Krieg in Israel: Basler Experten ordnen ein

Israel befindet sich seit Samstagmorgen im Kriegszustand. Was sind die Hintergründe und was bedeutet das für die jüdische und palästinensische Gemeinschaft? Bajour hat mit Menschen aus der Schweiz und Israel gesprochen, die die Situation einschätzen.

Fire and smoke rise following an Israeli airstrike, in Gaza City, Sunday, Oct. 8, 2023. The militant Hamas rulers of the Gaza Strip carried out an unprecedented, multi-front attack on Israel at daybreak Saturday, firing thousands of rockets as dozens of Hamas fighters infiltrated the heavily fortified border in several locations, killing hundreds and taking captives. Palestinian health officials reported scores of deaths from Israeli airstrikes in Gaza. (AP Photo/Hatem Moussa)
Nach dem Angriff der Hamas: Israel reagiert mit Luftangriffen auf Gaza. (Bild: AP Photo/Hatem Moussa)

Der Angriff der Hamas traf Israel am Samstagmorgen unerwartet, das Land befindet sich im Schockzustand. Die jüdische Gemeinschaft in Basel ist seit Jahrzehnten eng verbunden mit Israel, zahlreiche Basler Jüd*innen haben Familienangehörige und Bekannte in Israel. Das weiss auch Erik Petry, Historiker und Co-Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Uni Basel. Er ist zurzeit in engem Kontakt mit der jüdischen Gemeinschaft in Basel und in Israel. Zu Bajour sagt er: «Niemand hat die Situation kommen sehen und alle sind fassungslos: Die Jüd*innen in Israel wurden an ihrem hohen Feiertag Simchat Thora, genau 50 Jahre nach dem Jom Kippur-Krieg, vom Angriff der Hamas überrascht. Das ist eine verheerende Niederlage für die israelische Regierung.»

Petry glaubt, dass Israel nun versuchen wird, die militärische Kontrolle zu erhalten. «Es wird hoffentlich unterbinden, dass es im Norden auch noch brennt. Im besten Fall wird eine gewisse Beruhigung eintreten.»

Erik Petry
«Niemand hat die Situation kommen sehen und alle sind fassungslos.»

- Erik Petry, Historiker und Co-Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Uni Basel

Foto: zVg

Die Raketen trafen die Regierung offenbar unvorbereitet. Wie konnte es soweit kommen? Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace sagt: «Ich kann nicht sagen, aus welchem Grund die israelische Regierung die Gefahr eines Angriffs unterschätzt hat. Zeitlich weist dieser aus meiner Sicht einen klaren Zusammenhang mit dem Deal zwischen Israel und Saudi-Arabien auf, der offenbar vor einem Abschluss steht.» Iran und die Hamas seien gegen diese diplomatische Annäherung. «Iran ist bekanntlich ein wichtiger Unterstützer der Hamas und hat ihr zum Angriff gratuliert. Ausserdem ist dieses Jahr auch vor dieser dramatischen Eskalation das seit langem blutigste Jahr in der Westbank gewesen. Aber dass die Hamas nun Menschen auf offener Strasse tötet, nur weil sie in Israel sind, ist völlig inakzeptabel. Es ist ein klares Kriegsverbrechen», so Goetschel. 

Ist also die bisherige Friedenspolitik in Israel gescheitert? Goetschel sagt: «Es gibt in Israel schon seit längerem gar keine Friedenspolitik mehr. Man kann also sagen, die Nicht-Friedenspolitik ist gescheitert.» Auf die Frage, ob die aktuelle Situation mit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 vergleichbar ist, sagt er: «Ein Unterschied ist sicher, dass die Hamas nicht annähernd eine so starke Macht ist, wie es Ägypten damals war. Aber auch in diesem Fall wird Israel massiv zurückschlagen. Wenn die Hamas tatsächlich Geiseln in ihrem Gewahrsam haben, könnte Israel bald mit Bodentruppen einmarschieren.» Erneut würde es, so der Swisspeace-Direktor, auf beiden Seiten viele Opfer geben. 

Laurent Goetschel
«Es gibt in Israel schon seit längerem gar keine Friedenspolitik mehr. Man kann also sagen, die Nicht-Friedenspolitik ist gescheitert.»

- Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace

Foto: zVg

Historiker Erik Petry findet die Ähnlichkeiten zum Jahr 1973 «frappierend», es sei zudem unklar, welche Dimension der Konflikt im Hinblick auf Iran und Russland erreichen wird. Noch sei offen, wie stark der Iran die Hisbollah ermutigen werde, ebenfalls anzugreifen und wie stark Russland an der Eskalation des Konflikts interessiert ist, um von der Konzentration der USA und Europa auf die Ukraine abzulenkenm so Petry. Laurent Goetschel hingegen sagt: «Der Ukrainekrieg ist ein anderer Schauplatz, aber es gibt genügend Sprengstoff im Nahen Osten selbst. Der Iran unterstützt die Hamas und es sind nun massive militärische Reaktionen seitens Israel zu erwarten, die auf Unterstützung der USA zählen können.» 

Auf die Frage, was der Konflikt für die jüdische und palästinensische Gemeinschaft in der Schweiz bedeutet, sagt Goetschel: «Schon heute wird, vor allem in den sozialen Medien, auf allen Seiten die Stimmung angeheizt. Das wird sich auch in der Schweizer Gesellschaft bemerkbar machen. Wenn der Krieg, wie leider zu befürchten ist, weitergeht und eskaliert, dürfte die Stimmung auch hierzulande weiter angeheizt werden, was auch in den Wahlkampf hineinspielen könnte.»

Geri Müller
«Es war klar, dass es irgendwann eine Gewaltreaktion gibt.»

- Geri Müller, Präsident Gesellschaft Schweiz Palästina

Foto: zVg

Und wie steht die Gesellschaft Schweiz Palästina zu den Angriffen der Hamas? Präsident Geri Müller sagt zu Bajour: «In unseren Statuten steht, dass wir jegliche Form von Gewalt ablehnen. Gewalt ist nie eine Lösung. Die Hamas hat ausgenutzt, dass die Führung in Israel aktuell desorganisiert ist.» Müller sagt, er befürworte niemals Gewalt, die Situation sei «verheerend». Aber er sehe den aktuellen Angriff als eine Entwicklung, die sich in den vergangenen Monaten angebahnt habe: «Es war klar, dass es irgendwann eine Gewaltreaktion gibt – und die Hamas hat sich den Zeitpunkt taktisch clever ausgesucht und den Angriff professionell organisiert.»

Im aktuellen Konflikt darf nicht die palästinensische Bevölkerung in Israel vergessen werden. Müller betont, sie sei nicht mit der Hamas gleichzusetzen. Was bedeutet der Krieg in Israel für sie? «Die palästinensische Bevölkerung träumt davon, dass ihr Albtraum der Besatzung nun endet. Andererseits wird auch die palästinensische Bevölkerung nun grosse Verluste zu beklagen haben und unter der Gewalt leiden.»

Alfred Bodenheimer
«Das Land ist im Schockzustand»

Israel wurde am Samstag von einem Angriff der Hamas überrascht. Alfred Bodenheimer, Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Uni Basel, ist derzeit in Karmiel und erlebt den Konflikt in Israel hautnah. Im Interview schildert er die Situation.

Zum Interview

Petry verweist auf die Macht, die die Hamas aufgrund der Geiseln aktuell hat: «Im Judentum hat es einen besonderen Stellenwert, Menschenleben zu retten und auch Tote nach Israel zurückzuholen. Jede Geisel, die die Hamas hat – egal ob lebend oder tot – wird bei den weiteren Verhandlungen eine grosse Rolle spielen», sagt Petry, der regen Kontakt zur jüdischen Bevölkerung in Basel hat. Betroffen ist Petrys Co-Leiter vom Zentrum für Jüdische Studien, Alfred Bodenheimer. Er ist derzeit bei seiner Familie in Israel.

«Natürlich sind alle alarmiert. Neben Alfred Bodenheimer ist eine weitere Dozentin von uns aktuell in Israel, mit der ich in Kontakt stehe. Basel hat eine sehr enge Verbindung nach Israel und alle wollen nun wissen, wo sich ihre Verwandten und Bekannten jetzt gerade aufhalten oder wer Kinder in der Armee hat.» 

Das könnte dich auch interessieren

Unbenannt (16)

David Rutschmann am 13. Dezember 2024

Der späte Beginn eines Dialogs

Vorsichtig sucht die Uni das Gespräch, was Wissenschaft zur Einordnung des Nahostkonflikts leisten kann (oder soll?). Es ist bemerkenswert, wer da nun plötzlich mit wem in den Dialog treten kann. Aber die Unileitung muss bei einigen Studierenden dennoch das Vertrauen zurückgewinnen, kommentiert David Rutschmann.

Weiterlesen
Wochenkommentar Leila Moon

Ina Bullwinkel am 13. Dezember 2024

Verlierer*innen, wo du hinschaust

Was bleibt übrig von der knapp einmonatigen Diskussion um die Vergabe des Kulturförderpreises an Leila Moon? Eine Jury, die sich und die Künstlerin angreifbar gemacht hat. Ein Amt für Kultur, das sich wieder einmal rechtfertigen musste. Und eine Künstlerin, an der nun ein Image haftet, das nur schwer zu revidieren ist. Ein Kommentar von Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Weiterlesen
Pekerman2

Valerie Zaslawski am 10. Dezember 2024

«Wir werden sehen, ob Syrien wirklich ein Land für alle sein wird»

GLP-Grossrat Bülent Pekerman sagt im Interview mit Bajour, die Freude über den Sturz von Assad in der kurdischen Community sei gross. Er äussert aber auch Bedenken: «Die Türkei wird nun versuchen, den Kurden in Syrien das Leben schwer zu machen.»

Weiterlesen
Elisabeth Schneider-Schneiter Ukraine

David Rutschmann am 06. Dezember 2024

«Uns allen geht es um die humanitäre Tradition»

Die Baselbieterin Elisabeth Schneider-Schneiter war eine der Ausscherer*innen aus der Mitte, die im Nationalrat die Verschärfung des Schutzstatus S möglich machten. Sie findet es richtig, den Sonderschutz auf die akuten Kriegsgebiete zu beschränken – und hofft, dass man damit die Zuwanderungspolemik der SVP bekämpfen kann.

Weiterlesen
Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Senior-Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

Kommentare