«Kinder haben wenig Freizeit», sagt die Entwicklungspsychologin
Basler Schüler*innen wollen die Hausaufgaben abschaffen und morgens länger schlafen. Wir haben die Entwicklungspsychologin Trix Cacchione mit den Forderungen der Kinder konfrontiert.
Zum Schulbeginn am Montag wollte Bajour von Basler Kindern wissen: Was würdet ihr an der Schule ändern, wenn ihr die Macht hättet?
Erijon (12) und Ada (9) hatten ganz viele Ideen: weniger Noten, länger schlafen, mehr Turnen und weniger Deutsch.
Die Forderungen der beiden Primarschüler*innen klingen vernünftig und wohl überlegt. (Nicht wenige auf der Bajour-Redaktion hätten in diesem Alter wahrscheinlich gesagt: Schafft die Schule ab!)
Aber sind Erijon und Adas Forderungen auch umsetzbar?
Wir haben die Erziehungswissenschaftlerin Trix Cacchione, Professorin für Entwicklungspsychologie an der FHNW, um ihre Einschätzung gebeten.
Erijon (12) und Ada (9) wollen: weniger Noten, länger schlafen...
Trix Cacchione, die meisten Kinder haben genug von den Huusi. Weg damit?
Es gibt gleich viele Gründe, sie beizubehalten, wie sie abzuschaffen. Da gibt es kein richtig oder falsch aus wissenschaftlicher Sicht. Ich kann das Anliegen nach einer Abschaffung aber verstehen. Die Kinder haben sowieso schon wenig Freizeit. Es wäre schön, wenn sie von der Schule nach Hause kommen könnten und dann «Feierabend» hätten.
Warum hält die Schule an den Aufgaben fest?
Hausaufgaben haben durchaus Vorteile. Es wäre aber möglich, darauf zu verzichten und auch die Funktionen der Hausaufgaben in den Unterricht zu integrieren. Grundsätzlich wäre es durchaus möglich, die Qualität und die Effizienz des Unterrichts noch zu verbessern. Aber das ist eine Frage der Ressourcen: Um die Unterrichtsqualität zu steigern, muss man pro Klasse mehr Lehrpersonen anstellen und zudem mehr Mittel in die Ausbildung und den Lohn der Lehrpersonen stecken.
«Auf Primarstufe würde ich eher auf Hausaufgaben verzichten.»Trix Cacchione, Professorin für Entwicklungspychologie
Legen Sie sich bitte fest: Hausaufgaben – ja oder nein?
Auf Primarstufe würde ich persönlich eher auf Hausaufgaben verzichten. Ich würde aber nicht so weit gehen und das auf politischer Ebene einfordern.
Nächster Wunsch vieler Kinder: Sie wollen erst um 8.30 oder gar um 9 Uhr in die Schule, damit sie länger schlafen können. Gute Idee?
Es ist nachgewiesen, dass vor allem ältere Kinder aufgrund ihres Biorhythmus morgens länger schlafen sollten. Für einen späteren Schulstart braucht es aber Begleitstrukturen für die Eltern, die arbeiten gehen und ihre Kinder abgeben können müssen.
Der 11-jährige Erijon sagt: «Ich komme am Morgen fast nicht aus dem Bett». Und die 9-jährige Ada hat kaum Zeit fürs Zmorge.
Es gibt Morgenmuffel, das ist so. In anderen Ländern beginnt die Schule nicht so früh, sie haben andere Modelle, die Kinder essen dort vielleicht gemeinsam Zmittag. Ich verstehe das Anliegen der Kinder.
Trix Cacchione ist seit 2016 Professorin für Entwicklungspychologie im Kindesalter an der FHNW. 1991 hat sie ein Primarlehrerdiplom gemacht.
Müssen sich bereits Primarschüler*innen als Rädchen des Wirtschaftssystems unterordnen?
Rädchen würde ich nicht sagen. Das vermittelt ein falsches Bild der Kinder als Opfer eines unterdrückenden Systems. Ich würde ein anderes Bild nehmen. Die Kinder sind nicht Rädchen, sondern sitzen am Steuer. Die Gesellschaft ist ein System und Schule ist ein Teil davon. Die Schule soll die Kinder ermächtigen, sich in die Gesellschaft zu integrieren und aktiv daran teilzuhaben.
Offenbar sind Kinder aber häufig gestresst. Etwa, weil sie sich vor schlechten Noten fürchten. Muss das sein?
Es ist natürlicherweise so, dass eine Gesellschaft Entwicklungsziele hat. In der Schule sollen Kinder Kompetenzen erwerben, damit sie ihre Talente entwickeln und sich gut in die Gesellschaft integrieren können. Wenn man das mit Noten misst, kann dies auf ein Kind demotivierend wirken. Aber die eigene Entwicklung wird auch so ständig von den Eltern, der Gesellschaft und ihren Institutionen beurteilt. Die Noten abzuschaffen würde daran nichts ändern.
Sind Kinder heutzutage zu wenig belastbar?
Nein.
Sind sie also gestresst, weil die Schule sie auf Leistung trimmt?
Kinder werden oft zu stark an der Leistung der Gruppe gemessen. Es ist leider so, dass das Selbstwertgefühl vieler Kindern im Laufe der Primarschulzeit zunächst abnimmt. Jedes Kind sollte seine eigenen Entwicklungsschritte gehen und sie als positiv erleben können. Noten führen zu einer Standardisierung. Alle machen die gleiche Prüfung, für die einen ist sie zu einfach, für die anderen zu schwierig. Anstatt mit Noten könnte man zum Beispiel, auch über die zweite Klasse hinaus, ein Beurteilungsgespräch führen und somit viel besser auf die individuelle Entwicklung eingehen. Andererseits haben Noten aufgrund ihrer Klarheit auch Vorteile.
«Es ist leider so, dass das Selbstwertgefühl vieler Kindern im Laufe der Primarschulzeit zunächst abnimmt.»Trix Cacchione, Professorin für Entwicklungspychologie
Und wie nimmt man den Kindern die Angst vor den schlechten Noten?
Dieser Stress wird oft von aussen an die Kinder herangetragen. Die meisten Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder später erfolgreich sind. Es ist wichtig, die Kinder zu begleiten und das Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu stärken. Das gelingt dadurch, dass man Kindern individuelle Erfolgserlebnisse ermöglicht und gleichzeitig hilft, mit Misserfolgen positiv umzugehen.
Kinder haben bereits in der Primarschule Prüfungsstress.
Weniger Prüfungen sind nicht zwingend besser. Jede Prüfung ist eine Momentaufnahme. Wenn man beispielsweise nur noch eine Prüfung pro Fach und Semester machen würde, erhielte diese Momentaufnahme zu viel Gewicht.
Was ist mit Überraschungsprüfungen? Die stressen offenbar auch viele Kinder.
Die finde ich nicht in Ordnung. Sie geben Kindern das Gefühl, immer alles abrufen können zu müssen. Auch eine Ballung der Prüfungen sollte vermieden werden. In der Primarschule müsste das möglich sein.
Die 9-jährige Ada sagt, sie wolle ihr Sitzgspänli lieber selbst aussuchen.
Es ist in manchen Fällen pädagogisch sinnvoll, dass Lehrpersonen die Sitzordnung steuern: Denken Sie zum Beispiel an die Kinder, die sozial nicht so integriert sind und von niemandem als Sitzgspänli ausgesucht würden. Die Gefahr, abgelenkt zu werden und sich nicht gut konzentrieren zu können, ist ausserdem grösser, wenn das Kind neben der besten Freundin sitzt.
Viele Kinder wünschen sich mehr Unterricht zu Themen wie Natur, Mensch, Gesellschaft. Haben «klassische» Fächer wie Deutsch und Mathe ausgedient?
Ich verstehe sehr gut, dass manche Kinder solche Themen interessanter finden. Aber dieser Wunsch ist unrealistisch. Ein Kind kann sich nicht erfolgreich in die Gesellschaft integrieren, wenn es keine sprachliche und mathematische Grundausbildung hat.
«Es ist sicher richtig, den Kindern ein realistisches Bild der Gesellschaft zu vermitteln und sie darauf vorzubereiten, einen gewissen Druck aushalten zu können.»Trix Cacchione, Professorin für Entwicklungspychologie
Basler Kinder wollen wenigstens einen Tag in der Woche selbst bestimmen, was sie lernen.
Ich finde diesen Vorschlag gut. Aus pädagogischer Sicht ist es schon lange ein grosses Anliegen, dass Kinder Themen selber auswählen. Das steigert die Motivation und die Lerneffizienz. Aber es gibt dabei auch Grenzen. Ich glaube nicht daran, dass jedes Kind sich ausreichend für jedes wichtige Thema interessiert. Auch Dinge, die manche Kinder nicht gerne machen, können wichtig sein.
Die beiden Kinder, mit denen wir sprachen, wünschten sich mehr Unterricht draussen, auf der Wiese, in der Natur.
Der Unterricht im Freien wirkt auf die Kinder natürlich interessanter. Dies ist auch aus pädagogischer Sicht zu begrüssen. Das bedeutet aber nicht, dass Unterricht im Freien zwingend lehrreicher ist. Kinder können einen super Nachmittag im Freien erleben und trotzdem nichts lernen. Lehrpersonen müssen diese Aktivitäten gestalten und über sie die Lernziele fördern, nur dann ist das sinnvoll.
Letzte Frage: Von links hört man häufig den Vorwurf, die Kinder würden mit Leistungsdruck zu sehr gestresst. Bürgerliche fürchten eher, die Primarschüler*innen würden sich in unbelastbare Schneeflöckli verwandeln. Was ist Ihre Sicht?
Es ist wichtig, eine gute Balance zu finden. Die Gesellschaft und ihre Arbeitswelt trägt Druck an die Kinder heran. Im Laufe ihres Lebens müssen sie lernen, damit umzugehen und ihren Weg zu gehen. Es ist sicher richtig, den Kindern ein realistisches Bild der Gesellschaft zu vermitteln und sie darauf vorzubereiten, einen gewissen Druck aushalten zu können. Man sollte aber nicht vergessen, dass die kindliche Fähigkeit, sich ohne Pläne und Leistungsansprüche im Augenblick zu vertiefen und treiben zu lassen auch eine sehr zentrale Fähigkeit ist, die entscheidend zur Lebenszufriedenheit beiträgt. In dieser Beziehung sollten alle Erwachsenen mehr von den Kindern lernen.
In den Bajour-Swimmsack passt mindestens so viel Zeugs rein wie in deinen Schulsack – und es bleibt erst noch trocken.