Hier spricht der oberste Basler
Heute hat Bülent Pekerman (GLP) das neue Jahr des Grossen Rats eingeläutet. Das ist die Rede des neuen Grossratspräsidenten.
Sehr geehrter Herr Statthalter Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen des Grossen Rates Sehr geehrter Herr Regierungspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Regierungsrätinnen und Regierungsräte Sehr geehrter Herr Vorsitzender des Gerichtsrates Sehr geehrte Mitarbeitende des Parlamentsdienstes und der Staatskanzlei Sehr geehrte Medienvertreter und Medienvertreterinnen Sehr geehrte Gäste auf der Tribüne und an den Bildschirmen Liebe Familie und Freunde Bitte nehmen Sie Platz und schnallen Sie sich an, begleiten Sie mich auf eine Reise durch Raum und Zeit. Es wird Sie verwundern, dass gerade der erste grünliberale Grossratspräsident Sie zu einer Fernreise einlädt, aber machen Sie sich keine Sorgen: Wir reisen vollkommen CO2-neutral nur im Kopf. Unser imaginärer DeLorean befördert uns nicht in die Zukunft, sondern zurück ins Jahr 1977. Zwei Jahre nach dem Abzug der Amerikaner aus Vietnam und zwei Jahre vor dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan, wurde ich in der türkischen Provinz Konya in einem kleinen kurdischen Dorf namens Kelhasan geboren. Mein Dorf war mit 1000 Einwohnern genauso gross wie unser Bettingen. Fernab der Sorgen dieser Welt verbrachte ich meine Kindheit in einem Umfeld, in welchem es weder Telefon noch Radio, geschweige denn einen Fernseher gab.
«Es fällt mir schwer, unter diesen Umständen mein Grossratspräsidium anzutreten, aber ich werde es umso engagierter tun, im Wissen um die Schwere der Schicksale vieler Menschen auf dieser Welt.»Bülent Pekerman
In diesen Tagen bestimmt meine Heimatregion die medialen Schlagzeilen, und auch ich verfolge mit tiefer Trauer und Bestürzung die Nachrichten aus dem Erdbebengebiet in der Türkei und in Syrien. Meine Gedanken sind in diesen schrecklichen Stunden, in denen ich mich eigentlich unbeschwert über mein neues Amt freuen wollte, bei den Opfern dieser Naturkatastrophe. Meine Gedanken sind auch bei den vielen Menschen in Basel, die in der betroffenen Region Verwandte haben und die teilweise noch ohne Kontakt in grosser Sorge um ihre Liebsten sind. Es fällt mir schwer, unter diesen Umständen mein Grossratspräsidium anzutreten, aber ich werde es umso engagierter tun, im Wissen um die Schwere der Schicksale vieler Menschen auf dieser Welt. Möge es uns gelingen, einen Beitrag zur Linderung des Leids wenigstens im uns möglichen Rahmen zu leisten.
Anfang der 80er Jahre musste mein Vater, wie Millionen andere junge Männer, seine Frau und die Kinder verlassen, um im nördlichen Europa ein wirtschaftliches Auskommen für die Familie zu suchen. Als mein Vater Richtung Schweiz aufbrach, fuhren junge europäische Männer über den Atlantik, um im Falklandkrieg zu sterben und zu töten. Von meinem Vater hörten wir nicht viel. In einer Zeit ohne Whatsapp, E-Mail und in einem Dorf ohne Telefon bedeutete die Auswanderung für Familien eine radikale Trennung und viel emotionale Entbehrung. Ab und zu erreichte uns eine Postkarte aus der Schweiz, auf welcher immer satte, grüne Wiesen und Berge zu sehen waren. Es war eine andere Natur als die, die ich kannte, und ich hatte das Gefühl, dass in der Schweiz immer Frühling sei.
Nach dem Amt des Statthalter, übernimmt Bülent Pekerman den Sitz des «höchsten Basler». Damit ist er der erste Grossratspräsident von der glp und der erste mit kurdischen Wurzeln. Wir haben den Fahrlehrer vor einem Jahr, als er zum Statthalter gewählt wurde, bei der Arbeit besucht. Der Artikel zeichnet seinen Weg vom Hinterbänkler zum Politiker nach und berichtet von ihm als Brückenbauer zur Jugend, zur Perspektive von Migrant*innen.
Wenn andere Männer aus den umliegenden Gemeinden zum Urlaub nach Hause kamen, brachten Sie uns immer wieder Geschenke meines Vaters mit. Die Schweizer Buntstifte, Hefte, Blöcke und Kugelschreiber waren sowohl in meiner Primarschule in Kelhasan als auch später in der Sekundarschule in Konya ein Highlight. Nach fünf Jahren Trennung, die mein Vater auf dem Bau, im Gastrogewerbe und zuletzt als Taxifahrer verbrachte, war er auf einmal wieder da. Er hatte nicht nur das erste Mal Ferien bei uns, sondern mittlerweile auch eine B-Bewilligung. Ich erfuhr, dass auch wir bald in die Schweiz reisen würden. 1991 war es dann so weit. Da meine zwei ältesten Schwestern schon zu alt für den Familiennachzug waren, gingen die dritte und die vierte zu Papa in die Schweiz und ein Jahr darauf folgten meine Mutter und ich mit zwei weiteren Geschwistern. In Basel stellte ich fest, dass es doch nicht nur grüne Wiesen und Berge gab, und obschon ich für die Sekundarschule nach Konya gezogen war, erschien mir in dieser neuen Grossstadt alles fremd und merkwürdig. Ich kam in die Fremdsprachenklasse der Thomas Platter-Schule und sollte erst Jahre später erfahren, dass mein Schulhaus nach einem Migranten benannt war: Platters Wallis war 1535 noch mindestens so weit weg wie 1992 mein Anatolien.
Unsere Klasse bestand aus Fremden in der Fremde. Meine neuen Freunde stammten aus Indien, Kosovo, Sri Lanka, Bosnien und Serbien. Heute sind sie wie ich, in die Jahre gekommene Basler. Meine Mitschüler aus dem Balkan hatten in Basel gerade Zuflucht vor dem schrecklichen Bosnien-Krieg gefunden und mittlerweile hatte ich das Alter und die technischen Mittel, um zu erkennen, wie viel Elend es auf der Welt gibt und wie privilegiert mein neues Leben in Basel, trotz aller Anfangsschwierigkeiten, sein würde.
Frau Stoffel, meine damalige Lehrerin, schlug mich nach einem Jahr fürs Gymnasium vor. So verbrachte ich die nächsten vier Jahre am Bäumlihof-Gymnasium mit Blick auf die satten, grünen Wiesen und in nächster Nähe zu Riehen. Auch hier hatte ich wieder «Gspönli» aus anderen Ländern, die aber offensichtlich nicht mehr fremd in Basel waren. Ihre Namen klangen ungarisch und tschechisch, spanisch und italienisch. Noch mehr italienische und spanische Baslerinnen und Basler traf ich an der DMS 4, nachdem ich das Abenteuer Gymnasium leider abbrechen musste. Mein Ziel war es, Primarlehrer zu werden, wofür ich sogar das Gitarrenspielen lernte.
Auf Anraten meines Vaters machte ich die Taxi-Prüfung, um mir mit diesem Zusatzverdienst das Lehrersemi in Liestal zu finanzieren. Dieser provisorische Schülerjob stellte sich als so lukrativ heraus, dass ich hängen blieb und das Semi erst gar nicht antrat. 2003 folgte ich dann doch meiner pädagogischen Berufung und wurde Fahrlehrer. In diesem Beruf sollte ich manche Grundfähigkeiten erlernen, die auch in der Politik nützlich sind. Wie im Verkehr muss man sich auch in der Politik einen Überblick verschaffen: Innenspiegel – Aussenspiegel – Seitenblick – und nebst den eigenen Überzeugungen und Fähigkeiten das Verhalten und die Vorstellungen der anderen berücksichtigen.
«Sie als Grossratsmitglieder können von mir erwarten, dass ich unsere Sitzungen wie ein Fahrlehrer leiten werde. Ich werde zurückhaltend eingreifen und nur im Notfall auf die Bremse treten.»Bülent Pekerman
Politik ist ein dauernder Aeschenplatz. Es drängelt von hinten, es drückt von links, es hupt von rechts. Es braucht klare Regeln, viel gegenseitigen Respekt, Rücksichtnahme und gesunden Menschenverstand, am Ende jedoch auch Entschlossenheit, um voranzukommen und ein bestmögliches Miteinander zu erreichen.
2005 heiratete ich meine Freundin Hatice aus Bielefeld. Für mich war das ein riesiger Glücksfall und eine enorme Stütze, für Basel sollte es eine statistische Anekdote unserer multikulturellen Normalität werden. Denn diese Heirat führte dazu, dass heute sowohl der Präsident des Regierungsrates Beat Jans als auch ich als Präsident des Grossen Rates mit einer nicht in der Schweiz geborenen Baslerin verheiratet sind.
Ich selbst wurde im Jahre 2007 eingebürgert, sodass meine Tochter Lorîn 2008 und mein Sohn Ronî 2013 schon als Schweizer geboren wurden, heimisch in der neuen Heimat. Kaum eingebürgert, durfte ich bei der Gründung der GLP mitwirken, und als ich gerade mal ein Jahr lang Schweizer war, kandidierte ich für diesen Grossen Rat und hatte auch die Ehre von 2009 bis 2013 demselben angehören zu dürfen. Da ich 2012 und 2016 nicht wiedergewählt wurde, nutzte ich die Zeit, um die eidgenössische Matura nachzuholen und 2017 das Studium der Rechtswissenschaften zu beginnen. Als angehender Jurist lerne ich nun den Umgang mit den Gesetzen, die wir hier produzieren. 2020 gewährte mir das Basler Stimmvolk wieder Einsitz ins Parlament, und es ist mir eine unendliche Freude dieses nun präsidieren zu dürfen. Basel-Stadt ist kulturell so vielfältig, dass ich es mir nicht anmasse, alle Menschen dieses Kantons zu repräsentieren. Aber ich wünsche mir, in diesem Jahr als Türöffner und kultureller Brückenbauer wirken zu können, gerade für jene Menschen, die gegenüber der Politik und ihren Behörden eine Hemmschwelle bekunden.
Sie als Grossratsmitglieder können von mir erwarten, dass ich unsere Sitzungen wie ein Fahrlehrer leiten werde. Ich werde zurückhaltend eingreifen und nur im Notfall auf die Bremse treten.
Ich werde alles daran setzen, dass wir als Parlament den Respekt und die Umsicht vorleben, die unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger von uns erwarten, und das in einem Umfeld, das von internationaler Spannung und Verunsicherung geprägt ist. Erneut wirft die Weltpolitik ihren Schatten auf Basel, und wieder sind wir von den Auswirkungen eines Krieges betroffen. An unseren Schulen integriert unser Lehrpersonal nun Kinder aus der Ukraine und manch anderem, vergessenen Konfliktgebiet. Auch viele dieser Kinder werden irgendwann am Rheinknie ihre Heimat haben und bald unsere Gesellschaft und vielleicht unser Parlament bereichern. Dies alles erinnert uns daran, dass Krieg, Elend und Gewalt bedauerlicherweise in der Geschichte die Normalität waren und zu jeder Zeit an irgendeinem Ort der Welt das Leben und die Lebensträume von Menschen zerstörten. Unser Basel und mit ihm die ganze Schweiz sowie das westliche Europa stellen seit wenigen Generationen eine Ausnahme in Raum und Zeit dar. Es liegt an uns, die wir politisch aktiv sind, den Weg der friedlichen Koexistenz und demokratischen Konfliktbewältigung nicht nur weiter zu gehen, sondern auch als Vorbild in die Welt zu tragen. Seien wir uns stets bewusst, welches Glück wir haben und dass wir nicht nur ein kleines Parlament in der helvetischen Provinz sind, sondern für viele Menschen in allen Ecken der Welt ein anstrebenswertes Vorbild, von welchem sie durch Erzählungen ihrer Basler Verwandten erfahren.
Lassen Sie uns nun den DeLorean vor der verkehrsberuhigten Innenstadt in einer Tiefgarage parken und mit dem Velo zurück zum Rathaus fahren, um gemeinsam ans Werk zu gehen.
Besten Dank für Ihre Begleitung und Aufmerksamkeit. Hiermit eröffne ich das dritte Amtsjahr der 44. Legislatur des Grossen Rats Basel-Stadt.
Die «jüngste Grossrätin aller Zeiten» wie das SRF sie Anfang 2022 ankündete, beendet ein wertpolitisch turbulentes Jahr. In ihrer Schlussrede blickt sie zurück.
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