«Eine politische Strategie scheint es nicht zu geben»

Ein Jahr nach dem 7. Oktober ist kein Ende des Konflikts im Nahen Osten in Sicht – im Gegenteil. Der Swisspeace-Direktor Laurent Goetschel ordnet die aktuellen Geschehnisse ein, hinterfragt Israels Strategie und verweist auf die Rolle der Uno.

Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace und Professor fuer Politikwissenschaft an der Uni Basel, posiert am Dienstag, 9. Januar 2024 in Bern zum Portrait. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)..Laurent Goetschel. director of Swiss Peace Foundation swisspeace and professor of political science at the University of Basel, poses for a portrait on January 9, 2024, in Bern, Switzerland. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)
Der 7. Oktober solle vor allem ein Tag der Besinnung sein, sagt Swisspeace Direktor Laurent Goetschel. (Bild: © KEYSTONE / ALESSANDRO DELLA VALLE)

Laurent Goetschel, haben Sie nach dem 7. Oktober damit gerechnet, dass wir ein Jahr später über einen Krieg im Nahen Osten sprechen?

Nein. Nach dem 7. Oktober 2023 war davon auszugehen, dass Israel militärisch auf den Terrorangriff der Hamas reagieren würde. Allerdings nicht unbedingt in diesem Ausmass. Vor allem war nicht damit zu rechnen, dass die Frage der Geiseln in der offiziellen israelischen Politik dermassen untergehen würde. Je länger der Krieg in Gaza andauerte, umso wahrscheinlicher wurde es jedoch, dass er sich auf den Norden ausweiten würde. Denn die Regierung musste etwas für die Rückkehr ihrer Bevölkerung im Norden des Landes unternehmen. Es hätte aber auch anders kommen können.

Nämlich? Hätte man sich auf einen Waffenstillstand welcher Art auch immer in Gaza geeinigt, hätte der Beschuss im Norden wahrscheinlich aufgehört. Und ein weiterer Teil der Geiseln wäre freigekommen. Israel hätte nach dem 7. Oktober auch nicht so massiv in den Gazastreifen einmarschieren müssen, sondern sich auf kleinere und gezieltere militärische Schläge beschränken können. Die israelische Regierung wählte ein anderes Vorgehen. Jetzt befinden wir uns in einer Gewaltspirale und können nur hoffen, dass die Situation nicht weiter eskaliert.

Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace und Professor fuer Politikwissenschaft an der Uni Basel, posiert am Dienstag, 9. Januar 2024 in Bern zum Portrait. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Laurent Goetschel. director of Swiss Peace Foundation swisspeace and professor of political science at the University of Basel, poses for a portrait on January 9, 2024, in Bern, Switzerland. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)
Zur Person

Laurent Goetschel ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace. Er war persönlicher Mitarbeiter der ehemaligen Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und forscht über Fragen der Friedens- und Konfliktforschung.

In Gaza gibt es tausende Todesopfer, die Zivilbevölkerung leidet massiv. Wie kann es dort eine Besserung geben?

Eine Besserung setzt einen Waffenstillstand oder zumindest eine Waffenruhe voraus. 

Ist der internationale Druck auf Netanjahu zu klein? Erst Gaza, jetzt Libanon, er kann offenbar unbehelligt agieren. 

Einzig die USA sind in der Lage, Israel zum Einlenken zu zwingen. Offenbar waren sie dazu bisher nicht willens. 

Hat Sie der Einmarsch in den Libanon überrascht?

Nicht wirklich, angesichts des Andauerns des Krieges in Gaza. Die Grenze zum Libanon war in den letzten Jahren nie ganz friedlich. Es kam immer wieder zu kleinen militärischen Scharmützeln. Es gibt weder einen Friedensvertrag noch eine gegenseitige Anerkennung beider Länder. Auch wegen seiner schwachen politischen Strukturen ist Libanon für Israel das schwierigste Nachbarland. 

Welche Strategie verfolgt Israel?

Eine politische Strategie ist nicht erkennbar. Die militärische Strategie aber ist klar: Israel versucht, die führenden Akteure der Gegenseite, also der Hisbollah, gezielt zu eliminieren. Zuerst wurden die Gegner mit den Pager- und Walkie-Talkie-Attacken verunsichert. Und dann wurde die Gunst der Stunde genutzt, um sie militärisch zu schwächen. 

Und nun? Wir werden sehen, ob Israel erneut eine Pufferzone unter israelischer Besatzung im Süden Libanons einrichten wird. Im Jahr 2006 wurde die Uno-Resolution 1701 beschlossen, um den Norden Israels sicher zu machen. Diese Pufferzone wurde bislang nicht eingehalten. 

«Uno-Sicherheitsrat hat es aus meiner Sicht in der Hand.»
Laurent Goetschel, Direktor Swisspeace

Welche Rolle spielt die Uno-Resolution heute?

Mit der Resolution wurde der Krieg im Libanon 2006 beendet. Auch die Hisbollah, die Teil der damaligen Regierung war, hat ihr zugestimmt, sich aber nie an die Abmachungen gehalten. Würde die Resolution 1701 eingehalten, könnte sie eine Lösung auch für den aktuellen Konflikt sein.

Welche Rolle kann die Uno jetzt spielen? 

Sie bzw. der Uno-Sicherheitsrat hat es aus meiner Sicht in der Hand. Wenn die Uno 2000 amerikanische Soldaten in den Südlibanon senden würde, dann hätte das sicher einen Effekt. 

Die USA befinden sich im Wahlkampf, was heisst das für den Krieg im Nahen Osten? 

Den USA kommt dieser Konflikt nicht gelegen. Die Regierung von Joe Biden, die ja noch im Amt ist, möchte irgendeinen Erfolg vorweisen können. Bisher ist der einzige nach aussen sichtbare Erfolg, dass die USA Israel darin unterstützt haben, Raketenangriffe abzuwehren. So wie dies auch auch in den letzten Tagen der Fall gewesen ist.

Auf Bidens Pläne für einen Waffenstillstand ist Israel nicht eingegangen. 

Nein, die USA haben aber auch nichts Erkennbares unternommen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Biden hat sich schon vor einem Jahr als unerschütterlicher Verteidiger Israels gezeigt. Dies nicht nur im unmittelbaren Nachgang an den 7. Oktober, sondern stets von Neuem auch nachdem der Waffengang in Gaza erschütternde Ausmasse angenommen hatte. Von dieser Position ist er bisher nicht abgerückt. Er hat die israelische Regierung zwar immer wieder zur Zurückhaltung gemahnt, jedoch nichts Sichtbares unternommen, wenn neue Eskalationsschritte erfolgten.  

epa11638136 Smoke rises following an Israeli military strike, in Kafr Kila village, southern Lebanon, 02 October 2024. According to the Lebanese National News Agency (NNA), Israeli warplanes conducted a series of raids against multiple neighborhoods in the southern suburbs of Beirut (Dahieh) on the evening of 01 October. On 30 September Israel announced the beginning of a 'limited, localized and targeted' ground operation against Hezbollah in southern Lebanon.  EPA/STR
Der Krieg hat sich bis in den Libanon ausgeweitet. (Bild: Keystone)

Wie wahrscheinlich ist es, dass der Konflikt jetzt ausser Kontrolle gerät?

Ich kann im Moment nur spekulieren. Neben Iran spielen in der Region Saudi-Arabien und Ägypten eine wichtige Rolle. Aber auch Russland hat sich erstmals klar zu Wort gemeldet und gesagt, die Souveränität des Libanon müsse respektiert werden. Das ist doppelt zynisch, weil Libanon noch nie wirklich souverän war und Russland nicht unbedingt das Land ist, das sich an die Souveränität anderer Staaten hält. Mit seinem Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg hat sich Russland ein starkes Standbein in der Region geschaffen. Es gibt viele politische Interessen, die auf dem Spiel stehen, und entsprechendes Konfliktpotenzial. 

Wie sind die Chancen für Israel in diesem Krieg?

Ich weiss nicht genau, worauf Israel hinaus möchte. Momentan befindet sich das Land im Kriegsmodus. Israel hat noch nie einen so langen Krieg geführt, und so unendlich viele Ressourcen hat das Land auch nicht. Das wirkt sich schon jetzt auch auf die wirtschaftliche Lage aus. Ich werde den Eindruck nicht los, dass die Kriegsführung stark durch parteipolitische und persönliche Interessen getrieben ist. 

Hat Benjamin Netanjahu Rückhalt in seiner Bevölkerung?

Beim Krieg in Gaza weniger, der Krieg im Libanon geniesst innerhalb der israelischen Bevölkerung einen deutlich grösseren Rückhalt.

Weil es das Ziel ist, den Norden Israels sicherer zu machen?

Auch. Der Libanon ist ein altes Problem für Israel. Die Hisbollah als grosse Gefahr schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Land. Im Hintergrund steht Iran als Unterstützer. Und dass die Regierung jetzt «aufräumt», ist etwas, das bei der Bevölkerung auf Zustimmung stösst. Es stellt sich aber die Frage, wohin das alles führt. In der Vergangenheit hat Israel im Libanon noch nie eine dauerhafte Besserung erreicht. Es kann nur gelingen, wenn im Libanon eine stärkere Regierung installiert würde, die eine einigermassen kohärente Strategie gegenüber Israel verfolgt und diese auch durchsetzen kann. Oder der Sicherheitsrat müsste ein entsprechend starkes Mandat für die Uno-Truppen im Süden des Landes verabschieden.

«Die Schweiz spielt eine wichtige Rolle, da sie diesen Monat den Vorsitz des Uno-Sicherheitsrats innehat.»
Laurent Goetschel, Direktor Swisspeace

Wie wahrscheinlich ist das?

Es gibt im Moment keine Anzeichen dafür, dass das einfacher möglich wäre, als bisher. Die stärkste Akteurin, die Hisbollah, wurde geschwächt, aber das heisst noch lange nicht, dass es einen anderen Akteur oder eine brauchbare Koalition von Akteuren gibt, die nun das Zepter übernehmen wird. Und die Uno ist zurzeit nicht besonders handlungsfähig.

Welche Rolle kann die Schweiz spielen? 

Eine wichtige, da sie diesen Monat den Vorsitz des Uno-Sicherheitsrats innehat. Die Schweiz pocht wieder verstärkt auf die Einhaltung des Völkerrechts, was gut ist. Sie kann im Sicherheitsrat die Bedeutung der Einhaltung des Völkerrechts durch alle Konfliktparteien unterstreichen. Sie könnte auch versuchen, einen neuen Entscheid des Sicherheitsrates zu erwirken, welcher der Uno eine mächtigere Position im Süden des Libanons geben würde. 

Warum sollte eine weitere Resolution mehr bewirken als die bestehende, die prominent ignoriert wird?

Eine stärkere Uno-Truppe würde eine echte Entflechtung zwischen Hisbollah und Israel ermöglichen. Zudem könnte eine solche Resolution rein theoretisch den Anfang für eine allgemein stärkere Involvierung der internationalen Gemeinschaft im Nahostkonflikt sein. Dieser Konflikt beschäftigt die Welt unverhältnismässig. Und er beinhaltet auch ein unkalkulierbares Eskalationspotential bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. Daraus lässt sich ableiten, dass die Weltgemeinschaft ein Interesse haben sollte, mehr Profil zu zeigen und gemeinsam mit den Konfliktparteien eine Beruhigung der Lage herbeizuführen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn die Grossmächte am selben Strick ziehen und die USA bereit sind, die Führung zu übernehmen. 

«Viel zu wenige denken heute an die sich nach wie vor irgendwo in Gaza befindenden Geiseln.»
Laurent Goetschel, Direktor Swisspeace

Heute ist der 7. Oktober. Vielerorts wird an die Ereignisse vor einem Jahr gedacht, es herrscht aber auch Sorge vor erneuter Eskalation. 

Der 7. Oktober dürfte von verschiedenen Menschen auf sehr unterschiedliche Art und Weise begangen werden. Während die einen sich auf das von der Hamas an diesem Tag begangene Massaker fokussieren, haben andere dies bereits in den Hintergrund gerückt und sehen vor allem die Folgen des Krieges in Gaza und nun auch im Libanon. Viel zu wenige denken an die sich nach wie vor irgendwo in Gaza befindenden Geiseln.

Wie begehen Sie diesen Tag?

Persönlich finde ich, dass dieser Tag vor allem einer der Besinnung sein sollte, Besinnung an alle unschuldigen Opfer, die es an und seit diesem Tag gegeben hat. Der 7. Oktober zeigte für mich das unglaubliche Ausmass an Verrohung, das dieser Konflikt erreicht hat. Darauf folgte mit dem israelischen Einmarsch in Gaza und nun auch im Libanon weiteres groteskes menschliches Leid.   

Auch wenn es schwer zu beurteilen ist: Wie schätzen Sie die Zukunft Gazas und der Region ein, wie könnte ein Frieden gelingen?

Einen Frieden wird es nur dann geben, wenn Israel und die palästinensische Bevölkerung in Gaza und im Westjordanland zu einer geteilten politischen Perspektive gelangen. Sie müssen sich mit der Anwesenheit des «Gegenübers» abfinden und zur Einsicht gelangen, dass nur dieses gegenseitige «Leben lassen» zu einer Abnahme der Gewalt und einer besseren Zukunft führen wird. Die Hamas ist von einer solchen Einsicht noch weit entfernt. Dasselbe gilt aber auch für die Siedlerbewegung in Israel, welche die aktuelle Regierung vor sich hertreibt. Deswegen bin ich nicht übertrieben optimistisch. Aber es ist auch nicht ausgeschlossen, dass diese Einsicht trotzdem einmal greifen wird. 

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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Senior-Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

Kommentare

Christian Lupper
07. Oktober 2024 um 19:53

Israel

Die Hamas, Hisbollah etc. wollen Israel auslöschen, ob es nun Pager explodieren lässt, oder nicht. Wer so oder so mit dem Rücken zur Wand steht wie Israel, sollte dem Angreifer wenigstens eine klare Botschaft schicken. Und zwar die einzige Botschaft, die auf der Terrorseite durchdringt. Mit gemässigten Kräften kann man trotzdem in Verhandlungen treten. Das signalisiert Stärke, womit man rechnen muss, und keine Schwäche, die man ausnutzen kann.