«Ich bin vorübergehend pleite»

Im neuen Roman von Lukas Bärfuss rutscht eine junge Frau in die Armut und kämpft um ihr Leben. Kulturjournalistin Esther Schneider spricht mit dem preisgekrönten Schriftsteller über Schulden, Scham und Selbsttäuschung.

Lukas Bärfuss
Autor Lukas Bärfuss weiss, was es heisst, von Tag zu Tag zu leben. (Bild: Claudia Herzog)

In der reichen Schweiz arm zu sein ist hart. Lukas Bärfuss erzählt in seinem neuen Roman «Die Krume Brot» die Geschichte einer jungen Frau, die in den 70er-Jahren durch Herkunft, Schicksal und andere Umstände in die Armut rutscht. Schulden, ein uneheliches Kind und schon steckt sie in der Falle.

Wie es ist, kein Geld zu haben, das kennt Lukas Bärfuss aus eigener Erfahrung. Er hat jahrelang Schulden abgestottert und zeitweise sogar auf der Strasse gelebt. Im Gespräch erzählt er, was Armut bedeutet und warum in dieser Zeit Bücher für ihn wichtig waren.

«Niemand will sich durch die Armut definieren lassen.»
Schriftsteller Lukas Bärfuss

Lukas, vor kurzem ist eine Studie publiziert worden über Armut in der Schweiz. Sie zeigt, Armut nimmt zu, ist aber oft nicht sichtbar. Armut ist auch ein zentrales Thema in deinem neuen Roman «Die Krume Brot». Worum geht es dir da?

Mit meiner Figur Adelina erleben wir die Armut. Ihren Geschmack, ihren Geruch, ihre Zumutungen. Es ist der unausgesetzte Kampf um das Geld, um die nächste Mahlzeit, die nächste offene Rechnung. Wer arm ist, hat kaum Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Man kann wenig freie Entscheidungen treffen. Also hat man kein eigenes Leben. Das hat sich seit den 70er-Jahren, die Zeit des Romans, nicht verändert.

Armut ist eine Falle. Es ist schwer wieder aus ihr herauszukommen. Gründe dafür nennt die Studie viele. Etwa Vorurteile der Gesellschaft gegenüber Armut aber auch Scham, Hilfe anzunehmen. Du hast kürzlich im Essay «Vaters Kiste» deine eigenen Erfahrungen mit Armut beschrieben. Hast du das mit der Scham auch so erlebt?

Scham ist nicht das erste Problem. Eher die Selbsttäuschung, diese sollte man erkennen. Niemand will sich durch die Armut definieren lassen. Meine Mutter meinte: «Ich bin vorübergehend pleite». So blieb ihr die Hoffnung, ihrer prekären Lage zu entkommen.

Armut Sozialhilfe
Marie bezieht aus Scham keine Sozialhilfe

Aus Angst als «asozial» abgestempelt zu werden, hatte Marie keine Sozialhilfe bezogen. Damit ist sie nicht allein. 30 Prozent der Anspruchsberechtigten in Basel beantragen keine Sozialhilfe. Wir haben mit Betroffenen gesprochen, was die Gründe dafür sind.

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Was ist für dich das Schlimmste an der Armut?

Das Schweigen, die soziale Isolation, zwei Dinge, die auch Adelina sehr betreffen. In diesem Land wird gegen die armen Menschen ein Krieg geführt, schon sehr lange. Wer arm ist, stösst auf wenig Verständnis, wenig Wohlwollen, meistens auf verschlossene Türen. Die Härte der Sozialpolitik ist augenscheinlich. Ein aktuelles Beispiel ist die Wegweisung und Ausschaffung von bettelnden Menschen in der Stadt Bern.

Krieg gegen die Armen, das tönt jetzt krass.

Die Politik gegen Fahrende, gegen alleinerziehende Mütter, gegen Migrantinnen, dazu die Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie, die Verdingung – das hat in der Schweiz eine lange, traurige Tradition. Die Schweiz ist das reichste Land der Welt – das wird man nicht einfach so.

In meiner prekären Jugend musste ich vorsichtig sein, durfte bei den Ämtern nicht auffallen. Sie waren nicht freundlich gesinnt. Es bestand die Gefahr, dass man kriminalisiert wird. Und dazu waren da auch die Defizite im Bildungssystem.

Wie meinst du das?

Meine Schule lag in einem sozialen Brennpunkt, damit waren unsere Lehrer beschäftig, weniger mit dem Unterricht. Am Ende der Schulzeit konnten einige meiner Klassenkamerad*innen weder lesen noch schreiben. Im Französisch sind wir nie über «avoir» und «être» hinausgekommen, hatten nie Algebra und keine Stunde Englisch. Von Physik habe ich nie etwas gehört und auch Chemie gab es keine einzige Lektion. So habe ich die schulische Realität in der Schweiz in den 70er/80er-Jahren erlebt.

Lukas Bärfuss
Zur Person

Dramatiker, Romancier und Essayist Lukas Bärfuss wurde schon mehrfach ausgezeichnet – 2014 erhielt er den Schweizer Buchpreis für den Roman «Koala» und 2019 den Georg-Büchner-Preis für sein Schaffen. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Geboren wurde er 1971 in Thun, heute lebt er in Zürich.

Du selber hast aber viel gelesen. Bücher, schreibst du im Essay, seien deine Rettung gewesen. Wie kamst du zum Lesen?

Eigentlich durch Zufall. Ich habe als Kind eine Bananenkiste mit einem 25-bändigen Lexikon gefunden. Das habe ich von A-Z gelesen. Und ich habe viel Zeit in der Bibliothek verbracht. Da war es warm und ich wurde in Ruhe gelassen. Denn Zuhause war es schlimm. Die Bibliothek und der Wald waren meine Kinderzimmer. Ich habe allerdings lange nicht begriffen, dass man Bücher auch anders lesen kann, als aus ihnen zu lernen. Aber noch zum Begriff Rettung. Ich bin sehr misstrauisch gegenüber diesem Wort. Man kann auch sagen, die Bücher haben mich verdorben.

Wieso verdorben?

Sie haben mich verdorben in der Liebe. (lacht)

In der Liebe?

Ja natürlich, wie uns alle. Das meiste, was ich über die Liebe gelernt habe, stammt aus Büchern. Aber die Liebe ist überhaupt nicht so. Vielleicht muss man das der Jugend da draussen mal zurufen. Alles was ihr über die Liebe in euren schönen Büchern lest, das ist in Wirklichkeit ganz anders. Da sollte man äusserst misstrauisch sein. Übrigens, ein Buch, das für mich beim Schreiben von «Die Krume Brot» wichtig war, ist der Klassiker «Madame Bovary» von Gustav Flaubert.

«Wer arm ist, stösst auf wenig Verständnis, wenig Wohlwollen, meistens auf verschlossene Türen.»
Schriftsteller Lukas Bärfuss

Warum gerade Bovary?

Weil meine Romanfigur eben auch die falschen Bücher liest. Das ist gefährlich.

Meinst du damit die Verführung durch Bücher?

Na klar. Man kann sich dumm lesen, heisst es bei Schopenhauer. Da stellt sich die Frage, was die Lektüre für das Leben taugt. Zum Beispiel, ob sie einen für die rechtschaffene Arbeit verdirbt. Das war eine Haltung, die ich in meiner Jugend sehr stark erlebt habe. Es war kein Problem, dass die jungen Menschen am Ende der Schule schlecht oder gar nicht lesen und schreiben konnten. Es gab ja Arbeit in der Fabrik oder auf der Baustelle. Und da war Bildung gar nicht wichtig. Im Gegenteil. Zu viel Bildung behindert, entfremdet. Man gehört nicht mehr dazu. Genau das ist mir passiert. Ich habe sehr viel gelesen und war dadurch isoliert. Das ist nicht schön. Und es hat lange gedauert, bis ich Menschen fand, mit denen ich mich über Bücher austauschen konnte.

esther_Schneider
Esther Schneider spricht in ihrem Podcast «Literatur Pur» regelmässig mit Autor*innen. Wir von Bajour dürfen die Gespräche als schriftliche Interviews aufbereiten. Weil Literatur es wert ist. (Bild: MARA TRUOG)

Welche Bücher Lukas Bärfuss geprägt haben, was ihn mit Bob Dylan verbindet und warum er sagt, sein neuster Roman sei eigentlich ein Gespensterbuch, das erzählt er im Gespräch mit Esther Schneider und der Literaturkritikerin Sieglinde Geisel im Podcast LiteraturPur.

Hier geht es zum Podcast.

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