«Falls wir gewinnen, steht die Schweiz unter massivem Druck»
Ein Klimafall steht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: Sechs portugiesische Jugendliche klagen 33 Länder an – auch die Schweiz. Vor Ort war Rosmarie-Wydler Wälti, Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen, deren eigenes Urteil in einer ähnlichen Klage gegen die Schweiz noch hängig ist. Im Interview erzählt sie von ihrem Engagement.
Es rauschte in der Telefonleitung, als Rosmarie Wydler-Wälti im Europäischen Gerichtshof das Telefon abnimmt. Im Hintergrund ein Stimmengewirr. «Ich höre Sie schlecht. Ich bin in der Verhandlung, es ist gerade Pause.» Wydler-Wälti war an diesem Mittwoch in Strassburg, wo ein Fall diskutiert wird, der vor dem höchsten Gericht erst der dritte seiner Art ist: eine Klimaklage.
Am 27. September fand die Anhörung im Fall «Duarte Agostinho vs Portugal and Others» vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) statt. Sechs portugiesische Jugendliche klagten dabei nicht nur Portugal, sondern auch sämtliche EU-Mitgliedsstaaten mitsamt der Schweiz an, durch ungenügenden Klimaschutz ihre Menschenrechte zu verletzen. Nach «Carême vs. France» (2021) und dem Fall der KlimaSeniorinnen Schweiz im März 2023 ist der Fall die dritte Klimaklage, die in Strassburg angehört wird. Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch nie über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte verhandelt und die Urteile könnten historisch sein.
Rosmarie Wydler-Wälti war – zusammen mit ihrem Verein KlimaSeniorinnen Schweiz und einer Greenpeace-Delegation – vor Ort, um sich solidarisch zu zeigen mit den portugiesischen Jugendlichen. Sechs Monate zuvor stand der Verein KlimaSeniorinnen selbst als Kläger in Strassburg, Angeklagte war die Schweiz.
Das Land sei seinen Pflichten zur Reduktion des CO2-Gehaltes nicht nachgekommen, hiess es in der Klage der Klima-Seniorinnen. Das verletze die Menschenrechte der Klägerinnen, Frauen im Pensionsalter, die aufgrund ihrer Altersgruppe und ihres Geschlechts den steigenden Temperaturen gegenüber gesundheitlich besonders gefährdet sind. Das Urteil ihres Falles wird frühstens Ende 2023 erwartet.
Rosmarie Wydler-Wälti ist Co-Präsidentin des 2016 gegründeten Vereins «KlimaSeniorinnen Schweiz». Sie stammt aus Basel und arbeitet als Erwachsenenbildnerin, Erziehungs- und Paarberaterin. Mit ihrem Verein gelangte sie 2016 an den Bundesrat, an das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), an das Bundesamt für Umwelt (BAFU) und an das Bundesamt für Energie (BFE), der Verein verstärkte Klimaziele verlangte – gestützt auf das Recht auf Leben und Gesundheit, internationale Klimaabkommen und wissenschaftliche Grundlagen betreffend der Reduktionsanforderung an Treibhausemissionen. Nachdem die KlimaSeniorinnen national mehrmals abgewiesen wurden – zuletzt 2020 vor dem Bundesgericht – zog der Verein den Fall nach Strassburg weiter.
Rosmarie Wydler-Wälti, Ihre Klimaklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte könnte ein Präzedenzfall werden. Wie kamen Sie dazu, sich für das Klima zu engagieren?
Ich habe mich schon seit dem geplanten Bau des AK-Werkes Kaiseraugst für Umweltthemen interessiert. Damals ging es jeweils um Themen unserer Umwelt, wie dreckige Luft, Wasser, Böden, das Ozonloch etc. Diese hatten auch viel mit falscher Bewirtschaftung und Ausbeutung, vor allem auch im globalen Süden durch Grosskonzerne und durch intensive Landwirtschaft zu tun. Bei mir kam ausserdem durch die damals neu entstandene Frauen- und Friedensbewegung ins Bewusstsein, dass die patriarchalen Strukturen, verbunden mit der Entwicklung der Grosstechnologien nicht nur Menschen, sondern auch die Natur an vielen verschiedenen Standorten ausbeuten.
Erinnern Sie sich daran, wann das Klima erstmals in der Politik oder in den Medien diskutiert wurde?
Mit dem Kyoto-Protokoll kam das Thema der Klimaerwärmung um die Jahrtausendwende in die Politik, wurde jedoch kaum öffentlich diskutiert. Als dann das Thema «Klimawandel» aufkam wurde ihm zuerst längere Zeit vorwiegend in den Zeitungen in der Romandie Aufmerksamkeit geschenkt. Erst seit der Klimabewegung ab 2019, ausgelöst vorwiegend durch die Klimajugend, wurde in der ganzen Schweiz endlich über die problematischen Auswirkungen der Klimaerwärmung berichtet. Und heute ist das Thema wegen ständiger, tragischer Aktualität beinahe täglich in irgendeinem Zusammenhang in den Medien.
«Wir spürten alle unsere starke Verbundenheit durch unseren Kampf für das gleiche Ziel.»Rosmarie Wydler-Wälti, über den letzten Prozess in Strassburg
Wie erlebten Sie den Prozess in Strasbourg heute?
Die erstmalige Begegnung von uns Klima-Seniorinnen mit den sechs Jugendlichen aus Portugal war ein freudiger, solidarischer Anlass – wir spürten alle unsere starke Verbundenheit durch unseren Kampf für das gleiche Ziel. Die 32 Staaten, die sich massiv gegen die Anklage der sechs Jugendlichen vor dem EGMR wehrten, reichten von ausgeklügelten Argumenten bis zur Leugnung der Risiken der Klimakrise für die Menschheit. Die 17 Richter und Richterinnen werden es sehr schwer haben in ihrer Urteilsfindung.
Glauben Sie an eine Signalwirkung des EGMR?
Wir sind sehr zuversichtlich im Hinblick auf unser Urteil! Unsere Klage am EGMR, so wir diese gewinnen, wird sicher eine Auswirkung nicht nur für die Schweiz, sondern auf das Gebiet aller Europaratsstaaten haben.
Inwiefern?
Beschwerden in all diesen Staaten könnten sich auf diesen Entscheid stützen und damit rechnen, dass das Gericht die in unserem Fall erarbeiteten Grundsätze anwenden und im Sinne des Klimaschutzes entscheiden würde.
«Die Schweiz ist zurzeit nicht auf dem Weg, die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Sie muss als reiches Land sogar eine Vorbildfunktion einnehmen.»Rosmarie Wydler-Wälti
Haben Sie Vertrauen (oder die Hoffnung), dass ein Justizsystem – auch ein supranationales – der Klimakrise entgegenwirken kann?
Es kann angesichts der katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise auf Natur und Menschen nicht um ein «Entweder - oder» gehen. Die ungenügende Klimapolitik der Schweiz wirkt sich negativ auf unsere Menschenrechte aus respektive verletzt diese. Entsprechend braucht es zusätzlich zum politischen auch den rechtlichen Weg. Beide Wege sind wichtig, beide müssen beschritten werden und sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Gerichte sind genau dafür da, Menschenrechtsverletzungen zu beurteilen. Sie sind alleine dem Gesetz verpflichtet und agieren damit jenseits der Politik.
Sie werfen der Schweiz eine ungenügende Klimapolitik vor, warum?
Die Schweiz ist zurzeit nicht auf dem Weg, die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Sie muss als reiches Land sogar eine Vorbildfunktion einnehmen.
Wie kann es aus Ihrer Sicht gelingen, dass die Schweiz künftig einen gerechten Beitrag zur Einhaltung des globalen CO2-Budgets leistet?
Falls wir gewinnen, steht die Schweiz unter massivem Druck, nicht zuletzt auch durch die Öffentlichkeit und das Ausland – alle wollen jetzt zuschauen, was und wie die Schweiz nun endlich vorwärts macht mit der Klimapolitik. Das Urteil ist zudem für die Schweiz verbindlich. Sie ist verpflichtet, die Urteile des EGMR zu befolgen und ein Ministerrat vom EGMR wird regelmässig Protokoll verlangen und die Umsetzung der Urteile überwachen. Die Schweiz hat die Europäischen Menschenrechtskonvention ratifiziert und muss sich entsprechend an die Entscheide der EMRK halten.
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