In der Vielfalt die eigene Stimme finden

Junge Geflüchtete aus zehn Nationen proben in einem Tanzprojekt den Schritt zum Gegenüber, zur Welt – und zu sich selbst.

Tanzprojekt
Junge Menschen aus aller Welt bringen zusammen ein Tanzstück auf die Bühne. (Bild: Brigitte Fässler)

Wenn diese 32 Jugendlichen freudig in die Aula strömen, tritt förmlich die Welt zur Türe herein. Sie heissen Aven und Zamin, Dalmika und Roshni, Eltaf, Nikita oder Zabihollah, und sie kommen aus Afghanistan, Kolumbien und Nordmazedonien, aus der Ukraine, Syrien, Brasilien und Indien, aus Eritrea, Sri Lanka oder Ägypten. Alle sind sie zwischen 16 und 21 Jahre alt, muslimisch, orthodox, christlich oder religionslos, zwei Drittel männlich, ein Drittel weiblich. Eine diversere, vielfältigere Gruppe ist kaum denkbar. 

Mit diesen jungen Menschen aus allen Ecken der Welt entwickeln die beiden Tanzpädagoginnen Jeanne Lehnherr und Simona Kortenhaus am Zentrum für Brückenangebote (ZBA) das Tanzstück «on connection». Man könnte sich leichtere Aufgaben vorstellen, denn noch kämpfen die jungen Migrant*innen, die erst seit Kurzem in der Schweiz leben, mit den Tücken der deutschen Sprache. Doch gerade deswegen wirkt ein solches Projekt wie massgeschneidert für diese Gruppe. Über Bewegung und Rhythmus zu einer gemeinsamen, nonverbalen Verständigung gelangen und gleichzeitig darum besorgt sein, dass jedes Individuum seinen Raum und seine eigene Stimme und Sichtbarkeit bekommt, das sind zwei der zentralen Ziele der beiden Tanzpädagoginnen.

Fröhlichkeit trotz schwerer Schicksale

Die jungen Menschen tragen zum Teil heftige Geschichten mit sich, einige von ihnen waren mehrere Jahre auf Fluchtwegen durch gefährliche Krisengebiete unterwegs, bis sie in die Schweiz gelangten, haben Krieg, Gewalt und Missbrauch erfahren. «Zahlreiche Schüler*innen in meiner Klasse sind traumatisiert», sagt Klassenlehrerin Lea Zaugg. «Die Schule hier ist der einzige Ort, wo sie Halt und Raum bekommen.»

Tanzprojekt Geflüchtete
Tanzpädagogin Simona Kortenhaus (im Bild) hat das Projekt zusammen mit ihrer Kollegin Jeanne Lehnherr umgesetzt. (Bild: Brigitte Fässler)

Und dennoch ist die Stimmung auf den Proben nicht gedrückt. Ganz anders gefordert zu sein als im Normalunterricht, mit dem Körperausdruck zu experimentieren, auch mal Blössen zeigen zu können, sei unglaublich befreiend und entspannend: «Es herrscht ganz viel Fröhlichkeit in diesem Projekt», unterstreicht die Lehrerin.

Hat diese ungewohnte Körperarbeit umgekehrt auch Auswirkungen auf den Unterrichtsalltag? Klassenlehrerin Julia Polymeras, die seit bald zwanzig Jahre am Zentrum für Brückenangebote arbeitet, sagt: «Präsentationen vor der Klasse waren früher für viele ein grosses Problem. Seit wir in diesem Projekt arbeiten, ist das wie weggeblasen.» Präsenz zeigen, gesehen werden, sich etwas zutrauen, das sind Kompetenzen, die überall gebraucht werden. Im nächsten Schuljahr gehen diese jungen Menschen in den Bewerbungsprozess für eine Lehrstelle und da seien die Themen Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstsein enorm wichtig, betonen die Betreuerinnen.

Ein gemeinsamer Herzschlag

Im Tanzprojekt «on connection», unterstützt von der Abteilung Kultur Basel-Stadt, entsteht so etwas wie ein Gruppenkörper aus über dreissig Individuen, der aber nur funktioniert, wenn alle konzentriert dabei sind. Fehlt jemand oder ist nicht ganz bei der Sache, spüren das sofort alle. Konzentration und Verbindlichkeit werden dadurch zu ganz praktisch greifbaren Themen. 

Seit dem letzten November widmet die Gruppe diesem Projekt pro Woche eine Doppellektion. Sie hätten eigentlich schon mit gewissen Hemmungen gerechnet, gerade im Bereich der Berührungen, erklärt Simona Kortenhaus. Das sei dann aber gar nie ein Problem gewesen. Der sensible, respektvolle Umgang in der höchst diversen Gruppe ist auch den Lehrerinnen sehr positiv aufgefallen. 

Jeden Morgen hätten sie sich sehr auf diese Proben gefreut, betonen sie unisono, weil sie ganz konkret miterleben konnten, welche persönlichen Entwicklungssprünge die jungen Menschen in diesem Tanzprojekt machen. Eine scheue, zierliche Schülerin, die sich sonst eher versteckt, blüht plötzlich auf, nimmt Raum und Haltung ein. Man sucht und findet einen gemeinsamen Herzschlag, wird auf spielerische Weise mitgetragen im Schwarm, auch wenn man noch nicht alles versteht. «Ich hätte nie gedacht, dass alle so engagiert mitmachen», sagt die Lehrerin Mariella Corbo.

Tanzprojekt Geflüchtete
Seit letztem November widmet die Gruppe dem Projekt pro Woche eine Doppellektion. (Bild: Brigitte Fässler)

Tanzpädagogin Jeanne Lehnherr schildert einen besonders berührenden Moment aus der Probenarbeit: Sie habe die Gruppe einmal gefragt, ob jemand etwas singen wolle, und da fasst sich ein junger Afghane ein Herz, tritt in den Kreis, nimmt eine klare Haltung ein und singt mit starker Stimme alle Strophen eines bewegenden Lieds aus seiner Heimat: «Das war sein ganz Eigenes, das er mit uns allen teilte. Ein zauberhaft schöner Moment.» Logisch, dass dieser Moment jetzt auch ins Tanzstück eingebaut ist. Partizipation und Mitbestimmung sind für die Leiterinnen wichtige Elemente dieses Bewegungsprojekts.

Jetzt kommt das Tanzstück «on connection» am Donnerstag, 16. Mai, in der Aula des Schulhauses Lysbüchel zu seiner öffentlichen Aufführung. Mit von der Partie ist auch der Lehrer Marco Donnicola mit der schuleigenen ZBA-Band, die er aufgebaut hat. Mit Gitarre, Gesang, Bass, Keyboard, afrikanischer Djembé und südamerikanischer Kistentrommel Cajón spielen sie von den Schüler*innen ausgewählte Cover-Songs, von den Beatles über Ed Sheeran bis Miley Cyrus. «Die Motivation, mit der die Schüler bei der Sache sind, ist schlicht überwältigend», freut sich der Lehrer.

Ein Raum für Wahrnehmung und Wertschätzung

Das Zentrum für Brückenangebote ist eine der zentralen Schnittstellen im Basler Bildungswesen, wenn es um die Integration junger Menschen in die berufliche Grundbildung geht. Ihre Schüler*innen wollen bei Schulschluss oft gar nicht «heim», berichten die Lehrerinnen. In der Flüchtlingsunterkunft falle ihnen die Decke auf den Kopf. Das ZBA sei für diese jungen Menschen nicht nur Schule, sondern auch Ersatz und Vermittlungsstelle für vieles, was das Leben sonst noch mit sich bringt. Öfters hörten sie: «Meine Familie ist nicht da. Ihr seid meine Familie.»

Wenn man sieht, mit welcher Freude die jungen Menschen noch in den Probepausen Luftsprünge machen und das Rad schlagen, zweifelt man keinen Moment daran, dass sie gerade durch solche Bewegungsprojekte wie «on connection» viel eigenen Boden unter die Füsse bekommen. Hier erfahren sie eine besondere Form von Wahrnehmung und Wertschätzung, etwas, was vielen von ihnen lange Zeit gefehlt hat. Und Jeanne Lehnherr meint so freudvoll wie ernsthaft: «Für mich sind diese vielfältigen Begegnungen so unterschiedlich geprägter Menschen auch eine Art von Friedensarbeit.»

 

Öffentliche Aufführung von «on connection» (freier Eintritt): Donnerstag, 16. Mai, 20 Uhr, Aula Schulhaus Lysbüchel, Lysbüchelplatz 1, 4056 Basel

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