Kacke am Hacken
Manche Fehler hängen einem lange nach. Menschen haben aber ein Recht auf Vergessen und auf eine zweite Chance – auch in digitalen Zeiten. Ein Wochenkommentar von Chefredaktorin Ina Bullwinkel.
Verdient jede*r eine zweite Chance? Diese Frage haben wir diese Woche den Bajour-Leser*innen gestellt. Und zwar nachdem bekannt wurde, dass Marco Goecke, der breiten Öffentlichkeit durch eine Hundekot-Attacke auf eine Kritikerin bekannt, neuer Ballettdirektor am Theater Basel wird. Nachdem Goecke in Hannover infolge des Kack-Eklats rausgeschmissen wurde, bekommt der renommierte Choreograf also in Basel eine zweite Chance.
Ist das fair? Müsste er nicht gecancelt werden? Man gerät schnell in philosophische Gefilde und muss überlegen, auf welche gesellschaftlichen Werte und Normen wir uns beim «Zweite-Chance-Geben» einigen wollen. Alle Menschen machen Fehler. Welche Strafe ist gerecht und ab wann ist eine «Schuld» beglichen? Lässt man mildernde Umstände gelten (wie ein Burnout im Fall Goecke)? Was darf sich eine Person des öffentlichen Lebens leisten, die viel Macht hat?
Basel kriegt die grossen zivilisatorischen Fragen quasi auf dem Tablett serviert.
Das Internet vergisst bekanntlich nie. Und die Menschen haben durchaus eine gewisse Vorliebe für martialische Strafen. Man erinnere sich an öffentliche Hinrichtungen im Mittelalter oder schaut einfach kurz rüber zu X oder Instagram, wo es den Pranger online wieder gibt – ohne Richter, ohne Faktencheck, ohne Unschuldsvermutung und ohne mildernde Umstände, aber inklusive programmierter Bots mit dem Ziel, Menschen fertig zu machen.
Sollte Goecke lebenslang nicht mehr als Choreograf angestellt werden, vor allem auch, weil die Attacke nichts über die Qualität seiner Arbeit aussagt?
Zurück zu Goecke. Er hat sich damals – nach tagelanger Diskussion – schliesslich entschuldigt. Das Verfahren gegen ihn wegen tätlicher Beleidigung wurde Ende vergangenes Jahr gegen Zahlung eines vierstelligen Geldbetrags eingestellt. Alles wieder gut? Ein Blick auf die Schlagzeilen der vergangenen Tage sagt eher etwas anderes. Die Hundekacke hat Goecke noch immer am Hacken. Zu verzeihen bedeutet 2024 eben nicht unbedingt zu vergessen. Wie sagte einmal ein Fussballer: «Haste Scheisse am Fuss, haste Scheisse am Fuss.»
Wer wegen einer Straftat ins Gefängnis muss, wird gegen Ende der Strafe «resozialisiert», also wieder in die Gesellschaft aufgenommen. Das Theater Basel gilt jetzt als mutig. Aber sollte Goecke lebenslang nicht mehr als (leitender) Choreograf angestellt werden, vor allem auch, weil die Attacke nichts über die Qualität seiner Arbeit aussagt? Wenn schon, dann über fehlende Selbstbeherrschung. Sein Auftreten wird in Basel sicher – zu Recht – besonders unter die Lupe genommen.
Es liegt in Goeckes Verantwortung, mit seiner künstlerischen Leistung zu überzeugen und auch mit scharfen Kritiker*innen respektvoll umzugehen.
Aber wie lange öffentliche Ächtung und de facto Arbeitsverbot sind eine gerechte Strafe für einen unappetitlichen Ausraster mit Hundekacke? Zwei Jahre? Fünf Jahre? Oder kriegt jede*r einfach für alle Fehltritte lebenslänglich? Dann wären wir zivilisatorisch allerdings nicht viel weiter als im Mittelalter.
Worauf man sich wohl einigen kann: Einen zweiten Ausraster dieser Art sollte sich Goecke besser nicht leisten.
Es liegt in Goeckes Verantwortung, mit seiner künstlerischen Leistung zu überzeugen und auch mit scharfen Kritiker*innen respektvoll umzugehen. Und die Aufgabe der Gesellschaft ist es, ihm zumindest ein minimales Vertrauen vorzuschiessen, dass es zu keinem weiteren Eklat kommt.