«Alkohol ist ein integraler Bestandteil der Weihnachtszeit»
Ein Cüpli beim Büro-Apéro, eine Flasche Wein beim Familienessen – in der Adventszeit ist Alkohol allgegenwärtig. Im Interview erklärt Suchtberater Marcel Heizmann, was für Suchtbetroffene besonders schwierig ist – und was hilft, um verantwortungsbewusst mit dem eigenen Konsum umzugehen.
... ist Sozialarbeiter und leitet das Fachteam Suchtberatung beim Kanton Basel-Stadt. In der Abteilung Sucht ist er seit 13 Jahren tätig.
Marcel Heizmann, bezeichnen Sie Alkohol als Droge oder Genussmittel?
Alkohol ist beides. Er ist seit Menschengedenken ein Nahrungs-, Heil- und Genussmittel. Er ist aber auch ein Rauschmittel – wir nennen es auch eine psychoaktive Substanz – und von dem her eine Droge.
Ist Alkohol genauso gefährlich wie andere Drogen?
Jede psychoaktive Substanz hat ihre spezifische Wirkung, sowohl erwünschte als auch unerwünschte und birgt unterschiedliche Risiken. In der Schweiz trinken rund 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Alkohol. Die meisten können das tun, ohne in eine Abhängigkeit zu rutschen. Das Suchtpotenzial bei Alkohol wird als kleiner eingeschätzt als zum Beispiel bei Kokain, Heroin oder Cannabis. Aber es ist beträchtlich.
Was heisst das?
Etwa fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung entwickeln im Lauf ihres Lebens eine Alkoholabhängigkeit. Etwa 25 Prozent trinken phasenweise in einem solchen Ausmass, dass es schädlich oder riskant ist für soziale Situationen und ihre psychische und körperliche Gesundheit.
Ist Rauschtrinken vor allem ein Phänomen bei jungen Leuten?
Rauschtrinken finden eher in jungen Jahren statt und sinkt nach einem Alter über 35 Jahren deutlich. Was viele aber nicht wissen: Wenn man die Einweisungen in Spitäler aufgrund einer Alkoholvergiftung anschaut, landen zwei bis drei Mal mehr Personen über 55 Jahren deswegen im Spital als junge Menschen. Es ist vor allem die ältere Bevölkerung, die regelmässig viel Alkohol trinkt.
Wir haben kürzlich unsere Leser*innen gefragt, ob Alkoholkonsum in der Weihnachtszeit verharmlost wird. Wie nehmen Sie das wahr?
Alkohol ist ein integraler Bestandteil der Weihnachtszeit. Er wird stark konsumiert und beworben. Aber solche Anlässe gibt es durchs ganze Jahr, denken wir an Fasnacht, Silvester, Fussballmeisterschaften oder an die Grillsaison. Aber es ist schon so: An Weihnachten wird viel Geselligkeit praktiziert und in unserem Kulturkreis wird das häufig mit Alkohol in Verbindung gebracht.
Alltagsalkoholismus ist in unserer Gesellschaft tief verankert, aber selten Thema. Schon gar nicht in der Weihnachtszeit. Wir haben daher mit unserer Community darüber diskutiert.
Merken Sie das in der Suchtberatung an Weihnachten?
Bei uns sind die Anfragen in der Weihnachtszeit nicht höher. Aber häufig kommen die Personen ja verzögert zu uns. Nehmen wir an, eine Weihnachtsfeier entgleist. Dann geht es in den Januar hinein, bis sich die Leute melden. Aber für Menschen, die eine Abhängigkeit haben, ist die Weihnachtszeit schon eine besondere Herausforderung.
Warum?
In unseren Beratungen haben Betroffene gesagt, es sei für sie sehr schwierig, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Der Glühwein ist allgegenwärtig und andere nicht-alkoholische Getränke sind nicht wirklich interessant. Oder sie fragen sich: «Gehe ich an die Weihnachtsfeier, wenn ich weiss, dass ein grosser Teil der Anwesenden dann massiv Alkohol trinkt?»
«An Weihnachten wird viel Geselligkeit praktiziert und in unserem Kulturkreis wird das häufig mit Alkohol in Verbindung gebracht.»Marcel Heizmann
Was machen Sie in der Suchtprävention, um diesem Druck entgegenzuwirken?
Suchtpräventive Ansätze, die spezifisch auf die Weihnachtszeit zielen, sind mir keine bekannt. Aber für die Zeit danach ist Dry January so ein Ansatz. In Einzelberatungen sind Strategien für die Festtage aber schon ein Thema. Die Frage für Betroffene ist: «Wie kann ich mit so einer Situation umgehen, um nicht oder nicht viel zu trinken?»
Und die Antwort darauf?
Wenn ich wenig trinken will, kann ich mir im Voraus Limiten setzen, zum Beispiel maximal zwei Gläser Wein. Wenn ich keinen Alkohol trinken will, kann ich das zum Beispiel vorankünden: «Ich werde nicht trinken. Macht bitte keine Sprüche.»
Es also direkt ansprechen?
Ja, das ist eine Möglichkeit. Man kann auch eigene alkoholfreie Getränke mitbringen. Aber sowohl mit Ansprechen als auch beim Getränke-Mitbringen outet man sich ein Stück weit. Eine Alternative wäre, sich eine Art Vertrauensperson auszusuchen, die man vorinformiert und die einem in heiklen Situationen zur Seite steht.
Machst du dir Sorgen um dein Konsumverhalten oder das von Personen in deinem Umfeld? An diese Stellen kannst du dich niederschwellig wenden:
- Suchthilfe Region Basel: Beratungszentrum an der Mülhauserstrasse 113, 4056 Basel, Tel. 061 385 22 00, zur Website
- Abteilung Sucht Kanton Basel-Stadt: verschiedene Face-to-Face-Beratungsangebote sowie anonyme Online-Beratung, zur Website
- Blaues Kreuz: Beratung und Gruppenangebote, zur Website
- Weitere Adressen findest du im Suchtindex der Schweizerischen Koordinations- und Fachstelle Sucht.
Gibt es etwas, was man als Gastgeber*in tun kann, um dem Druck entgegenzuwirken?
Gastgeber können zum Beispiel Nüchternheit und Klarheit als ein positives Erlebnis an Weihnachten vorleben oder thematisieren. Eine andere Option ist, ganz selbstverständlich auch alkoholfreie Drinks, Wein und Champagner anzubieten.
Es hilft also, nonalkoholische Alternativen anzubieten, die über Wasser und Orangensaft hinausgehen?
Ja, aufgrund unserer Erfahrungen sind wir davon fest überzeugt. Bei langweiligen Alternativen entsteht schnell der Eindruck von uninteressanten Kindergetränken. Alkoholische Drinks werden zelebriert, auch in der Werbung. Mit schönen Etiketten, Eiswürfeln, speziellen Gläsern und so weiter. Genau so kann man auch Alkohol-Alternativen zelebrieren.
Wer zwischen den Jahren (oder auch sonst) ganz oder teilweise auf Alkohol verzichten möchte, kann auf diese alkoholfreien Drinks zurückgreifen:
Gibt es so etwas wie einen «gepflegten Alkoholkonsum» oder verantwortungsvollen Konsum von Alkohol?
Ja, das gibt es beides. Aber mittlerweile sind sich Wissenschaft und WHO einig, dass es keinen Alkoholkonsum gibt, der gänzlich risikofrei ist. Jeder Schluck Alkohol birgt ein Risiko. Aber es gibt natürlich relativ risikoarmen Konsum.
Und risikoarm heisst verantwortungsvoll?
Wir sprechen dann von «verantwortungsbewusst». Wenn einem also bewusst ist: Je mehr ich trinke, desto höher wird meine Anfälligkeit auf viele Krankheiten und desto höher wird die Wahrscheinlichkeit für psychische Probleme und im Rauschzustand für Unfälle und soziale Probleme. Ich würde gerne ergänzen: Wichtig ist dabei auch die Frage des Moments des Konsumierens.
«Die Zeiten, in denen Hausärzte älteren Patienten empfohlen haben, zur Beruhigung vor dem Einschlafen ein Einerli zu trinken, sind wohl vorbei.»Marcel Heizmann
Wie meinen Sie das?
Viele Probleme können sich auch durch das Konsumieren im falschen Moment ergeben: Neulenker dürfen keinen Alkohol vor dem Autofahren trinken. Eine schwangere Frau sollte nicht trinken, weil dadurch ein beträchtliches Gesundheitsrisiko für das ungeborene Kind entsteht. Auch sollte man sich bewusst sein, dass nach einer durchzechten Nacht noch am Folgetag ein beträchtlicher Rest-Alkoholspiegel vorhanden sein kann.
Haben Sie das Gefühl, die Haltung gegenüber Alkohol verändert sich?
Ich glaube schon. Alkoholkonsum wird vermehrt in Medien und der Wissenschaft thematisiert und neue Erkenntnisse gelangen so zur Allgemeinbevölkerung. Die Zeiten, in denen Hausärzte älteren Patienten empfohlen haben, zur Beruhigung vor dem Einschlafen ein Einerli zu trinken, sind wohl vorbei. Ich glaube auch, das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung ist gestiegen und in der Gesamtmenge nimmt ja der Alkoholkonsum über die Jahre auch leicht ab. Generell gilt: Je weniger man trinkt und je mehr man sensibel darüber spricht, gerade auch mit Kindern und Jugendlichen, desto weniger wird getrunken. Und desto weniger gibt es Probleme.