasselbe Land. Dieser Verlust tut mir seitdem jeden Tag weh. Bald starb auch meine liebste Tante. Sie hatte alle Bombardierungen in Luhansk überlebt, doch eines Tages ist sie aus dem Haus gekommen, hat sich auf die Bank im Garten gesetzt und ist tot umgefallen. Ein Hirnschlag. Ich konnte nicht an ihre Beerdigung gehen.

Donbas 2015: Die Brücke zwischen dem ukrainischen und dem Separatistengebiet ist zerstört, der Weg nach Hause für Eugenia symbolisch zerbrochen.

Donbas 2015: Die Brücke zwischen dem ukrainischen und dem Separatistengebiet ist zerstört, der Weg nach Hause für Eugenia symbolisch zerbrochen. (Foto: Eugenia Senik)

Ich lernte jedoch, neu zu leben und mich dieser neuen Situation anzupassen. Ich hatte endlich «das Streichholzhaus» auf ukrainisch beendet und war bereit, das Buch zu veröffentlichen, als bei meiner Mutter plötzlich Krebs diagnostiziert wurde. Sie begann einen langen und schmerzhaften Kampf. Dazu musste sie zu meiner Schwester nach Sumy, da die besten Ärzten angeblich aus dem besetzten Donbas geflohen sind. 

Meine Mutter hat diesen Kampf leider verloren. Ich habe damals verstanden, dass man vor dem Krieg fliehen kann, aber nicht vor Krebs. Bei der Beerdigung kam keine Verwandtschaft und auch keine Freunde. Sie waren auf der anderen Seite der Grenze. Auch ihr Ehemann, mein Vater, kam nicht. In der Kirche standen wir nur zu viert: Meine Schwester, ihr Mann, ihre Tochter und ich. Man hat uns gefragt, wann die Menschen kommen würden. Sie kommen nicht, wir können anfangen.

Mein Vater hat den Tod meiner Mutter nicht verkraftet und er ist in eine tiefe Depression gerutscht. Wir versuchten, ihn zu überzeugen, in die Ukraine auszureisen und hatten schon fast alles organisiert. Doch nun hatte die Pandemie angefangen und die Grenze zur sogenannten LNR wurde geschlossen. Er fühlte sich jeden Tag schlechter. Und er wollte nicht mehr kämpfen. Nicht für uns, nicht für irgendetwas. Er hatte  vollkommen aufgegeben, egal wie sehr ich am Telefon flehte und bettelte,  für uns zu leben.

«Alle Hilfsorganisationen haben mir geantwortet, dass sie im besetzten Donbas nicht tätig seien. Also doch Ärzte mit Grenzen.»

Eugenia Senik

Meine Schwester und ich versuchten, ihm Hilfe in seinem Gebiet zu organisieren. Aber viele Ärzte waren selber krank. Covid wurde geleugnet, keine Tests oder Therapien waren möglich, die Spitäler überfüllt. Und ich hörte am Telefon wie mein Vater keuchte und kaum Luft bekam. Ich habe allen geschrieben: Rotes Kreuz, Caritas, Ärzte ohne Grenzen. Ich wollte auf die Strasse gehen und um Hilfe schreien, nur konnte uns niemand helfen. Alle Hilfsorganisationen haben mir geantwortet, dass sie im besetzten Donbas nicht tätig seien. Also doch Ärzte mit Grenzen.

Ich habe alte Freund*innen unserer Familie kontaktiert, um sie zu bitten, den Notfalldienst anzurufen. Eine Ärztin sollte am nächsten Tag kommen. Meine Verwandte, die in Luhansk im Spital arbeitete, hat mir aber gesagt, dass mein Vater keine Chancen hat, weil es keine Medikamente gibt. Ich bat ihn trotzdem, noch eine Nacht zu überstehen. Am nächsten Morgen beantwortete er das Telefon nicht mehr. Die Türe war verschlossen. Meine Bekannte musste durch das Fenster klettern und sah seinen leblosen Körper neben dem Schlafzimmer.

Das letzte Mal habe ich meinen Vater im April 2014 gesehen, als ich meine Eltern und mein altes Zuhause wie üblich zu Ostern besucht habe. Also vor genau acht Jahren. Kurz danach ist der Krieg ausgebrochen, der bis jetzt andauert. Mein Vater ist alleine gestorben und niemand konnte ihm helfen. Meine Schwester und ich waren die nächsten Verwandten, die übrig geblieben sind und wir konnten nicht an seine Beerdigung. Auch das bedeutet dieser Krieg für mich.

Schicksalsschläge, kaputte Leben, unendliches Leiden. 

Eugenias Tagebuch als Podcast

Eugenias Tagebuch als Podcast

Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat die ukrainische Autorin Eugenia Senik ihre Gedanken, Sorgen und Ängste für Bajour aufgeschrieben. Du kannst sie als Podcast hören, Eugenia hat die Texte selber eingesprochen.

Hören.

Ich habe meine Schmerzen mit euch geteilt, weil ich betonen will, dass ich andere Geflüchtete gut verstehe, denen gar nicht oder nicht genug geholfen wird. Es ist dabei auch wichtig, zu erwähnen, dass ich nicht als Schutzsuchende in der Schweiz wohne. Vor einem halben Jahr bin ich für mein Masterstudium in die Schweiz gekommen. Mein Visum musste ich als Drittstaatlerin hart erkämpfen. Ich musste mich dabei mühsam durch den bürokratischen Dschungel schlagen wie jeder, der nicht Schweizer ist oder aus der EU kommt. Ich bekomme keine Sozialhilfe und darf als Studentin nur limitierte Stunden pro Woche arbeiten.

Obwohl ich mein Zuhause während desselben Krieges in der Ukraine verloren habe und meine Familie stark darunter gelitten hat, bin ich in der Schweiz an die gleichen Regeln gebunden wie alle  Ausländer*innen, die nicht vor einem Krieg fliehen mussten. Ich will das aber nicht als Ungerechtigkeit ansehen, sondern stehe stark dafür ein, dass man den Ukrainern weiterhin aktiv hilft. Und ich tue es selber jeden Tag mit allen Kräften, die mir zur Verfügungen stehen. Das mache ich nicht nur, weil ich Ukrainerin bin. Sondern weil ich weiss, was der Krieg bedeutet und welche Spuren er hinterlässt. 

Ich möchte keinen Wettbewerb daraus machen, wer das grösste Opfer ist und mich beklagen, wie ungerecht die Welt doch sei. Leider ist die Welt ungerecht, das ist die bittere Wahrheit. Aber es bedeutet nicht, dass man gleich verzweifeln muss. Jede*r von uns kann diese Welt ein bisschen besser und gerechter gestalten. Jedes Leid muss respektiert und anerkannt werden. Jeder und jedem in Not muss geholfen werden. Und es tut mir sehr leid, dass die westliche Welt sich erst jetzt entschieden hat, den Menschen, die vor dem Krieg fliehen mussten, so proaktiv zu helfen.  

«Ich bitte euch sehr, keine Feindlichkeit gegenüber den Ukrainer*innen in eure Herzen zu lassen, auch wenn euch, euren Freund*innen oder Bekannten nicht in Not geholfen wurde. Weil es uns nur weiter weg von einer gerechten Welt schieben wird.»

Eugenia Senik

Man kann viel spekulieren und diskutieren, warum eigentlich den Ukrainer*innen und warum erst jetzt. Ich bitte euch aber, bei jedem Instagram- oder Twitter-Post kritisch zu bleiben und eure Empathie nicht zu verlieren. Die Menschen aus der Ukraine, die jetzt grosse Hilfe bekommen, nehmen den anderen Geflüchteten nichts ungerechterweise weg. Sie bekommen das, worauf jede*r Schutzsuchende ein Recht haben sollte. Ich bitte euch sehr, keine Feindlichkeit gegenüber den Ukrainer*innen in eure Herzen zu lassen, auch wenn euch, euren Freund*innen oder Bekannten nicht in Not geholfen wurde. Weil es uns nur weiter weg von einer gerechten Welt schieben wird.

Wir sollten uns in dieser Diskussion nicht spalten, sondern einigen, damit dieser Präzedenzfall eine Regel wird, egal aus welchem Land er oder sie gerade vor dem Krieg flieht. Und ich wünsche uns allen von ganzem Herzen, dass es keine Kriege in der Welt mehr gibt. Damit überhaupt niemand fliehen muss und dass jede*r in Frieden und Sicherheit im eigenen Zuhause leben kann. 

Aber dafür müssen wir alle umdenken und das System neu starten. 

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