«Der Frieden scheint mir weiter entfernt zu sein als je zuvor»

Viele Jüd*innen haben derzeit Angst, sich öffentlich zu äussern. Nicht so Oded Fluss: Der Israeli hat mit Bajour am Rande des jüdischen Buchfestivals in Basel über Schreckensbilder und Schuldgefühle gesprochen - genau einen Monat nach dem Hamas-Terror.

Oded Fluss
Oded Fluss arbeitet als Bibliothekar in Zürich. (Bild: zVg)

Oded Fluss ist Israeli und lebt in der Schweiz. Er arbeitet als Bibliothekar in der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich. Der Grossteil seiner Familie lebt in Israel. Am Wochenende war er am jüdischen Buchfestival Seferim im Jungen Theater Basel am Kasernenplatz. Abseits des Rummels der Herbstmesse war das Festival eine der wenigen jüdischen Veranstaltungen, die nicht aus Sicherheitsgründen abgesagt wurden. Am Rande der Lesungen hat Oded Fluss erzählt, wie es ihm und seiner Familie in Israel geht – genau einen Monat nach dem Hamas-Terror.

«Meine Familie und Freunde wohnen hauptsächlich in Jerusalem. Niemand ist direkt betroffen, aber die Stimmung ist sehr schlecht. Meine Mutter, sonst ein sehr optimistischer Mensch, ist total deprimiert. Was als absoluter Schock begann, hat sich nun entwickelt. Ich glaube, dass die Menschen in Israel jetzt von Hoffnungslosigkeit und Angst beherrscht werden. Sie befinden sich in einer Art ‹Kriegs-Routine›. Die Raketen können praktisch überall einschlagen. Alle leben daher im ständigen Bewusstsein, dass ein Alarm ausgelöst werden könnte und sie dann in einen Schutzraum rennen müssen. Ein paar meiner Freund*innen sind in der Armee. Alle anderen arbeiten, wenn möglich, von zu Hause aus. Meine Mutter verlässt das Haus nur noch zum Einkaufen.

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Oded Fluss befürchtet, dass alles nur noch schlimmer wird.

Die Stimmung am jüdischen Buchfestival ist geprägt vom Krieg in Israel. Er ist aus dem Gesprächen nicht wegzudenken – und dennoch scheinen die Besucher*innen auch froh über die Ablenkung zu sein. Oded Fluss besucht die Lesungen ebenso, auch wenn er, wie er sagt, an kaum etwas anderes denken kann als an den Krieg in Israel.

«Ich habe die ersten zwei Wochen nach dem 7. Oktober kaum geschlafen. Die Schreckensbilder überfluteten mich, sobald ich die Augen schloss. Im Alltag bin ich völlig abgelenkt und kann mich mit nichts Produktivem mehr beschäftigen. Mir macht auch zu schaffen, wie unterschiedlich die Nachrichten hier im Vergleich zu jenen in den israelischen Medien sind. Die israelischen Medien sind pro-Israel und zeigen die palästinensische Seite fast gar nicht. Auf der anderen Seite war ich sehr schockiert, wie schnell das Pogrom der Hamas vom 7. Oktober hier vergessen wurde und alle einfach weitergemacht haben. Ausserdem fühle ich mich schuldig, weil ich hier in der Schweiz bin, während alle meine Freund*innen und meine Familie in Israel sind. Der Frieden scheint mir weiter entfernt zu sein als je zuvor. Ich glaube, dass die Menschen auf beiden Seiten Freund*innen sein könnten, aber Frieden wird nicht zwischen den Menschen gemacht, sondern zwischen Politiker*innen. Die Verantwortlichen auf beiden Seiten kümmern sich nicht um den Frieden, sondern nur um sich selbst. Die Situation hat auch dazu geführt, dass in Israel fast jede Person auf der politischen Landkarte weiter nach rechts gerückt ist. Viele haben die Sympathie für die andere Seite völlig verloren. Manche Leute sagen, dass die Situation jetzt so schlimm ist, dass es nun nur besser werden kann. Aber ich denke, die Geschichte hat gezeigt, dass es immer noch schlimmer werden kann.»

Angst vor Antisemitismus

Es ist nicht selbstverständlich, dass Oded Fluss mit Bajour spricht. Viele Israeli in Basel haben Angst, sich öffentlich zu äussern. Die Israelitische Gemeinde Basel (IGB) gab in ihrem Newsletter bekannt, dass in der Gemeinde aktuell 17 israelische Familien unterstützt werden, die aus dem Krieg nach Basel geflohen sind. Keine der Familien erklärte sich aber auf Nachfrage bereit, sich in den Medien zu äussern. Auch der Rabbiner der IGB möchte aus Sicherheitsbedenken lieber kein Interview mit Bajour führen. Ein Vorstandsmitglied der Gemeinde, das auch nicht namentlich genannt werden möchte, sagt auf Anfrage: «In Basel sind vor allem israelische Familien, die vor dem Schreck des Raketenbeschusses geflohen sind. Bei einer Familie ist eine Rakete oder ein Splitter im Nachbarsgarten gelandet. Bei allen Menschen sind der Schreck und die Trauer unübersehbar. Die Kinder wie auch die Eltern sind teilweise sehr traumatisiert. Sie sind auch von der Sorge über ihre Familien in Israel geplagt und trauern sehr um die Opfer im Süden.» 

Oded Fluss hat weniger Angst um seine Sicherheit. Er spricht von unterschwelligem Antisemitismus und ist enttäuscht, auch vonder israelischen Regierung. Er sagt:  

«Ich habe keine Angst vor Antisemitismus, ich bin vor allem enttäuscht. Die Geschichte mit dem Antisemitismus ist immer die gleiche und er kommt mir vor wie eine unheilbare Krankheit. Die sehr unverantwortliche Regierung in Israel ermutigt die Antisemiten, was mich noch mehr ärgert. In der Schweiz ist die Situation etwas besser. Hier ist der Antisemitismus zumindest höflich. Mit  ‹höflichem› Antisemitismus meine ich, dass die Menschen in der Schweiz im Allgemeinen etwas zurückhaltend sind. Ich persönlich habe noch keinen Ausbruch von Antisemitismus erlebt, es ist subtiler,  ich bemerke ihn, wenn ich jemanden etwas murmeln höre oder wenn ich mich mit jemandem unterhalte und plötzlich mit einer als Humor getarnten antisemitischen Äusserung konfrontiert werde. So hat ein ehemaliger Freund von mir mich einmal als seinen ‹Vorzeigejuden› bezeichnet. Ich weiss, dass manche Leute das fast schlimmer finden. Aber jetzt, wo so viel los ist, ist es eigentlich beruhigend, höflich gehasst zu werden. 

Im Anschluss an das Buchfestival gehen die Besucher*innen wieder ihrer Wege. Auf der Herbstmesse ist reger Betrieb, die Atmosphäre lädt dazu ein, sich von den Sorgen des Alltags abzulenken. Dies gelingt aber kaum, wie das Gespräch mit Oded Fluss zeigt. Zu belastend ist die Situation in der Heimat Israel und in der Schweiz, in der die Fälle von Antisemitismus seit dem 7. Oktober klar zugenommen haben.

giphy
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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Senior-Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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