Zurück nach Neuwiller: «Und da wussten wir: Jetzt sind wir wieder deutsch»

Während wenigen Jahrzehnten wechselt ein Gebiet gleich neben Basel zwischen 1900 und 1945 mehrere Male seine Nationalflagge: Das Elsass ist vor und während den zwei Weltkriegen ein umkämpftes Gebiet. In der zweiten Folge der Podcast-Serie erzählt «Marylène» von der Rückkehr ins besetzte Neuwiller und davon, wie der Krieg plötzlich ganz nahe war.

Thumbnail Marylène-F2

Nachdem wir Marylène in der ersten Folge nach Südfrankreich begleitet haben, beschäftigen wir uns im Teil 2 der Serie «Marylène» mit der Zeit, die die Bewohner*innen des elsässischen Dorfes Neuwiller zwischen 1939 und 1940 im Südwesten von Frankreich verbracht haben, nachdem sie aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet evakuiert wurden. Marylène erzählt von Kinderabenteuern in einer neuen Gegend, von Sprachbarrieren – und von der Verunsicherung der Menschen in ihrer Gastregionen: «Sie haben gemeint, wir seien halbe Deutsche», erinnert sie sich.

Um dieses Phänomen und die Evakuierung an sich im grösseren Kontext zu beleuchten, interviewt die Podcastproduzentin Livia Grossenbacher den Historiker Nicholas Williams, der sich im Rahmen des Forschungsprojekts EDEFFA («Évacuation dans l’espace frontalier franco-allemande») intensiv mit dem grossangelegten Unterfangen auseinandergesetzt hat. Er berichtet von einem Frankreich, das 1939 den Konflikt mit Deutschland erwartet, und das versucht, das immer noch relativ neu-französische Elsass in den Evakuierungsgebieten zu integrieren. «Da gab es gemeinsame Fussballspiele, die Eröffnung neuer Schulen – eine Vielzahl an Massnahmen, um deutlich zu machen: Das sind jetzt Franzosen.»

MaryleĚne_1
Marylène

Vor 84 Jahren, am 1. September 1939, stand im elsässischen Neuwiller ein Angriff Deutschlands kurz bevor. Das kleine Dorf an der Grenze zur Schweiz wurde innert weniger Stunden ins Landesinnere evakuiert – und mittendrin: Marylène. Sie ist die Protagonistin der Serie und erzählt, wie sie mit 30kg Gepäck innert weniger Stunden ihre Heimat verlassen musste, wie fremd ihr die französische Sprache an ihrem Ankunftsort war, und wie ihr Dorf nach einem Jahr zurück ins Elsass musste – das dann allerdings von Deutschland besetzt war.

Integration hin oder her: Nachdem Frankreich 1940 tatsächlich von Deutschland eingenommen wird, sollen die Elsässer*innen nach einem Jahr wieder in ihr Heimatgebiet zurückkehren. Auf einmal ist der Krieg ganz nahe. «Wir wurden in Mulhouse am Bahnhof empfangen, und sollten gleich ein deutsches Lied singen», berichtet Marylène. «Und da wussten wir: Jetzt sind wir wieder deutsch.»

Thumbnail Marylène-F2

Höre Dir Teil 2 von «Marylène» auf Spotify oder Apple Podcast an, bevor nächste Woche, in der dritten Folge, in Neuwiller im Jahr 1940 die Konsequenzen der deutschen Besetzung spürbar werden: Auf einmal flattern Aufbietungen an die deutsche Front in die Häuser, und die wehrtauglichen jungen Männer im Dorf müssen sich fragen: Für was kämpfst du, und wo gehörst du hin?

🎧 auf Spotify

Das könnte dich auch interessieren

Esther Schneider-1

Esther Schneider am 15. November 2024

Am zähen Klang hört die Bäckerin, wenn der Teig zu wenig Wasser hat

Mit viel Liebe zeichnet Autorin Mariann Bühler in ihrem Debütroman die Leben ihrer drei Protagonist*innen nach. Im Gespräch mit Kulturjournalistin Esther Schneider verrät Bühler, dass ihre Figuren ihr so sehr ans Herz gewachsen sind, dass sie manchmal schlaflose Nächte hatte – aus Sorge um sie.

Weiterlesen
Die beiden Kuenstler Gerda Steiner, links, und Joerg Lenzlinger posieren mit Direktor Roland Wetzel in ihrer Ausstellung "Too early to panic." im Museum Tinguely in Basel, aufgenommen am Dienstag, 5. Juni 2018. (KEYSTONE/Ennio Leanza)

Helena Krauser,Mathias Balzer, FRIDA am 31. Oktober 2024

Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger – Was tun gegen den Eiligen Geist?

Für die achte Folge des Kulturpodcasts «FRIDA trifft» haben wir das Künstler:innen-Duo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger im Kloster Schönthal in Langenbruck getroffen. Ein Gespräch über Kunst und Leben, Humor und Spiritualität – und natürlich über unser aller Brot.

Weiterlesen
Ann Demeester, Kunsthaus Zürich

Helena Krauser,Mathias Balzer, FRIDA am 31. Oktober 2024

«Ann Demeester, was würden Sie Emil Bührle heute fragen?»

Für «FRIDA trifft» haben wir Ann Demeester in Zürich besucht. Die erste Frau in der Direktion des Kunsthaus Zürich hat uns erzählt, wie sie mit der kontaminierten Sammlung von Emil Bührle umgeht und welche Ideen sie für die Zukunft des Museums hat. Und auch, warum sie nordischen Heavy Metal und «Pulp Fiction» mag.

Weiterlesen
karpi

Valerie Zaslawski,Andrea von Däniken, Hauptstadt am 19. September 2024

Mit Masturbation, Serien und Medis gegen Langeweile

Podcasterin Kafi Freitag, Campaigner Daniel Graf und Satiriker Karpi haben ADHS. Im Bajour-Büro haben sie sich über ihre ADHS-Leiden und -Strategien ausgetauscht. Ein Gespräch zum Nachhören oder Nachschauen.

Weiterlesen

Kommentare