«Basel ist immer noch eine sehr sichere Stadt»

Der Kriminologe Dirk Baier ordnet die Kriminalitätsstatistik ein. Ein Interview über die Nachteile des kantonalen Vergleichs, die Gründe für die höhere Kriminalität und das Sicherheitsempfinden.

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Basel ist nur noch bei Kriminalität Spitzenreiter, heisst es recht zynisch im BaZ-Podcast zum Thema. (Bild: Collage Bajour)

Dirk Baier, einmal mehr wird Basel medial als Kriminalitätshauptstadt der Schweiz inszeniert …

Es ist jedes Jahr eine Schlagzeile wert. Ich frage mich, warum sich das nicht endlich mal abnutzt. Es ist unglaublich, dass da wirklich noch ein Nachrichtenwert drinsteckt.

Macht dieser Vergleich zwischen den Kantonen überhaupt Sinn?

Wenn man genau hinschaut, merkt man, dass der Apfel nicht gleich aussieht wie die Birne. Man kann einen Stadtkanton nicht mit ländlichen Kantonen vergleichen. Keiner der anderen Kantone besteht nur aus einer Grossstadt. Genf und Zürich haben zwar auch Grossstädte, aber eben auch Hinterland.

Dirk Baier
Zur Person

Professor Doktor Dirk Baier ist Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Der Kriminologe forscht hauptsächlich zu Jugendkriminalität und Gewaltkriminalität.

Selbst wenn man die Städte untereinander vergleicht, liegt Basel laut der nationalen Kriminalitätsstatistik noch vor Genf und Zürich.

Wenn man auf einzelne Städte eingeht, ist der Vergleich trotzdem schwierig: Städte sind unterschiedlich gross und haben unterschiedliche Strukturen. In Basel kommt das Dreiländereck hinzu. Wir haben hier eine Grossstadt mit doppelter Grenznähe – das ist in der Schweiz einmalig. Natürlich stellt man Unterschiede fest, wenn man das mit anderen Städten vergleicht. 

Warum ist die Kriminalität in Städten denn überhaupt höher als anderswo?

Das sind attraktive Orte, wo man seine Freizeit verbringt, wo aber auch die Bevölkerungsstruktur ein bisschen schwieriger ist: höhere Armut, zum Teil höhere ethnische Heterogenität. Was noch hinzukommt: In Städten wird auch eher angezeigt als auf dem Land. Und die Kriminalstatistik ist eine Anzeigenstatistik, welche die Dunkelziffer nicht erfassen kann.

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Polizeiliche Kriminalstatistik 2023

Schon die am Montag veröffentlichte Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundes zeigte: Basel war 2023 once again Spitzenreiter im interkantonalen Vergleich. 13,2 Straftaten pro 1000 Einwohner*innen gab es vergangenes Jahr in Basel.

Bei der Medienkonferenz der Baselstädtischen Staatsanwaltschaft am Montag wurde deutlich: Die angezeigten Delikte liegen mit 30'429 auf einem Allzeithoch. Heraussticht der Anstieg bei den Vermögensdelikten (21'320 Fälle, ein Anstieg von 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahr), sowie ein Rückgang der Gewaltdelikte (2443, -10 Prozent). Straftaten gegen Leid und Leben sanken in allen Bereichen, nur die schwere Körperverletzung stieg von 26 auf 37 Fälle. Auch Sexualdelikte (330) gingen um 8 Prozent zurück.

Der Anteil der angezeigten Schweizer Wohnbevölkerung liegt mit 32 Prozent in Basel deutlich niedriger als in der Restschweiz (44 Prozent). Gestiegen ist der Anteil der Asylbevölkerung (18 Prozent, Schweiz: 6,6) und der übrigen ausländischen Bevölkerung, also Personen aus dem grenznahen Ausland (26 Prozent, Schweiz: 18).

Ein starker Anstieg wird im Bereich der Jugendkriminalität verzeichnet. Mit 2522 Anzeigen stieg diese im Jahr 2023 um 71 Prozent.

Aber es ist nunmal so: Die Anzahl der Anzeigen ist auf einem Allzeithoch in Basel.

Wenn wir über gestiegene Kriminalitätszahlen reden, sind hauptsächlich Diebstähle ausschlaggebend. Auch das ist für das Opfer nicht schön zu erleben: Der ganze Aufwand, der danach entsteht, den Ausweis neu beantragen und so weiter. Vielleicht sind 150 Franken weg. Aber es ist keine Körperverletzung, da findet selten eine Sachbeschädigung statt. Niemand spricht darüber, dass weniger Gewalt- und Sexualdelikte begangen wurden. Es gab kein Tötungsdelikt im vergangenen Jahr, Vergewaltigungen sind zurückgegangen. Es ist fraglich, ob das rechtfertigt, das ganze Land mit systematischen Grenzkontrollen zu verändern.

Damit spielen sie auf die Forderungen der SVP an. Sie will auf die relativ hohen Quote an Delikten, die von Grenzgänger*innen und Asylbewerber*innen begangen wird, mit Grenzkontrollen reagieren.

Damit würde einhergehen, dass wir wieder mehr Grenzschutzpersonal brauchen. Wenn man das ernst meint, wird es teuer. Da muss die SVP auch mal aufzeigen, wie das finanziert werden soll. Ob man die Ressourcen dafür bereitstellen will, muss man wirklich in Ruhe durchsprechen. Aus meiner Sicht sollte man sich da ein bisschen zurückhalten. Der Schaden ist wie gesagt nicht enorm. Ob sich Aufwand und Ertrag so rechnen, ist fraglich.

Also müssen wir damit leben?

Ich möchte auch nicht mit der Gefahr leben, dass mir mein Portemonnaie gestohlen wird. Aber das war vor zehn, zwanzig, fünfzig Jahren – als wenig Ausländer in der Schweiz waren – nicht anders. 

Nun, Taschen- Einschleich- und Entreissdiebstähle sind gemäss Basler Statistik auf einem Allzeithoch, also ist die Lage doch gefährlicher als damals.

Ein Wohnungseinbruch ist ein Delikt. Das würde ich nicht vergleichen mit einem Taschendiebstahl. Eindringen in die eigenen vier Wände hat psychisch enorme Auswirkungen auf die Opfer. Aber bei Einbruchdiebstählen sind wir noch lange nicht auf dem Allzeithoch, das wir vor zehn Jahren hatten. Der Anstieg einzelner Straftaten ist nicht in einem Bereich, der Sorgen machen muss.

«Kriminalität ist ein komplexes Problem. Einfache Lösungen wie die der SVP funktionieren nicht.»
Dirk Baier, Kriminologe

Was sagt die hohe Zahl an diesen vermeintlich kleineren Vermögensdelikten dann aus?

Die Zahlen sprechen für viele Gelegenheiten, einen Diebstahl zu begehen – die sind in einer Stadt höher als anderswo. Ich plädiere dafür, wieder verstärkt auf die informelle Kontrolle zu setzen: Ich bin auch in der Verantwortung, auf meine Sachen aufzupassen. Keine Möglichkeiten für einen Fahrzeugeinbruch bieten, indem ich nichts von Wert darin liegen lasse. Und wenn ich auffälliges Verhalten in der Nachbarschaft beobachte, kann es abschreckend wirken, die Person anzusprechen.

Gerade im Fall von Entreissdiebstählen, bei der unvermittelt die Uhr vom Handgelenk oder eine Kette vom Hals gerissen wird, bringt das doch wenig.

Da stimme ich Ihnen zu. Da muss die Polizei den Modus Operandi genauer anschauen und die richtigen Folgerungen aus diesem Vorgehensmuster ziehen. Aber: Entreissdiebstähle sind zwar gemäss Statistik um 169 Prozent gestiegen. In absoluten Zahlen ist das eine Steigerung von 36 Fällen 2022 auf 97 Fälle im vergangenen Jahr. Bei Schleichdiebstählen, also Einbrüche in nicht verschlossene Räume, liegt die Fallzahl bei 671 Straftaten. Das muss man wirklich ein bisschen relativiert anschauen.

Was sagt der Anstieg dieser Straftaten über die Täter*innen aus?

Das ist nicht super einfach zu beantworten. Aber es bedeutet, dass es Gruppen in der Bevölkerung gibt, die scheinbar gezwungen sind, ein Stück weit ihren Lebensunterhalt zusammenzukriegen. Teuerung trifft gerade ärmere Bevölkerungsgruppen. Gerade im Diebstahlbereich haben wir einen hohen Anteil Delinquenter aus der nicht ständigen Wohnbevölkerung.

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Und was denkst Du?

Was lösen die Zahlen der Kriminalitätsstatistik bei dir aus? Angst? Schulterzucken? Wir diskutieren in der Frage des Tages darüber. Diskutier doch mit!

Zur Debatte

Wir erleben einen Anstieg auch aus dem Asylbereich und von Täter*innen aus dem grenznahen Ausland.

Asylsuchende werden sehr kurz gehalten in der Schweiz. Manche sehen, wie reich das Land ist und müssen selbst mit acht Franken am Tag auskommen. Da gibt es schon einen gewissen Druck, partizipieren zu wollen in diesem reichen Land. Und Grenzgänger aus Frankreich sind teils in einer sehr angespannten Lage. Teilweise mit Problemen, die man in der Schweiz nicht gelöst bekommt, was auch ethnische Thematiken anbelangt. Auch organisierte Kriminalität mit Hehlerstrukturen im Hintergrund spielt eine Rolle.

Wenn wir die Probleme nicht lösen können, und wenn einige Personen wirklich extra für Verbrechen in die Schweiz kommen – wie können wir dann darauf reagieren?

Kriminalität ist ein komplexes Problem. Einfache Lösungen wie die der SVP funktionieren jedenfalls nicht. Und wenn man der Meinung ist, dass man nur auf eine einzelne Zielgruppe gucken muss, liegt man auch immer falsch. Natürlich, die steigende Kriminalität im Ausländerbereich kann man zur Zeit nicht wegreden.

Im Jugendbereich waren es sogar mehrheitlich Personen aus dem Ausland, die Verbrechen begingen.

Die hohe Jugendkriminalität, ein Anstieg von sechs bis sieben Prozent – das ist eine Auffälligkeit in Basel aus meiner Sicht. Hier steigen die Zahlen stärker als in der restlichen Schweiz. Das ist dann das Los von einer Grossstadt, wo die Jugend aus dem Umfeld auch teilweise längere Wege in Kauf nimmt, um beispielsweise abends in den Ausgang zu gehen oder Fussball zu schauen. Die Stadt will ja auch für Jugendliche attraktiv sein. Nur, dass dann, wenn viele Jugendliche unterwegs sind, der Konflikt nicht so weit ist.

«Die Erfahrung in 50 Jahren Kriminalitätsstatistik ist: Es ist immer ein Auf und Ab. Die Anstiege können nicht ewig weitergehen.»
Dirk Baier, Kriminologe

Herr Baier, wie können wir dieses Interview nun mit einem Lichtblick beenden?

Wir müssen nicht nur die Veränderung der Fallzahlen, sondern auch deren Niveau anschauen. Verändert sich tatsächlich die Wahrscheinlichkeit des Einzelnen, in Basel viktimisiert zu werden? Ich sag das mal überspitzt: Die Gefahr, dass man irgendwo in Basel überfallen wird und schwere Gewalt erlebt, liegt bei gerundet null. Basel ist trotz der Spitzenreiterposition in der Schweiz eine sehr sichere Stadt. Man muss sich nicht in seiner Freiheit beschneiden durch solche Veränderungen in der Kriminalitätsstatistik.

Also können wir uns die gleiche Diskussion im nächsten Jahr sparen.

Die Erfahrung in 50 Jahren Kriminalitätsstatistik ist: Es ist immer ein Auf und Ab. Die Anstiege können nicht ewig weitergehen. In zwei, drei Jahren werden wir das wieder in den Griff bekommen und rückläufige Zahlen erleben. Denn: Die Polizei ist wachsamer, sie wird sicherlich ein bisschen mehr kontrollieren und die Hotspots noch mehr im Auge haben, was sie eh schon tut. Man wird gegenseitig aufeinander achten. 

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Das ist David (er/ihm):

Von Waldshut (Deutschland) den Rhein runter nach Basel treiben lassen. Used to be Journalismus-Student (ZHAW Winterthur) und Dauer-Praktikant (Lokalzeitungen am Hochrhein, taz in Berlin, Wissenschaftsmagazin higgs). Besonderes Augenmerk auf Klimapolitik, Wohnpolitik, Demopolitik und Politikpolitik. Way too many Anglizismen.

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