Keine Zeit für kleine Schritte

Die Klimakrise passiere jetzt, und überall, schreiben Fina Girard und Linus Dörflinger vom Jungen Grünen Bündnis. Und warnen eindringlich, dass die Schweiz ihre globale Verantwortung als Wirtschaftszentrum wahrnehmen muss. Und zwar jetzt und nicht irgendwann.

Fina Girard und Linus Dörflinger JGB
Fina Girard und Linus Dörflinger haben genug von Pflästerli und Vertröstungen in der Klimapolitik.

2018 veröffentlichte der Bund die Schweizer Klimaszenarien. In bunt gestalteten Videos zeigte man Feuerwehrleute, die einen Keller auspumpen; Kinder, die keinen Schnee zum Schlitteln haben, eine Gemüsebäuerin in einem durstigen Gurkenbeet und eine ältere Dame, schwitzend vor dem Ventilator. Zusammenfassend war die Botschaft: Die Schweiz erwartet Hitzetage, Hitzewellen, Kältewellen und Starkniederschläge, allgemein häufige Vorkommnisse von Extremwetter. Klingt im ersten Moment eigentlich recht bewältigbar.

Fina Linus
Die Jungen haben das Wort

Was hat der politische Nachwuchs zu sagen? Im Wahljahr überlassen wir regelmässig den Jungparteien den Platz. Heute haben Fina Girard und Linus Dörflinger das Wort. Die ehemalige Präsidentin und der neue Co-Präsident des Jungen Grünen Bündnis (jgb) kandidieren beide im Herbst für den Nationalrat. Das jgb setzt sich unter anderem für «echte und sofortige Massnahmen in der Klimakrise», für Freiräume und politisches Mitspracherecht für junge Menschen ein.

In den letzten Sommermonaten, da hüpften sie scheinbar plötzlich alle aus dem Video: Die Feuerwehrleute pumpten sich durch die Ostschweiz und räumten Schutt und Schlamm in Schwanden (Glarus) zur Seite. Dabei hatten sie Anfang Sommer noch hinter dem Steuerungsknüppel eines Löschhelikopters ob Bitsch im Wallis gesessen, darunter ein lodernder Fichtenwald. Die Bäuerinnen und Bauern standen Anfang Sommer vor verhagelten Obstkulturen, die Sturmnächte im Juli hatten ganze Bäume entwurzelt. Und die Damen am Ventilator schwitzen Ende August und im September, obwohl doch eigentlich der Herbstbeginn Kühlung versprechen sollte.  

Die Klimakrise ist endgültig in der Schweiz angekommen, daran besteht kein Zweifel. Mit voller Wucht und medialem Getöse hat er sich dieses Jahr bemerkbar gemacht, obwohl er sich doch eigentlich schon seit Jahrzehnten leise in unsere Realität geschlichen hat. Und nun stehen also Sprinkleranlagen am Rheinufer, die angenehm kühlendes Nass herabrieseln lassen, und verdorrende Topfpflanzen sollten der Dreirosenbrücke ein paar Zentimeter Grün und Schatten bescheren. Und vielleicht, wenn die Stadt Basel ganz mutig ist und ihrem Versprechen nach Netto-Null bis 2037 tatsächlich gerecht werden will, werden einige Jungbäume gepflanzt und vereinzelt Strassenzüge entsiegelt.

«Haben wir vielleicht alle die Klimakrise missverstanden? Denn sie ist weder ein Zukunftsszenario noch ein Nebenschauplatz im politischen Hin- und Her in Bundesbern.»

von Fina Girard und Linus Dörflinger

Und langsam dämmert uns dabei: Haben wir vielleicht alle die Klimakrise missverstanden? Denn die Klimakrise ist weder ein Zukunftsszenario noch ein Nebenschauplatz im politischen Hin- und Her in Bundesbern. Klimakrise passiert jetzt, und überall. Im Amazonas werden dem Ökosystem täglich irreparable Schäden zugefügt. Südseeinseln wie Kiribati haben bereits Teile der Küstenlinie an den steigenden Meeresspiegel verloren, gleichzeitig explodieren dort die Bevölkerungszahlen durch ankommende Klimaflüchtlinge. Die Sahelzone destabilisiert sich seit dem Militärputsch in Mali weiter, schon heute liefern sich dort Warlords und Milizen Ressourcenkämpfe um immer knapper werdendes Acker- und Weideland. 

Und mittendrin die Schweiz. Die Schweiz, die jährlich mit tiefen Unternehmenssteuersätzen über 80 Milliarden Bundeseinnahmen zu Buche führt – damit lassen sich Klimaanpassungsmassnahmen stemmen. Eine privilegierte Ausgangslage, vor der die vom Klimawandel am stärksten betroffenen Länder nur träumen können. Nicht einmal ein halbes Prozent des Bruttonationaleinkommens springt dabei hierzulande für die Unterstützung der Länder im globalen Süden heraus. Lieber lassen wir russische Oligarchen ihr Geld in den Schweizer Banken parkieren – schätzungsweise 150 Milliarden Franken – oder spielen die durch die OECD-Mindeststeuer gestiegenen Steuereinnahmen über Standortförderung zurück in die Taschen der Konzerne. 

Es scheint, als suchen wir liebend gerne immer wieder neue Themen, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten können, um uns vor der Herausforderung der globalen Mitverantwortung zu drücken. So merken wir auch in der Schweiz die Bemühungen grosser Interessenvertreter*innen, den Klimawandel als etwas Unwichtiges abzutun, seine Faktenlage mit Fake News, Halbwissen und Kleinredungen zu diskreditieren. Dass sich die selbsternannte Bauernpartei dabei den Spitzenplatz gesichert hat, ist keine Überraschung. 

«Wir müssen endlich verstehen, dass es bei der Schweizer Klimapolitik nicht ums Retten von Gletschern geht, sondern um die Verantwortung, die wir global als Wirtschaftszentrum tragen.»

von Fina Girard und Linus Dörflinger

Zusammenfassend müssen wir uns diesen Herbst als Stimmbevölkerung eines vor Augen führen: Wollen wir Politiker*innen in Bundesbern, die die reale Dringlichkeit der Klimakrise erkannt haben – oder wollen wir weiter Pflästerli und Vertröstungen? Wollen wir wirklich lieber weiter Milliarden für Bankenrettungen ausgeben, statt endlich unseren Finanzplatz zu entkarbonisieren? Und wollen wir wirklich Vertreter*innen wählen, die unter Klimapolitik einzig die Schliessung unserer Grenzen verstehen?

Die Wahlen am 22. Oktober entscheiden über Kurs und Tempo bis 2027. Laut Weltklimarat müssen wir bis 2030 die globalen Emissionen mindestens halbieren – die kommende Legislatur stellt also alles entscheidende vier Jahre für das Klima dar. Und damit genauso für die Boden-, Landwirtschafts-, Energie-, Finanz-, Bau-, Asyl-, Wirtschafts-, Sicherheits- und Sozialpolitik. Ehrlich. Denn wir müssen endlich verstehen, dass es bei der Schweizer Klimapolitik nicht ums Retten von Gletschern geht, sondern um die Verantwortung, die wir global als Wirtschaftszentrum tragen. Und dabei haben wir keine Zeit für kleine Schritte.

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